Was sagt man einer Mutter, die stirbt und ihre Kinder zurücklassen muss? Es gab keinen Verwandten mehr, der sich um sie hätte kümmern können. Denn der Vater war schon vor Jahren an Krebs gestorben, der Großvater gerade im Jahr davor, und nun war die Mutter unheilbar krebskrank. Nach der Prognose der Ärzte blieben ihr nur noch wenige Wochen. Weihnachten wollte Margret Korte (alle Namen geändert) noch überstehen, ein letztes Mal mit ihren drei Kindern Lukas (23), Tanja (18) und Tino (15) feiern. Als ich sie bei ihr zu Hause für eine Geschichte traf, war es Ende Oktober 2016.

    Über Schicksale zu schreiben, Menschen in Not finanziell zu helfen, gehört zu meiner Arbeit. Das macht das Ressort „Von Mensch zu Mensch“ aus, und ich hatte in 25 Jahren als Journalistin schon über viele bedrückende Geschichten geschrieben. Aber als ich dieser ehemals so starken und tatkräftigen Frau, dieser liebevollen Mutter, gegenübersaß, die so schmal und zerbrechlich geworden war, das einst volle Haare raspelkurz, da fing auch ich an zu weinen. Gemeinsam mit ihr, weil auch ich Kinder im gleichen Alter wie sie habe und mir der Gedanke daran, sie alleine zurücklassen zu müssen, einfach unerträglich erschien. In diesem Moment fragte ich mich auch, wo die Gerechtigkeit blieb, warum diese Familie so viel Kummer aushalten muss. Wann es genug ist.

    Den Kummer konnte ich der Mutter nicht nehmen, aber sie zumindest finanziell entlasten. Margret Korte hatte vorher noch nie um Hilfe gebeten, sie wollte ihren Kindern immer ein Vorbild sein und hatte als Altenpflegerin drei Tage nach dem Tod ihres Mannes wieder angefangen zu arbeiten. Sie war eine echte Kämpferin. Und es war auch nicht sie, die uns um Hilfe bat, sondern eine Freundin.

    Denn zusätzlich zu der bedrohlichen Krankheit wusste Margret Korte am Ende des Monats nie, wie sie das Essen noch zahlen sollte. Jede Taxifahrt zur Klinik bereitete Probleme, weil die Krankenkasse erst Monate später die Rechnungen bezahlte. Sie hatte alle Versicherungen – bis auf die Lebens- und Krankenversicherung – gekündigt, ihr Auto verkauft. Sie bekam keine finanzielle Unterstützung, ihr monatliches Budget lag zehn Euro über der Grenze für staatliche Hilfe.

    Wir saßen also zusammen und sprachen über das Muttersein – sie war so glücklich gewesen, mit Mitte 30 das erste Mal schwanger geworden zu sein, und auch darüber, dass sie so gern erlebt hätte, wie ihr Sohn 18 wird. Wir sprachen über den Tod und die Beerdigung. Und zwischendurch flossen bei uns beiden Tränen.

    Ich habe Margret Kortes Geschichte aufgeschrieben und dann auf der Seite „Von Mensch zu Mensch“ am 29. Oktober 2016 veröffentlicht – die Reaktionen waren überwältigend. Das Telefon stand tagelang nicht still, Hunderte Menschen spendeten Geld, und etliche boten Hilfe für die Kinder an. Die Fußballmannschaft von Tino organisierte ein Benefiz-Turnier, ein junger Mann spendete sogar sein Auto für die Familie, weil diese es seiner Meinung nach nötiger brauchte als er.

    Wir konnten Frau Korte einige Tausend Euro überweisen, die sie für letzte Unternehmungen mit den Kindern und Anschaffungen für die Wohnung nutzte. Wir legten einen Fonds im Namen der Kinder an und konnten Margret Korte damit zusichern, dass auch nach ihrem Tod für sie gesorgt ist. Das hat sie ungemein entlastet.

    Kurz vor Weihnachten schrieb uns Margret Korte einen Brief. Sie wollte, dass er veröffentlicht wird: „Das Wort ,Danke‘ erscheint mir zu klein, zu wenig, um auszudrücken, was meine Kinder und ich zurzeit erfahren dürfen. Wir sind tatsächlich sprachlos über so viel Anteilnahme und Großzügigkeit. Nie hätte ich geglaubt, dass unser Schicksal so viele Menschen so sehr berührt. Meine Tochter sagte vor Kurzem: ,Mama, das kann nicht wahr sein. Zwei Jahre haben wir uns verlassen gefühlt mit all den traurigen Dingen, die uns passiert sind, und auf einmal sind da Menschen, die Fremde sind, und die tun so viel Gutes für uns.‘ Mein größter Wunsch ist es, mit meinen Kindern noch einmal Weihnachten zu erleben, und ich hatte mir schon viele Sorgen gemacht, weil es sicher das letzte Mal sein wird, und das soll doch besonders schön werden. Wobei mein jüngerer Sohn sagte, er habe nur einen Wunsch: mich zu behalten. Nun sind die Sorgen um das kommende Weihnachtsfest wie weggeblasen, und ich hoffe, mein Krebs spielt mit und schenkt mir die Zeit bis dahin. Gerade auch in dieser Jahreszeit macht es einfach ein ganz warmes Herz zu wissen, wir sind nicht allein, viele Menschen sind in Gedanken bei uns und erleichtern uns die letzte gemeinsame Zeit.“

    Margret Korte starb am 10. Februar 2017, und ihre Beerdigung war wunderschön und ihrer würdig und genau- so, wie sie es sich gewünscht hatte. Viele Menschen kamen, um ihr das letzte Geleit und den Kindern Unterstützung zu geben, die Hälfte waren Jugendliche. Von den vielen Spenden konnten wir ihre Beerdigung bezahlen. Die Lebensversicherung ging somit komplett an die Kinder.

    Wir haben die beiden Jüngeren eine Weile begleitet, ihnen geholfen, wenn sie Geld für die Wohnungsrenovierung oder Kleidung benötigten. Sie waren sehr bescheiden, Hilfe anzunehmen fiel ihnen genauso schwer wie ihrer Mutter. Inzwischen hat die Tochter ihre Ausbildung beendet, einen guten Job gefunden und ihren Freund geheiratet. Tino ist als Fußballtalent bei einem großen Verein untergekommen und macht nächstes Jahr sein Abitur.

    Die Geschichte von Margret Korte hat mich aufs Tiefste berührt. Ich kam ihr näher, als es beruflich sein sollte, denn eigentlich trenne ich das Private und Berufliche strikt. Aber das ging diesmal nicht. Mich tröstete, dass ich ihr zumindest die finanziellen Sorgen nehmen konnte. Mir wurde durch diese Geschichte erneut klar, wie glücklich und dankbar ich für die Arbeit bei „Von Mensch zu Mensch“ bin, mit der ich tatsächlich etwas bewegen und Menschen in Not spürbar helfen kann. Das ist ein unglaubliches Privileg.