Gedanken bei einer Seereise durch sechs Zeitzonen von New York nach Hamburg

Alfred Polgar war einer der geistreichsten Theaterkritiker und ein Feuilletonist von Gottes Gnaden, aus dem goldenen Zeitalter der Wiener Kaffeehaus-Literaten. Er liegt übrigens, nach einem unruhigen Wander- und Emigrantenleben in der Zeit, als Hitler die Welt brutal durcheinanderschüttelte (Polgar: „Ich lebe überall ein bisschen ungern“), zufällig auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg begraben. Er schrieb einmalig treffende Theaterkritiken, deren Würze in der Kürze lag. Eine fing an: „Die Vorstellung begann um acht. Als ich nach zwei Stunden auf die Uhr sah, war es halb neun.“ Damit hätte sie schon enden können. Ja, die Zeit!

Es gibt von ihm eine Glosse, ein Feuilleton über eine öffentliche Uhr in einer belebten Wiener Geschäftsstraße, die (damals waren öffentliche Uhren wichtig!) irgendwann, vor langer Zeit, stehen geblieben war. Und Polgar brachte es auf den Punkt: „Auch eine stehen gebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, dass man im richtigen Augenblick hinschaut.“

Das ist mir jetzt auf meiner Seereise zurück von New York nach Hamburg wieder eingefallen, weil hier der Timelag dadurch gemildert und vermieden wird, dass sechsmal zur Mittagszeit die Uhr um eine Stunde vorgestellt wird, sodass wir in den USA mit sechs Stunden Zeitunterschied losgefahren sind und trotzdem in Hamburg zeitgleich ankommen werden. Ein Zeitwunder. Wenn ich kann, sitze ich mittags Punkt zwölf an Deck. Höre die Ansage des Kapitäns und starre auf die Uhr, die wie eine Bahnhofsuhr aussieht. Und wie durch ein Wunder setzt sich Punkt zwölf der Minutenzeiger in Bewegung, beginnt zu rasen und macht eine Stunde in einer Minute! Es ist, als ob man bei einer Badewanne einen Stöpsel herauszieht, die Zeit verrinnt wie Wasser. Oder wie in einer Sanduhr. Es erschreckt einen, obwohl man die Zeit ja vorher als Darlehen bekommen hat, wie auf einer Bank. Und jetzt zurückzahlen muss.

Mir, der ich nicht mehr der Jüngste bin, ist dazu die schwäbische Geschichte vom Großvater eingefallen. Der ist gestorben. Und die Familie beratschlagt über die Beerdigung. Die Großmutter sagt: „Der wird verbrannt! Der kommt in d’Eieruhr! Der soll schaffe!“ Manchmal schafft auch die Zeit für uns.