Die Mauer in den Köpfen ist bei Mensch und Tier langlebig. Nicht nur Rotwild macht heute noch halt an der ehemaligen Grenze

Der Eiserne Vorhang hatte Osteuropa in ein riesiges Freigehege verwandelt, aus dem es kaum ein Entrinnen gab. Für die Menschen nicht – und auch für die Tiere des Waldes (das vogelfreie Federvieh einmal ausgenommen) hieß es jahrzehntelang unerbittlich Stopp am Stacheldraht.

Das wirkt nach. Im Gehirn von Hirschen etwa, wie Forscher im Nationalpark Böhmerwald herausgefunden haben. Die imposanten Geweihträger auf der tschechischen Seite wandern auch heute noch genau bis zu der Stelle, wo früher Stacheldraht die Grenze markierte. Gelernt ist halt gelernt. Und wer weiß schon, was jenseits des heimischen Waldes für Gefahren lauern!

Auch bei Menschen ist ähnliches Verhalten zu beobachten. Manch Westberliner soll sich bis heute nicht in den Osten der Stadt verirrt haben. Er vermutet jenseits des Tiergartens immer noch den Russen. Dabei siedelt der mittlerweile in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Im Volksmund heißt Charlottenburg nicht ohne Grund Charlottengrad. So wandelt sich die Umgebung auch ohne Wanderbewegungen schneller als das Hirn. Und in der selbst ernannten „Werkstatt der Einheit“ gibt es ohnehin kein Entrinnen vor zugezogenen Sachsen und Schwaben.

Der bayerische Hirsch wiederum ist etwas flexibler als sein böhmischer Nachbar. Zwar bleiben die Kühe brav auf der heimischen Seite. Die Sicherheit des Nachwuchses und die Familienversorgung siegen da eindeutig über den Entdeckerdrang. Manch Junghirsch wagt aber den Grenzgang. Hat sich etwa beim Rotwild in der westlichen Hemisphäre eine Art Freiheitsgen herausgebildet, das es zur Verbreitung von Demokratie und Marktwirtschaft geradezu verpflichtet? Die Antwort ist profaner – und einleuchtender. Der bayerische Hirsch wandert der Brautschau wegen gen Osten.

Hirsche sind eben auch nur Menschen. Oder war es umgekehrt?