Warum eine Schlägerei auf dem Jungfernstieg ein kleines Beispiel ist für ein großes Problem

Zwischen Fahrradfahrer und Autofahrer herrscht, wer weiß das nicht, eine natürliche Feindschaft. Es ist das Verhältnis von Hund und Katze, und oft müssen Gerichte eingreifen, denn täglich geraten Fahrradfahrer und Autofahrer auch handgreiflich aneinander. Dabei kann es allerdings „dumm laufen“. Am 3. April 2014 fühlt sich in Hamburg am Jungfernstieg der Fahrradfahrer Jan A. von einem Mietwagen behindert, der ihm die Kreuzung blockierte. Wütend trommelt er mit der Faust zweimal aufs Autodach. Der Fahrer steigt aus und schlägt zu, und zwar brutal. Eine Frau filmt den Vorfall mit dem Handy, der Schläger entreißt ihr das Smartphone und wirft es in die Alster.

Jetzt sollte der Prozess stattfinden, denn der Radfahrer erstattete Anzeige. Nun stellt sich laut „Bild“ heraus, dass der Schläger ein Zuhälter sein soll, der ein Bordell auf der Reeperbahn leitet und ein bewegtes Leben hinter sich hat. Weil er 2007 einem Hells Angel in die Wade schoss, saß er dann schon mal jahrelang in Haft. Ein Typ, wie es dem Fahrradfahrer Jan A. schwante, mit dem nicht so gut Kirschenessen ist. Der Prozess platzte zunächst, weil der Geschlagene nicht vor Gericht erschien. Wo kein Kläger, auch kein Richter?

Es ist dies ein typischer Fall von Faustrecht, das Recht des Stärkeren, in welchem der Einzelne seine Ansprüche mit Selbstjustiz durchsetzt, im Notfall durch die Todesdrohung. Das Faustrecht wurde nach dem Mittelalter allmählich durch das Staatsrecht ersetzt. Nur in wilden Gegenden, revolutionären Zeiten und anarchischen Umbruchsituationen lebt die Selbstjustiz, die Einsicht, dass Gewalt vor Recht geht, wieder auf. Es geht zu wie im Western, der meist vom Sieg des Rechts über das Faustrecht handelt. „High Noon“ aus dem Jahr 1952 ist das schönste Beispiel.

In Zeiten der Aufklärung stellte sich auch der Staat unter das Recht. Die Geschichte von Friedrich dem Großen und dem Müller von Sanssouci belegt das. Das Klappern der Mühle störte den König in seinem Nachtschlaf, doch der Müller zog vors Berliner Kammergericht und bekam recht. Es gibt noch Gerichte in Berlin!

Inzwischen gibt es grauenhafte Beispiele für die Wiederkehr des Faustrechts, der Selbstjustiz und der terroristischen Gewalt: mexikanische Drogenbarone, die süditalienische Mafia, die islamistischen Terrorarmeen des IS, die Gotteskrieger des Dschihad oder die Separatistenkrieger in der Ukraine.

Dass der Fahrradfahrer nicht vor Gericht erschien, liegt an gefühlter Einschüchterung. Das ist ein kleines Beispiel, das uns in Zeiten der rückkehrenden Dschihadisten schrecken sollte.

Karasek schreibt jeden Sonnabend im Hamburger Abendblatt