Die Live-Rezension ist auf dem Vormarsch - wie der neue Rowling-Roman zeigt

In grauer Vorzeit waren Live-Ticker mit minutengenauer Zeitangabe nur Katastrophen größeren Ausmaßes vorbehalten. Irgendwann galten dann auch Fußballspiele des HSV als genügend desaströs, um die geschriebene Hektik zu rechtfertigen ("Jetzt müsste er schießen ..., aber was macht er denn da?"). Vom Sport aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zu anderen Großereignissen: dem Eurovision Song Contest (Jetzt müsste er singen ..., aber was macht er denn da?") und den Hochzeiten gekrönter Häupter ("Jetzt müsste er 'Ja' sagen ..., aber was macht er denn da?") zum Beispiel.

Dem Feuilleton war derartige Eile bislang fremd. Stoffe und Umfeld eignen sich aber auch nur sehr bedingt zum Tickern. In Opern, Theatern und anderen Heimstätten der Hochkultur gilt das Herumklappern auf Tastaturen unerklärlicherweise nach wie vor als schlechtes Benehmen. Bei Rock- und Popkonzerten würde sich daran zwar niemand stören. Dafür sind Leib und Leben von Schreiber wie Klapprechner zwischen Bierbecher schwenkenden, tanzenden, schwitzenden Massen einfach zu stark gefährdet, um sie aufs Spiel zu setzen.

Und Bücher? Die verändern sich nach Drucklegung nur noch im Rahmen von Abnutzungserscheinungen. Und der Neuigkeitenwert eines plötzlich aufgetretenen Eselsohrs tendiert stark gen null.

Doch dann erschien Joanne K. Rowlings neues Buch. Und mit ihm hielt der Live-Ticker Einzug ins Reich des Hehren und Schönen. Gestern konnte man zwischen gleich zwei minutiösen Analysen von "Ein plötzlicher Todesfall" wählen: Während "Spiegel Online" sich im Tempo eines Usain Bolt durch die 576 Seiten pflügte, bereits sieben Stunden nach Anlieferung Vollzug meldete, trödelte "Welt Online" zu diesem Zeitpunkt noch auf Seite 78 herum.

Der Bann scheint jedenfalls gebrochen: Bis zum ersten Ticker, bei dem der Journalist dem Autor auf dem Schoß sitzt ("Jetzt müsste er schreiben ..., aber was macht er denn da?"), kann es nicht mehr lange dauern.