“Ist hier noch Platz in diesem Zug?“ Eine viel besungene Expressfahrt ins sächsische Posemuckel und die Bahnprobleme von heute

Über den spektakulären Mauersprung Udo Lindenbergs gibt es jetzt ein Musical. Fast wäre die Reise nach Ost-Berlin im Jahr '83 geplatzt, weil Lindenberg vorher den "Sonderzug nach Pankow" geschrieben und gesungen hat, in dem er Honecker als "Honi" besingt. Die Melodie geht auf den Glenn-Miller-Titel "Chattanooga Choo Choo" aus den 40er-Jahren zurück, allerdings vermute ich, und bin mir dabei ziemlich sicher, dass Lindenberg sein Lied dem Kötzschenbroda-Express als aktuelle DDR-Version nachempfunden hat. Der "Kötzschenbroda-Express" ist von 1947 und geht so: "Verzeih'n Sie, mein Herr, fährt dieser Zug nach Kötzschenbroda? / - Er schafft's vielleicht, wenn's mit der Kohle noch reicht. / - Ist hier noch Platz in diesem Zug nach Kötzschenbroda? / - Das ist nicht schwer, wer nicht mehr steh'n kann, liegt quer. / Ja, für Geübte ist das Reisen heute gar kein Problem. / Auf dem Puffer oder Trittbrett steht man bequem. / Und dich trifft kein Fußtritt, fährst du auf dem Dach mit. / Obendrein bekommst du dort noch frische Luft mit! / Morgens fährt der Zug an Papestraße vorbei, / Mittags ist die Fahrt nach Halensee noch nicht frei. / Nachts in Wusterhausen lässt du dich entlausen / und verlierst die Koffer auch noch leider dabei. / So fährt man heut von Groß-Berlin nach Kötzschenbroda / Und dann und wann kommt man auch wirklich dort an. / Nun steh'n wir da, der schöne Traum vom Reisen ist jetzt aus. / Glück auf nach Kötzschenbroda - aber ich bleib zu Haus."

Kötzschenbroda ist eine Kleinstadt in der Nähe von Dresden, also eine Art sächsisches "Hinterposemuckel", das schon Fontane und Tucholsky als Name eines tiefsten Provinznestes reizte. Hinzu kommt, dass es in sächsischer Aussprache "Götschenprodö", also mit weichem k und hartem b, gesprochen wird und da doch sehr possierlich klingt. Kötzschenbroda lag in der Ostzone. In Kötzschenbroda hat Karl May gelebt, die Stadt wurde mit Radebeul vereint, und in Radebeul ist das Karl-May-Museum. Gut möglich, dass Udo Lindenberg "Honi" wegen dieses Karl-May-Bezugs in seinem Pankow-Lied als "Oberindianer" bezeichnet hat.

Mich frappiert aber mehr, dass das Lied heutige Bahnverhältnisse geradezu perfekt widerspiegelt. Es erinnert mich an heute, besonders was die S-Bahn-Strecke in Berlin anlangt, für die Bully Buhlan (damals der deutsche Sinatra meiner Kindheit) einen Tag gebraucht hat. Damals waren die Feinde des Bahnverkehrs die Kriegsverwüstungen, die Zerstörungen und Demontage der Gleise, der kaputte Maschinenpark und die Besatzungszeit, Strommangel und Energieausfall. Die Leute hingen sich an Züge, um zum Ährenstoppeln oder Kohlenklauen das Nötigste zu besorgen.

Heute sind die Volksfeinde, die von der Deutschen Bahn benannt werden, vier, nämlich: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der innere Feind sitzt im Management und in der Politik, und hat wegen des Börsengangs die Bahn so gut wie kaputtgespart. Bessere Argumente für eine Kapitalismus-Kritik können auch der Vorsitzenden der Linkspartei Gesine Lötzsch nicht einfallen. Statt Planwirtschaft Fahrplanwirtschaft.

Heute ist ganz Berlin Kötzschenbroda, jedenfalls ebenso abenteuerlich zu erreichen. Wer es sich leisten kann, singt: Glück auf nach Kötzschenbroda, ich bleib lieber zu Haus.