Ali Mitgutsch goss den Alltag in großformatige, quicklebendige Bilder. Heute feiert der zeitlose Zeichner seinen 80. Geburtstag.

Was will der Mann nur mit all den Wand-, Stand- und Pendeluhren? Ist er Uhrmacher? Eine Werkstatt ist nicht zu sehen, das Zimmer, in dem es mutmaßlich anhaltend tickt, alle Viertelstunde schleift und dann vielstimmig bimmelt, liegt im fünften Stock eines Wohnhauses. Ob er die Nachbarn von oben Klaviertrio spielen hört? Stört es ihn, dass sich im Zimmer über ihm drei Jungs prügeln? Und wieso greift da eigentlich keiner ein?

Jede dieser Fragen öffnet die Tür zu einer ganzen Geschichte. Auf dem Bild ist noch so viel mehr zu sehen, Stockwerk für Stockwerk und Zimmer für Zimmer. Hier probt eine Band, dort bibbern Patienten dem Zahnarzt entgegen, irgendwo trainiert jemand mit Hanteln. Lauter Momentaufnahmen aus dem Leben.

Wer erinnerte sich nicht an das Staunen und das Lachen beim Aufspüren dieser Aperçus? Ali Mitgutsch hat aufgetischt, der Querschnitt durch ein Mietshaus stammt aus seinem Buch „Rundherum in meiner Stadt“ von 1968. Seit diesem seinem ersten Wimmelbuch hat er sich Generationen ins Herz eingemalt mit diesen Mikrokosmen, ohne Text, abgesehen von ein paar Schildern mit Aufschriften wie „Verleih“ oder „Bierzelt“ (der Mann ist durch und durch Münchner). Nur an den behäbig geformten Autos, Duschköpfen und Kinderwagen sieht man, dass sich die Erde inzwischen weitergedreht hat. Das Wesentliche aber, die vielen Mini-Handlungen, bleibt zeitlos.

Eine Parallele zu Pipi Langstrumpf ist naheliegend

Heute wird der Kindheitsbegleiter 80 Jahre alt. Rund 70 Bücher, Poster und Leporellos umfasst sein Oeuvre, doch das allermeiste davon steht in dem Schatten, den der Ruhm seiner Wimmelbücher, es sind keine zehn, unweigerlich wirft. Für „Rundherum in meiner Stadt“ bekam Mitgutsch den Deutschen Jugendbuchpreis.

Nicht zufällig rufen einem Mitgutschs Bilderwelten Pippi Langstrumpf in den Sinn. „... ich mach mir die Welt, widewidewie sie mir gefällt“, singt sie im Film. Genauso macht Mitgutsch es auch. Das Diktat von Zentralperspektive und Chronologie hebt er nonchalant auf. Bei ihm geschieht alles gleichzeitig: Die Schlittenfahrer sind kaum kollidiert, da steckt der eine schon kopfüber im Schnee. Wenn Mitgutsch aus seinem typischen Blickwinkel von schräg oben auf ein Freibad, eine Baustelle oder auch einen Hafen schaut (angeblich hat er auch beim Hamburger Hafen Anleihen gemacht), dann zeichnet er jede seiner vierschrötig-fröhlichen Figuren so, dass man ihr Gesicht erkennt und ihren Ausdruck, den er virtuos mit wenigen Pinselstrichen hinwirft. Eine Haltung ist anatomisch unmöglich? Ach was. Und in jedem seiner Bücher steht irgendwo ein kleiner Junge und pinkelt männlich stolz einen hohen Bogen.

Um Anarchie geht es Mitgutsch freilich nicht. Sondern darum: Schaut selbst hin, denkt selbst nach! Jeder Betrachter wird sich andere Geschichten zu den Bildern erfinden. Gelangweiltes Herunterleiern beim Vorlesen ist unmöglich. So bringt man Eltern mühelos dazu, sich ihren Kindern zuzuwenden.

Das Kind in ihm ist geblieben

Der Mann hat sich nicht von ungefähr so radikal der Fantasie verschrieben. Sie hat ihn gerettet. Als kleiner Junge wurde er zweimal entwurzelt, nämlich erst durch die Evakuierung während des Zweiten Weltkriegs von München ins Allgäu, wo er fremd war und gehänselt wurde – und dann noch einmal, als er später nach München zurückkehrte, inzwischen ein Landei, das mit den rauen Sitten seiner vom Überleben geprägten Altersgenossen nicht Schritt halten konnte. Von seinen Kriegserfahrungen als kleiner Junge berichtet er in dem jüngst erschienenen Buch „Herzanzünder“. Freunde hatte er als Kind keine – also erfand er sich welche, einen großen Starken und einen kleinen Schlauen. Jumbo und Fritz begleiteten ihn auf die großartigsten Traumabenteuer. „Meine Traumvorstellungen sind heute genauso wach wie in der Kindheit. Dadurch habe ich ein sicheres Gefühl, was bei Kindern ankommt“, hat er einmal dem Magazin „Nido“ gesagt. Und dann erzählte er, wie sehr es ihn geschmerzt hatte, eines Tages zu merken, dass er die beiden entlassen musste und fortan in der Wirklichkeit würde leben müssen. Das nennt man wohl Erwachsenwerden.

Merkwürdig eigentlich, dass ausgerechnet den Pädagogen der 70er-Jahre gerade diese Gleichzeitigkeit suspekt war. Zu wirr, befanden sie. Zu unkon­trollierbar wohl auch, gerade die antiautoritäre Bewegung wollte in literarischer Hinsicht nämlich gern die Deutungshoheit behalten.

So egalitär Mitgutsch von oben auf die Welt schaut, so wenig schert er sich um die Postulate der political correctness wie Vielseitigkeit oder Zumutbarkeit. Kein Kitsch, kein Grusel, nirgends, das unterscheidet ihn von vielen seiner Nachahmer. Bei Mitgutsch kommen das Gipsbein und die unwillkommene Arschbombe im Schwimmbad vor, aber eben auch gemeinsames Lachen und Feiern. Seine Alltagsdramen sind auf Kinderlebensgröße zugeschnitten: das heruntergefallene Eis oder der Polizist, der zwei Lausejungs nachsetzt.

„Warum lässt man die Kinder das Leben nicht selbst entdecken?“, fragt er, gerichtet an die Adresse der überbesorgten Eltern unserer Zeit. „Aus dem, was man als Kind gemacht, empfunden, empfangen, geschenkt bekommen hat – aus dem lebt man später.“