Vor 40 Jahren fuhr die Straßenbahn zum letzten Mal durch die Stadt. Die Schienen mussten für eine „autogerechte Stadt“ weichen.

Zuerst kommen die Badehosen. Dann die Plätteisen. Später die Schienenfräsen. Noch später die Sambawagen. Und dann, nach 84 Jahren, ist Schluss.

Am Wochenende des 30. September und 1. Oktober 1978 sagen Zehntausende Hamburger Tschüs zu ihrer geliebten Straßenbahn. Zur kostenlosen Abschiedsfahrt mietet der Einzelhandelsverband ab 9 Uhr für sechs Stunden die letzte Linie, die „Zwei“.

„Ich kaufte mir für 70 Pfennig einen Kinderfahrschein und fuhr in die Stadt“, erinnert sich Experte Rolf Westphalen, damals zwölf Jahre alt. „Am Rathausmarkt angekommen, standen schon zwei Hochbahner, die mich freundlich aufforderten, gleich in den bereitstehenden beige-roten Triebwagen einzusteigen. Ich nahm Platz, und schon setzte sich die Tram bimmelnd in Gang. Viele Hamburger nutzten die Gelegenheit. Entsprechend voll waren die Bahnen …“

Wer kein Auto hat soll gefälligst U- und S-Bahn fahren

Das populäre Personennahverkehrsmittel mit dem biegsamen Stromabnehmer unter dem eindrucksvollen Fahrdrahtgewirr wird Opfer einer übermächtigen Konkurrenz: Seit den 1950er-Jahren setzt der Senat voll auf die „autogerechte Stadt“. Der elektrifizierte Linien- soll den benzingetriebenen Individualverkehr nicht länger stören. Deshalb wird die Schiene komplett über oder unter die Straße verbannt. Wer kein Auto hat, soll gefälligst U- und S-Bahn fahren. Für die Feinverteilung werden neue Buslinien organisiert. Umweltschutz ist damals noch kein Thema.

Die Senatsentscheidung stoppt ein Transportmittel mit großer Tradition: Schon 1839 fährt der erste Pferdeomnibus von der Palmaille über Nobis- und Millerntor zum Schweinemarkt am Ende der Steinstraße. Die Wagen für die nächste Linie von Hohenfelde zum Graskeller hinter dem Rödingsmarkt werden in den rot-weißen Hamburger Farben gestrichen und deshalb als „Badehosen“ bewitzelt.

1866 werden zwischen Wandsbek und Hamburg Schienen für die erste Pferdeeisenbahn verlegt. Elf Jahre später lösen Dampftriebwagen, nach ihrer Form „Plätteisen“ genannt, die wackeren Vierbeiner ab. Die Wagen sind Doppelstöcker. Aus Gründen der Schicklichkeit dürfen Damen das Oberdeck nicht besteigen.

Beim Anfahren hatten die Leute Mühe, nicht umzufallen

Nach sieben Jahren Qualm und Ruß läutet der Senat 1894 das elektrische Zeitalter ein. Die Mechanik ist eine Herausforderung: Bei 35 km/h dreht sich die Rolle des Stromabnehmers am Fahrdraht pro Sekunde 21-mal. Trotzdem hält sie bis zu 25.000 Kilometer durch. Auch die Fahrer der neuen Triebwagen müssen was abkönnen: Sie stehen im Freien, erst später wird der Führerstand verkleidet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellt die Straßenbahn neue Waggons auf alte Gestelle. Besonders in den Kurven wirkt das Gewicht so nachhaltig auf die Fahrspur ein, dass bald über die „Schienenfräse“ gespottet wird.

Anfang der 1950er-Jahre kommen neue Triebwagen. Der große Einstiegsbereich neben dem Sitz des Schaffners erinnert an eine Tanzfläche. Außerdem fahren die Wagen ruckartig an und bremsen ebenso abrupt. Passagiere, die noch beim Bezahlen oder auf dem Weg zu den Sitzplätzen sind, können sich oft nur durch einen raschen Ausfallschritt auf den Beinen halten. Die spontane Bewegung erinnert an einen damals populären Tanz, und prompt werden die stressigen Vehikel „Sambawagen“ genannt.

1958 verkündet Senat das Ende der Straßenbahn

Der Schaffner hat es besser, er muss sich nicht mehr mit seinem umgehängten Galoppwechsler durch die zahlenden Gäste zwängen, sondern sitzt an einer Kasse, an der jeder Beförderungswillige vorbeimuss.

1958 läutet der Senat die 20 Jahre andauernde Sterbephase ein. Die Fahrgäste sind über die Entscheidung gar nicht glücklich. „Die Fahrt in der Straßenbahn machte mir immer besonders viel Spaß, denn da war die grüne Trennscheibe zur Fahrerkabine, durch die man die Strecke vor sich beobachten konnte“, schwärmt Rolf Westphalen noch heute. „In Erinnerung sind mir auch die schmalen Doppeltüren geblieben, die per Knopf von den Fahrgästen geöffnet wurden. Gemütlich wirkten die hölzerne Innenausstattung sowie die elegante Form der Wagen, die mit 2,20 Metern schmaler als Busse waren und deren Enden so spitz und elegant ausliefen.“

Die Politik folgt aber anderen Prioritäten. Eine Linie nach der anderen wird stillgelegt. Die Trassen liegen brach, bis auf ihnen immer mehr Busse rollen, weil Hamburg sein U- und S-Bahn-Netz längst nicht so schnell ausbauen kann wie gedacht.

Die Todesstunde der Tram wird zum großen Thema der Stadt. Das Hamburger Abendblatt begleitet die letzten 39 Tage mit einer Serie. HVV und Hochbahn informieren in Fahrgastzeitschriften und Broschüren. Am Wochenende geben 200.000 Hamburger das letzte Geleit.

Manche nahmen mit Rekordern die Fahrgeräusche auf

„Die Innenstadt war rappelvoll, die Bahnen waren es auch“, schildert Zeitzeuge Westphalen den Tag X. „Wieder nutzte ich die Gelegenheit und pendelte auf der Strecke zwischen Rathausmarkt und Schnelsen hin und her. Überall entlang der Strecke surrten und klickten Kameras. Einige Leute waren sogar mit Kassettenrekordern da, um die Fahrgeräusche aufzuzeichnen. Andere kamen mit Werkzeug und schraubten alles ab, was nicht niet- und nagelfest war. Beliebt war auch, Geld auf die Schienen zu legen und es von einer Bahn platt fahren zu lassen.“

Als letzter V6E verlässt Triebwagen 3657 hinter einer Polizeieskorte den Rathausmarkt. Dort herrscht noch lange Volksfeststimmung. Die HHA-Kapelle und Spielmannszüge machen Musik, das Rote Kreuz kocht Erbsensuppe. In drei Triebwagen an der nördlichen Gleiskehre werden Souvenirs verkauft: Fähnchen, Postkarten, alte Fahrscheine und verchromte Stücke Straßenbahnschiene.

Gegenüber am südlichen Ende steht ein Streudienst-Arbeitswagen aus den 1920er-Jahren. In historisch grün-gelbem Farbkleid wird er den Hamburgern als „alte Pferdebahn von 1880“ vorgestellt. Hummel, Hummel! Und daneben parkt bereits ein Prototyp des ersten Schubgelenkbusses für die 1980er-Jahre. Die Zukunft ist da.