Wieder einmal wird Tallinn erobert . Diesmal schießen die Fremdenheere nur mit Nikon und Nokia. Ein Augenzeugenbericht.

Am Morgen des vergangenen Freitags, es war ausgerechnet der 13. (August), stiegen wir, vom Segel-Kreuzfahrtschiff "Sea Cloud II" in einem Schwarm von Truppenstärke ausgesandt, in frischer Luft in die noch schier unberührte, auf die Fremdenheere wartende obere Stadt, auf den Domberg der estnischen Hauptstadt Tallinn (ehemaligen Rauchern als Reval bekannt).

Es hatte die Nacht vorher geregnet, die Luft war wie frisch gewaschen unter einem makellos blauen Himmel. Nichts hätte friedlicher aussehen können als die blau-schwarz-weiße Fahne, die vor dem klassizistischen Parlamentsgebäude wehte. Da ich mir einrede, nicht abergläubisch zu sein (Freitag, der 13.!), habe ich mir auf dem für seine Beinbrüche historisch verbürgten steilen Buckelpflaster kein Bein gebrochen. Man darf nur nicht glauben, wo es nichts zu glauben gibt. Obwohl der Glaube (der irrwitzige eines kleinen Volks) hier Berge - zumindest Steine - versetzt hat.

Unser estnischer Führer, der ein gepflegtes baltisches "Uexküll-Deutsch" sprach und uns kurz in die endlos gedehnten Geheimnisse der estnischen Sprache einwies, zeigte auf einen Riesenstein. Den hätten die Esten im August 1991, vor ziemlich exakt 19 Jahren, den sowjetischen Panzern in den Weg gerollt und dadurch das Parlament vor dem Sturz gerettet. Estland wurde, genau nach dem niederkanonierten Putsch der Reformgegner gegen Jelzin, mit den anderen baltischen Staaten unabhängig.

Heute wird die Stadt von Kreuzfahrern wie einst von Kreuzrittern okkupiert. Sie kommen mit Hanse-Schiffen, wie früher das Salz, das sie hier gegen Getreide und Pelze jahrhundertelang getauscht hatten. Der Felsbrocken und die "Dicke Margarethe", ein Kanonenturm aus dem 16. Jahrhundert von mächtigsten Ausmaßen, werden von wahren Touristenheeren geschossen und erstürmt - wie die Stadtmauern in Rothenburg ob der Tauber. Mit den gleichen Waffen: Nikon und Nokia.

Dass die estnische Hauptstadt noch 2007 von gewaltsamen Auseinandersetzungen um ein russisches "Befreiungs"-Denkmal (es wurde aus dem Zentrum zum Rande eines Friedhofs versetzt, mitsamt dem Aberglauben, den es verkörperte) erschüttert wurde, ist im friedlichen Siegeszug, der die Stadt täglich heimsucht und überschwemmt, kaum noch zu glauben.

Die neue Völkerwanderung macht keine Gefangenen mehr, sie nimmt nur Fotos als Beute. Am Freitag, dem 13., waren es gleich zwei Hanse-Schiffe, die die Stadt kaperten. Eines kam sogar unter maltesischer Flagge. Wie die Kreuzritter. Unter Hinterlassung von Devisen zogen sie wieder ab.