Einst heftig kritisiert und belächelt: Das Abendblatt war Vorreiter bei der Einführung von Bezahlinhalten, heute hat sich das Modell überall durchgesetzt.

Matthias Iken
Matthias Iken © ANDREAS LAIBLE

Den Shitstorm gab es schon, als hierzulande noch niemand wusste, was er eigentlich bedeutet: Im Dezember 2009 begann das Hamburger Abendblatt, auf Bezahlinhalte zu setzen: Damit verschwanden manche Texte hinter einer Bezahlschranke, die man mit einer Überweisung freischalten konnte. Was heute – zwölf Jahre später – auf Nachrichtenseiten im Internet relativ alltäglich anmutet, war damals ein mutiger Schritt, ja Tabubruch. In der Abendblatt-Ausgabe gab es zu der Umstellung zwei Texte – eine Erklärung zum Modus und eine Kommentierung, warum ein Bezahlmodell „alternativlos“ ist.

Letztere wurde online gestellt – und erntete ein Sturm der Entrüstung. Besonders tat sich dabei als Windmacher Stefan Niggemeier hervor. Der Medienjournalist und damalige FAZ-Journalist hatte fünf Jahre zuvor den „Bildblog“ gegründet, in dem er sich vor allem an der „Bild“-Zeitung im Besonderen und dem Axel-Springer-Verlag im Allgemeinen abarbeitete. Noch am selben Tag spießte er den Abendblatt-Kommentar auf und schrieb einen wütende Replik: „Das muss man erst einmal bringen“, schrieb der Wächter über den Journalismus: „Bei der Bewerbung seines eigenen „Qualitätsjournalismus“ Absätze lang rumzuschimpfen wie ein einarmiger Renter (sic!) 1968 über die langhaarigen Studenten.“

Man kann auch sagen – auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Das Echo jedenfalls war überwältigend und sprengte schnell die Branche: Die Entscheidung des Abendblatts wurde zu einer nationalen, ja internationalen Frage – interessanterweise zum Großteil hämisch aufbereitet. Der „Spiegel“ beispielsweise, der inzwischen längst ein Bezahlmodell einführte, machte sich wie viele andere Medien über den Schritt lustig. Springer-Chef Mathias Döpfner legte noch nach, als er die kostenlose journalistischer Inhalte im Netz "abstrusen Phantasien spätideologisch verirrter Web-Kommunisten" nannte.

Auch der Niggemeier-Blog schlug weitere Wellen: Während manche den Autor feierten, störten sich Mediendienste an Niggemeiers Philippika: „Die Abrechnung gerät zur Hasspredigt. Vom Alpha- zum Aggro-Blogger: der Abstieg eines preisgekrönten Autors“, schrieb der Branchendienst Meedia. Die Liste der Kommentare wurde unterdessen lang und länger – und ein damals bekannter Verlegersohn warf sich hier ebenfalls erstmals ins Getümmel: Konstantin Neven DuMont. Seine Blog-Einträge entgleisten bald ins Bizarre und gipfelten später in einem öffentlich ausgetragenen Vater-Sohn-Streit. Einige Monate später beurlaubte ihn der Aufsichtsrat der Mediengruppe M. DuMont Schauberg (damals u.a. Verleger der „Frankfurter Rundschau“, des „Kölner Stadt-Anzeiger", "Express", der „Hamburger Morgenpost“ und der "Mitteldeutschen Zeitung“) unter Vorsitz seines Vater Alfred.

Bis ins Ausland wurde der Schritt des Abendblatts damals kontrovers diskutiert. Stefan Niggemeier nahm das Angebot, im Abendblatt darzulegen, wie Online-Journalismus ohne Bezahlung funktionieren kann, übrigens nie an. Seine heutige Seite „Übermedien“ ist in beträchtlichen Teilen seit 2016 abo-finanziert kostenpflichtig.

2009: Paywall
2009: Paywall © HA

Und hier kommt der Text, der die Aufregung damals auslöste:

Der Webfehler

Es ist aussichtslos, spotten Experten. Es ist selbstmörderisch, argwöhnt die Konkurrenz. Es ist unverschämt, denken die Nutzer. Und doch werden wir es tun: Wir wagen, Werthaltiges im Netz künftig nicht mehr zu verschenken, sondern zu verkaufen. Dass man diese jahrtausendealte Grundkonstante jedes wirtschaftlichen Handels überhaupt erklären muss, zeigt, wie kollektiv die Sicherungen in der vermeintlichen New Economy herausgeflogen sind. 15 Jahre nach dem Massendurchbruch des World Wide Web regiert dort noch immer ein großzügiges wie groteskes Geschäftsmodell - das "Mutter-Teresa-Prinzip": Alles muss umsonst sein.

Als das Internet aufkam, war die Begeisterung für die neue Technik lange größer als der Sachverstand. Berauscht von den Möglichkeiten des weltweiten Webs vergaß man das Naheliegende, nämlich Geld zu verdienen. Ein schwerer Webfehler im Netz, der sich rächen sollte.

Mit der ersten Krise gingen dann viele Internetfirmen pleite; Nachrichtenportale hielten sich nur, weil Verlage die Gewinne aus ihrem (Print-)Geschäft investierten. Inzwischen haben sich viele Nutzer an die kostenlosen Angebote gewöhnt und eine echte Freibiermentalität entwickelt. Doch die schadet letztlich nicht nur den Anbietern. Mittel- und langfristig gefährdet sie nicht nur jedes qualitativ anspruchsvolle Angebot im Netz, sondern die gesamte Webwirtschaft. In den Medien ist diese Erkenntnis nun gewachsen - zuletzt beschleunigt durch die dramatische Branchenkrise.

Denn Qualitätsjournalismus ist per se eben nicht kostenlos, sondern kostenintensiv. Wer Qualitätsjournalismus zum Nulltarif will, will keinen Qualitätsjournalismus. Jede Redaktion stellt etliche Arbeitskräfte für das Sichten, Gewichten, Bebildern und Schreiben von Nachrichten, für das Recherchieren von Geschichten, das Verfassen von Kommentaren, die investigative Reportage. Recherche kostet Geld, Reisen, Spesen, Zeit.

Und Medien sind mehr als bloße Abspielstationen von vielfältigen Inhalten, sie sind Mittler von Informationen zwischen Menschen. Trotz aller Twitterei und Bloggerei bedarf es einer Instanz, die prüfen und nachprüfen muss, die den Schein mit der Realität, die Plattitüde mit den Fakten, die Inszenierung mit der Wirklichkeit, das Schrille mit dem Relevanten abgleicht. Diese Kontrollinstanz aber kann nur funktionieren, wenn sie unabhängig ist. Zu Recht darf und muss der Leser von Redaktionen erwarten, dass sie unabhängig sind - von den Interessen von Unternehmen, Politik und Lobbygruppen. Das erfordert im Gegenzug auch, dass Journalismus ein Geschäftsmodell bleibt und man Journalisten diese Unabhängigkeit ermöglicht. Qualität hat ihren Preis; was nichts kostet, ist auch nichts wert. Gleichzeitig aber gilt: Wer bezahlt, kann auch mehr einfordern.

Längst ist der Online-Journalismus zu einer eigenen Gattung geworden. Das einfache Verfügbarmachen von Texten aus der Zeitung im Netz war noch wenig originell, inzwischen aber sind neue und aufwendige Formate hinzugekommen. Abendblatt.de etwa bietet Bewegtbilder, ein Archiv bis 1948 und Blogs und Videoblogs, die nur für Abendblatt.de erstellt werden: Ob Matz ab mit seiner wachsenden Fangemeinde, Deutschlands härteste Musikkritik oder der Facebook-Blog, das alles sind eigens für das Netz entwickelte und finanzierte Formate. Und das rund um die Uhr: Abendblatt.de schläft nie - sie arbeitet 24 Stunden am Tag, an 365 Tagen im Jahr. Das alles kostet Geld. Ist es zu viel verlangt, in Zeiten, wo aufgeschäumter Kaffee im Pappbecher drei Euro kostet oder das Telefonvoting für sinnbefreite Casting-Shows mindestens 50 Cent, für das Produkt Qualitätsjournalismus knapp 30 Cent am Tag zu bezahlen?

Schließlich geht es um mehr als die Wahl eines vermeintlichen Superstars. Es geht um das langfristige Überleben der Medien, es geht um die vierte Gewalt. Es geht um die Demokratie, wie wir sie kennen. Medien sind gerade im Lokalen, vor Ort, wichtiger denn je. Die Meldung vom Nobelpreis für Obama ist auf vielen Webseiten zu finden, weil alle Nachrichtenagenturen darüber berichten. Aber was ist mit einem Bürgerbegehren in Alsterdorf, einem Umweltskandal in Billbrook oder einem umstrittenen Bauprojekt in Cranz? Welche Stimme im Netz ist in der Lage, objektiv Informationen zu sammeln, zu gewichten und bei Streitpunkten beide Seiten zu Wort kommen zu lassen? PR-Seiten, Blogs oder öffentliche Verlautbarungen können diesen Anspruch nicht erfüllen - und sollten es nicht. Zudem benötigen die Bürger verlässliche wie verletzliche Leitmedien, die das Geschehen bündeln und aus dem Meer von Informationen als Inseln der Relevanz herausragen.

Der große Philosoph Jürgen Habermas warnt seit Langem vor den Folgen eines ausgehöhlten Journalismus. "Keine Demokratie kann sich ein Marktversagen auf diesem Sektor leisten." Er schlägt Subventionen vor, Stiftungsmodelle mit öffentlicher Beteiligung oder Steuervergünstigungen für die Branche. Auch einige Parteien denken in diese Richtung. Aber warum subventionieren? Günstiger, marktwirtschaftlicher und journalistisch sauberer sind Gebühren für Online-Inhalte. Wir wagen den Anfang, weil unsere Nachrichten zu wertvoll sind, um sie weiter zu verschenken.

Vielleicht ist es aussichtslos. Vielleicht ist es selbstmörderisch. Vielleicht ist es auch unverschämt. Doch vor allem ist es eins: Es ist alternativlos.

Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.