Der Protest und seine Protagonisten sind in die Jahre gekommen: Was das Wort des Jahres über uns sagt.

Der Wutbürger ist zum Wort des Jahres gewählt worden. Vor dem Begriff Stuttgart 21, der einen ehrenvollen zweiten Platz errang und mit dem Wutbürger in enger Korrelation steht. Unterirdisch zwar, aber sinngerecht wie ein verspäteter ICE mit einem früheren Kopfbahnhof. Als Wutbürger bezeichnen sich gern Gutmenschen, die auf einmal außer sich sind. Um 1968 entstand die Wut. Aus dem konservativen Sprichwort "Was lange währt, wird endlich gut" entstand die Parole der entgleisenden Wohlstandskinder: "Was lange gärt, wird endlich Wut". Endlich! Nach fast 20 Jahren Adenauer-Restauration. Anti-Atom, Anti-Militär, Anti-Vietnam, Anti-Flughafen Frankfurt/Main - so viel Anti, bis sich Mutlangen zu Wutlangen veränderte und mauserte. Die Wut von damals hat sich zur heutigen Rentner- und Vorruhestandswut verwandelt, deren Vertreter ihren das Gymnasium besuchenden Kindern Entschuldigungen für den spontanen Wutausbruch schreiben, damit der Protest jung aussieht.

Die Wutbürger stellen sich mit Vorliebe jedem Castor-Transport in den Schienenweg, lärmen gegen drohenden Fluglärm und gegen inflationäre Zugtrassen-Kosten und geben sich erst zufrieden, wenn die Kosten nach einem Geißler-Spruch noch höher steigen. Mit Sitzblockaden wird der Abschlepp-Service der Polizei beflügelt. Hier können Familien Kaffee kochen. Inzwischen betonieren sich Unverdrossene an Schienen und Weichen ein und weichen erst der geduldigen Schweißarbeit der Staatsgewalt. Hoffentlich, sagt sich der Angekettete, wenn es kalt wird, hoffentlich kommen die Bullen bald und erlösen mich aus meiner Wut.

Der Wutbürger nimmt dann im Guinness-Book befriedigt zur Kenntnis, dass bei Gorleben ein neuer Rekord aufgestellt wurde. "Schottern" übrigens ist, bei aller berechtigten, staatlich anerkannten Wut, unerwünscht. Vom normalen Verkehrs- und Verspätungschaos unterscheidet sich die Wutbürger-Demonstration dadurch, dass sie sich politisch begründen lässt - je nachdem.

Es gibt bestimmte Wetterregeln: Ist Trittin als Umweltminister im Amt, so wäre der Gorlebenprotest die falsche Wut am falschen Objekt. Ist Trittin in der Opposition, darf Claudia Roth mit flammender Frisur am Lagerfeuer tanzen und den Wutbürger in Talkrunden geben. Ähnliches gilt für Stuttgart 21. Vor der Wahl ist hier nicht nach der Wahl, und so sagt Özdemir, schau'n mer mal, woher die Wut weht, wenn der Wind sich dreht.

Inzwischen ist alle Wut versicherungstechnisch und gesellschaftspolitisch und polizeigewerkschaftlich abgesichert und ausbalanciert. Loveparaden und Fußballspiele sind entschieden gefährlicher als die in die Jahre gekommene Wut. Nur manchmal, wenn es die Polizei auf dem falschen Fuß erwischt, wie in Stuttgart, kann so was auch mal ins Auge gehen. Dann zeigen sich alle, auch die Wutbürger, betroffen. Eine Weile zumindest.