Vom Diebstahl eines Elfmeterpunkts und der Frage: Könnte die Tat des Messermanns vielleicht ein historischer Einschnitt sein?

Vergangenen Dienstag zeigte die ARD eines der spektakulärsten Fußballereignisse der letzten Saison, ja überhaupt der "Fußball im Fernsehen"-Geschichte: das Relegationsspiel um den Aufstieg Düsseldorfs bzw. um den Verbleib Herthas in der Ersten Bundesliga. Das Spiel endete in einem Skandal, als nach einem bengalischen Feuerwerk das Spiel erst unterbrochen und dann wieder angepfiffen wurde. Und noch ein paar Minuten Nachspielzeit blieben. Nach dem 2:2 und in den letzten Nachspielminuten irritierte ein Pfiff des Schiedsrichters die dem Sieg entgegenfiebernden Düsseldorfer Fans. Sie stürzten zu Hunderten auf den Rasen, die Fußballspieler flohen in Panik in ihre Kabinen, ein chaotisches Inferno.

Und mitten in diesem Gewühl sah man einen Mann mit einem Messer, der sich mit einem dämonischen Grinsen auf den Rasen stürzte, kniend den Elfmeterpunkt aus dem Gras ausschnitt und das kalkige Rasenstück mit Triumphgeheul wegtrug wie eine wertvolle Trophäe. Die "Bild"-Zeitung hat ihn kurz darauf "den größten Fantrottel aller Zeiten" genannt; der Mann wurde spät in der Nacht in der U-Bahn mit seiner Beute von Reportern gefilmt, wie er vor Sprachlosigkeit selig lächelnd das Rasenstück umklammerte.

War das ein buchstäblich Rasender, der den Sinn des Spiels auf den Elfmeterpunkt brachte? Wird er ihn bald bei Ebay gut gedüngt und frisch gegossen verkaufen? Und wird das Spiel ohnehin in die Geschichte eingehen, als Fußball-Occupy-Bewegung eines Stadions?

Ob der Fan wirklich der größte Trottel in dieser Woche war, mag man bezweifeln. Mir jedenfalls kommt er gar nicht so blöd vor, und er steht in guter literarischer Tradition.

Denn in seinem großen Amerika-Roman "Underworld" von 1998 schildert Don DeLillo ein inzwischen sagenhaftes Baseballspiel zwischen den Giants und den Dodgers. Der spielentscheidende Schlag wurde der "Homerun des Jahrhunderts". Der Ball flog in die Menge und ward nicht mehr gesehen. Der halbwüchsige Farbige Cotter Martin erkämpft sich ihn als Souvenir und rettet ihn aus dem Hexenkessel des Stadions. Der Ball wechselt dann seinen Besitzer durch die bewegteste Zeit der amerikanischen Geschichte: Atombombe, Kalter Krieg, Müll, Graffiti-Kultur, Internet.

Hat also der Messermann den Rasen beim 2:2 von Hertha gegen Düsseldorf geklaut, weil er ein wertvolles Zeitdokument sichern wollte? Für eine überbordende Romanhandlung? Kurz nach dem Spiel schmiss Merkel Röttgen raus, ging Facebook an die Börse, wurde Griechenland für pleite erklärt, die Berliner Flughafeneinweihung auf den März 2013 verschoben. Auch die Elfmeterpunkt-Geschichte könnte Kern eines deutschen "Underworld"-Romans werden, der von einer historischen Wende in Europa handelt.