Wie ein Reporter nicht ins Inferno vorgedrungen ist. Dante, Flaubert und Karl May halten der Nannen-Preis-Jury den Spiegel vor

Dante, der eindrucksvoll in seiner "Göttlichen Komödie" die Qualen und die Besatzung und Besetzung in der Hölle beschrieben hat, war nie dort. Jedenfalls nicht zu Lebzeiten, als er das "Inferno" verfasst und seine Reise in die Unterwelt genau beschrieben hat. Ob er dort später, postmortal, gelandet ist, darf man bezweifeln. Große Dichter landen, wenn schon nicht im Paradies, dann auf dem Parnass oder dem Olymp, wo genau, weiß ich nicht. Ich war da noch nie.

Shakespeare war nie in Venedig, auch wenn er in seinem "Kaufmann von Venedig" die Frage stellt: "Was gibt es Neues am Rialto?" Er war überhaupt nie in Italien, auch nicht in Verona, wo heute noch die Touristen die Heimstätten seines tragischen Liebespaares Romeo und Julia heimsuchen dürfen. Auch in Wien und Böhmen war er nicht, weshalb ihm der Patzer unterlaufen ist, dass er Böhmen ans Meer verlegte. Nach seinem Tod versuchten deshalb immer wieder böse Menschen nachzuweisen, dass er seine Dramen gar nicht selbst geschrieben hätte. Das kommt einer Aberkennung des "Nannen-Preises" nahe, überbietet die Strafe aber noch mit drohendem Identitätsverlust.

Karl May schließlich war nie im Lande Winnetous, nie im wilden Kurdistan und nie im Land der Skipetaren und hat diese Landstriche glänzend beschrieben und lebendig bevölkert. Flaubert war nie in der Kutsche, in der Madame Bovary es mit ihrem Geliebten Léon vermutlich stundenlang trieb. Er ist da als Autor auch verstummt. "Und wie's da drinnen aussieht, geht niemand was an." Der "Spiegel"-Redakteur René Pfister hatte in seinem Seehofer-Porträt als Einstieg eindringlich den Hobbykeller von Horst Seehofer beschrieben, mit der Modelleisenbahn (Marke Märklin), wo auf einer Güterlok BR 151 Angela Merkel als (Voodoo-)Puppe steht. Aber Pfister war nie dort.

Relata refero. Ich beschreibe nur vom Hörensagen, wie der Lateiner fußnotenbewusst in solchen Fällen schrieb. Die Jury hat Pfister den Nannen-Preis aberkannt. Und das ist komisch. Denn hat je jemand angenommen, dass der "Spiegel" dabei war (unter dem Tisch verkrochen), wenn die Kanzlerin und der französische Präsident beisammen saßen und Kalbsgeschnetzeltes an Himbeersorbet zu einem Riesling von der Mosel, Jahrgang 2008, zu sich nahmen, beziehungsweise schlürften?

"Spiegel"-Leser wissen bekanntlich mehr, und dazu müssen "Spiegel"-Redakteure allwissende Erzähler sein ("Spiegel-Story" heißt es), damit der Leser so richtig das Gefühl hat, wirklich dabei zu sein, noch vor der ersten Reihe der ARD und des ZDF. Sowohl bei der Merkel-Puppe im Seehofer-Keller wie beim Merkel-Essen bei Sarkozy, wie sie sich gerade das Himbeersorbet trotz der politischen Widrigkeiten schmecken lässt. Und den Mosel-Riesling, Jahrgang 2008.