Biller hat ein gnadenlos feines Sensorium für die Verwüstungen, die dieses ungeheuerste Verbrechen der Neuzeit in den Köpfen ...

Vor Kurzem ist ein schmales, aber eminent wichtiges Buch von Maxim Biller erschienen, das eine Art Autobiografie eines jüdischen Schriftstellers ist, der nach Deutschland zurückkam, als der Holocaust als größtes Verbrechen eines modernen Staates an den Juden zum Ziel deren Auslöschung längst anerkannt war. Offiziell zumindest und auch in den Köpfen der Schriftsteller, Journalisten und Wortführer geistiger Eliten.

Biller hat ein gnadenlos feines Sensorium für die Verwüstungen, die dieses ungeheuerste Verbrechen der Neuzeit in den Köpfen der Nachkommen der Täter ausgelöst hat.

Billers großes Vorbild, sein Antipode und Partner einer gesuchten Auseinandersetzung in dem Buch "Der gebrauchte Jude", ist Marcel Reich-Ranicki. Und was er zitiert, erinnert mich daran, dass er etwas aufrührt, was ein ewiger Stachel in den Erinnerungen Reich-Ranickis war. Dass er nämlich zwar ein hochgeschätzter Autor der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" gewesen sei, deren wichtigster Buchrezensent und Kulturkritiker, aber nie zu Redaktionskonferenzen eingeladen oder auch nur zugelassen war, und den man, als die Ressortleitung des Feuilletons der "Zeit" vakant war, nie als dessen Leiter in Erwägung gezogen habe.

Ich erinnere mich, und Biller zitiert es, und Rezensionen, die zum Jahrestag der Reichskristallnacht jetzt erschienen sind, zitieren es auch: Marcel Reich-Ranicki, mit dem ich viele Jahre zusammenarbeitete, führte das auf einen latenten Antisemitismus in der "Zeit" zurück.

Und in der Tat heißt es im offiziellen Jubiläumsbuch von 1998, Reich sei wegen seiner "rabulistischen" Diskussionsweise nicht zu Konferenzen geladen worden. "Rabulistisch"? Ist das antisemitistisch? Ich schlage in Wörterbüchern und Lexika nach, die jetzt erschienen sind. Ein Rabulist ist da einer, der in rechthaberischer, spitzfindiger, kleinlicher Weise argumentiert und dabei den Sachverhalt verdeckt: Auch im "Duden" ist ein "Rabulist" ein wortreicher Wortverdreher. Nicht mehr, nicht weniger.

Glücklicherweise besitze ich das einzige Lexikon, das während der Nazi-Zeit erschienen ist, nationalsozialistisch redigiert, der "Meyer", dessen Band mit "R" 1940 erschienen ist. Und da heißt es: "Rabulistik, die Rechtsverdreherei, wesentlich jüdischem Denken eigen!" Und hier wird offenbar, dass Biller recht hat: Verdrängt kommt in solchen scheinbar entnazifiziert gereinigten Begriffen eine verschwiemelte Wahrheit an den Tag.

In den Siebzigerjahren kursierte dazu ein aufschlussreicher Witz in Deutschland. Ein Jude sagte seinem Freund, er müsse wieder auswandern, weil es "wieder losgehe"! Was losgehe? fragte der. Na, gegen die Juden und die Friseure. Wieso gegen die Friseure?, fragte sein Freund. Und der Jude antwortete: Siehst du, wegen deiner Frage will ich auswandern.