Wer will schon elf Minuten früher in Ulm sein? Das Milliardenprojekt “Stuttgart 21“ ist ein Fall von Größenwahn.

Sigmund Freud erzählt in seiner Seelenkunde des Witzes die Geschichte von einem Pferdehändler, der seinem Kunden ein sehr schnelles Ross anpreist. Er sagt zu dem potenziellen Käufer: "Wenn Sie dieses Pferd kaufen und um 5 Uhr losreiten, sind Sie schon um 6 Uhr früh in Pressburg!" Woraufhin der ländliche Kunde zurückfragt: "Und was, bitte, soll ich um 6 Uhr früh in Pressburg?"

Ich erinnere mich nicht, ob Freud die Geschichte mit Pressburg oder Budapest oder Lemberg als Zielstation erzählt hat. Jedenfalls spielt sie in der Zeit, als das Pferd in weiten Teilen der Welt noch das schnellste Verkehrsmittel war, ob vor dem Wagen oder unter dem Reiter. Und der Rosshändler, das war, was heute der Autohändler oder Bundesbahnverkehrsplaner ist.

Mir ist die Geschichte jedenfalls eingefallen, als der "FAZ"-Theaterkritiker und Stuttgartintimkenner Gerhard Stadelmaier der Protestbewegung gegen das Stuttgarter Hauptbahnhofprojekt ("Stuttgart 21") das Argument zulieferte, man sei genau elf Minuten früher von Stuttgart in Ulm, wenn diese Gigantomanie eines unterirdischen Turmbaus zu Babel eines Tages verwirklicht würde. Und daran knüpfte er die freudsche Frage, wer denn schon aus der Schwabenhauptstadt elf Minuten früher in Ulm sein wolle? Zumal diese Gigantomanie für verschlungene, versenkte Milliarden stehe (die Elbphilharmonie als Groschengrab lässt grüßen) und für ungeheure Risiken (gegen die das Versinken des Kölner Stadtarchivs ein Klacks wäre). Stadelmaiers bauernschlauer Einwand ("Knitz" würde man das in Stuttgart nennen) trifft die Sache im Kern.

Die Bürgerbewegung gegen das hybride, also größenwahnsinnige Projekt hat erkannt, dass sie ihre Stadt und ihr Geld nicht für einen wahnwitzigen Bau verbrennen will - nur um elf Minuten eher in Ulm zu sein. Mir fällt, aus Bahnerfahrungen, noch ein zweiter Einwand ein. Die elf gewonnenen Minuten würde die Bahn auf freier Strecke wieder für 30 verlorene eintauschen. Mindestens, wenn nicht viel mehr. Wegen Ausfalls der Klimaanlage, einer Gleisstörung - oder weil sich wieder ein von der hybriden Gesellschaft verstörter Bürger vor die Schienen geworfen hätte.