Jeden Sonnabend im Abendblatt: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute sprechen zwei Wissenschaftlerinnen darüber, ob die Liebe und das Engagement von Müttern und Vätern Kinder moralisch und/oder rechtlich dazu verpflichtet, als Erwachsene etwas zurückzugeben

    Sie wechseln Windeln und ertragen schlaflose Nächte. Sie kochen, backen, füttern und pflegen, helfen bei den Hausaufgaben, karren den Nachwuchs zum Sport oder zum Geigenunterricht. Sie lassen sich Löcher in den Bauch fragen und Lärm über sich ergehen. Eltern geben viel Zeit, Geduld und Geld für ihren Nachwuchs, im Idealfall zumindest. Müssen Kinder deshalb etwas zurückgeben? Ein Gespräch mit Dagmar Felix und Julia Pauli von der Universität Hamburg.

    Es ist Ende September, aber für viele Menschen dürfte jetzt schon feststehen, wo sie Weihnachten verbringen werden: bei ihren Eltern. Ist das ein Muss für Kinder?

    Dagmar Felix: Es dürfte für viele ein Pflichttermin sein. Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder an Weihnachten zu Hause sind. Jenseits aller religiösen Aspekte ist Weihnachten ein emotional sehr aufgeladenes Fest. Wer seine Eltern liebt, tut ihnen mit einem Besuch etwas Gutes, auch wenn er selbst das Fest womöglich lieber woanders mit Freunden feiern würde.

    Julia Pauli: Dass viele Menschen das Weihnachtsfest bei den Eltern verbringen, hat mit Ritualen zu tun, die elementar sind für die Aufrechterhaltung von Beziehungen. Wir brauchen bestimmte Standardisierungen, um uns anderen Menschen nahe zu fühlen. Das kann Weihnachten sein, aber auch ein anderes Fest. Es macht Sinn, Weihnachten zu den Eltern zu fahren, wenn sie einem wichtig sind.

    Dagmar Felix: Wir schulden unseren Eltern solche Besuche aber nicht. Das Wort „schulden“ würde ich im Kontext jeder privaten Beziehung ohnehin ablehnen. Man stelle sich vor, dass die Mutter sagt: Sohn, du schuldest mir, dass du Weihnachten bei mir bist, weil ich dich auf die Welt gebracht und erzogen habe. Da möchte ich mir nicht ausmalen, wie dieses Fest endet. Weihnachten verläuft oft nicht so harmonisch wie gewünscht, weil sich Menschen zwanghaft versammeln, obwohl sie einander nicht nahe- stehen.

    Im Idealfall haben Eltern 18 Jahre lang bestmöglich für ihr Kind gesorgt. Ergibt sich daraus nicht doch die Verpflichtung zu einer Dankbarkeit, die sich in Zuwendung äußert?

    Felix: Eltern entscheiden sich für Kinder, nicht umgekehrt. Dass Eltern sich dann 18 Jahre wunderbar um ihre Kinder kümmern, kann Dankbarkeit erzeugen, aber aus Dankbarkeit ergibt sich keine Verpflichtung.

    Pauli: Beziehungen basieren immer auf Formen des Austausches. Wenn ich jemandem etwas gebe, dann erwarte ich in irgendeiner Form, dass etwas zurückgeben wird. Das kann zu Weihnachten passieren, aber auch bei vielen anderen Gelegenheiten, und es muss nicht eins zu eins geschehen: Ich kann etwas Materielles bekommen und etwas Emotionales zurückgeben.

    Aber unterscheidet sich die Eltern-Kind-Beziehung nicht von anderen Beziehungen insofern, dass sie selbstlos sein sollte?

    Pauli: Es gibt keine Beziehungen, die keinen Austausch beinhalten. Austausch ist die Grundlage des Sozialen. Bei Verwandten geht es allerdings zentral um Sorgebeziehungen. Es gibt bestimmte Menschen in unserem Leben, die mehr Sorge übernehmen oder übernommen haben als andere. Es sind diese Menschen, die man an Weihnachten besucht. Das kann aber auch eine Schwester der Mutter sein.

    Früher galten Kinder als Altersversorgung. Wie ist das heute?

    Felix: Wir haben in Deutschland ein ausgefeiltes Sozialsystem. Kinder sind zur Alterssicherung heute nicht mehr erforderlich – im Gegenteil, man riskiert Altersarmut, wenn man Kinder aufzieht und deshalb nicht voll arbeiten kann.

    Pauli: Ich bin mir nicht sicher, ob sich Kinder hierzulande nicht mehr um ihre alternden Eltern kümmern müssen. Selbst wenn Kinder nicht mal einfachste Versorgungsaufgaben übernehmen, muss doch jemand diese Versorgung organisieren. Etliche Eltern werden erwarten, dass ihre Kinder hier einspringen. Auch das unterscheidet die Eltern-Kind-Beziehung von Freundschaften: Man erwartet von Freunden nicht, dass sie einen im Alter pflegen.

    Müssen wir dieser Erwartung der Eltern entsprechen?

    Felix: Aus rechtlicher Sicht gibt es durchaus Pflichten, die allerdings im Gesetz vage formuliert sind. Im BGB steht: Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksichtnahme schuldig. Daraus könnte man ableiten, dass ein Kind sich um die Organisation des Pflegeheimplatzes kümmern muss. Wirklich einklagbar sind diese Pflichten aber nicht. Das Gesetz ist das eine, die Moral das andere: Wer seine Eltern fünf Jahre lang nicht einmal besucht hat, wird in seinem Umfeld für Irritationen sorgen.

    Darf man sich nicht fünf Jahre lang nur um sich selber kümmern?

    Felix: Natürlich darf man das, aber man macht vielleicht andere unglücklich. Ich möchte allen Menschen, die mir nahestehen, etwas Gutes tun – aber nicht, weil es als moralisch gilt. Es ist mir einfach eine Herzensangelegenheit, mich um einen Freund zu kümmern, dem es schlecht geht. Und so sollte man es auch mit seinen Eltern halten. Im besten Fall sind Liebe und das Interesse an einer guten Beziehung die Triebfeder, sich seinen Eltern zuzuwenden.

    Pauli: Wobei dann die Frage ist, was eine gute Beziehung ausmacht. Sie muss nicht unbedingt emotional befriedigend sein. Eine gute Beziehung kann man auch als eine Beziehung zu einem Menschen definieren, von dem ich weiß, dass er auf jeden Fall da ist, wenn es mir sehr schlecht geht. Dieses Moment der Institutionalisierung, das gibt es eher bei Verwandtschaft. Freundschaft ist weitaus fluider, weniger verlässlich.

    Manche Kinder rufen ihre Eltern täglich an, andere greifen alle drei Monate zum Hörer. Wovon hängt das ab?

    Felix: Das sind Dinge, die in Familien unbewusst ausgehandelt werden. Es gibt keinen allgemeingültigen Rahmen. Wer seiner Mutter Blumen schenkt, wird damit allerdings eine Erwartungshaltung produzieren, und es wird zu Enttäuschungen führen, wenn er beim nächsten Mal keinen Strauß mitbringt. Was man in einer Beziehung gibt, ist immer auch eine Hypothek in die Zukunft.

    Pauli: Vieles tun wir aufgrund von Nachahmung. Schon als Kinder beobachten wir etwa, wie unsere Cousinen mit ihren Müttern agieren und finden vielleicht, dass dieses Modell auch für uns attraktiv ist, weil beide Parteien – Mütter wie Kinder – sehr zufrieden mit ihrer Beziehung wirken. Wir werden zudem geprägt von Filmen, Büchern und von Freunden, bei denen wir sehen, dass Beziehungen in einer bestimmten Art und Weise gelebt werden. All das ist Teil eines kulturellen Kontextes, in dem bestimmte Erwartungen produziert werden, die man erfüllen oder auch ganz bewusst verweigern kann.

    Felix: Die meisten Menschen denken wohl nicht darüber nach, ob sie ihren Eltern etwas schulden, weil sie mindestens 18 Jahre anders sozialisiert worden sind. Grundsätzlich wachsen Kinder doch eher mit einer Nehmermentalität auf. Dass sich dies in dem Moment ändert, in dem sie ausziehen, ist unwahrscheinlich.

    Entweder hat man schon als Kind der Mama Blumen geschenkt, oder ...

    Felix: ... man wird es später auch nicht tun.

    Pauli: Es kann schon noch Veränderungen geben, obwohl man in eine bestimmte Familie und Kultur hineingeboren wird. Ich glaube zwar auch nicht, dass dies beim Auszug der Fall ist. Aber wir sehen in Studien deutliche Unterschiede, wenn die ausgezogenen Kinder ihr erstes Kind bekommen. Das definiert die Beziehung zu den Eltern oft neu. Und interessanterweise kommen dort auch neue Formen des Austausches hinzu: Sehr häufig übernehmen die Eltern dann Versorgungsleistungen vor allen gegenüber ihren Töchtern und unterstützen sie mit den Kindern.

    Ist es sinnvoll, sich an anderen zu orientieren?

    Felix: Ich würde jedem raten, seinen eigenen Weg im Umgang mit den Eltern zu finden. Ansonsten bleibt nur zu hoffen, dass man in einer Eltern-Kind-Beziehung intuitiv weiß, was gut für beide Seiten ist – und es gelingt, das auch zu leben.

    Was aber ist mit Eltern-Kind-Beziehungen, in denen es nicht so gut läuft?

    Felix: Wenn eine Beziehung nicht für beide Seiten schön ist, würde ich sie beenden. Irgendwann allerdings meldet sich vielleicht das Sozialamt und verlangt Geld für den Unterhalt meiner Eltern von mir.

    Im sogenannten Rabenvater-Urteil wurde vor vier Jahren ein Sohn zu Unterhaltszahlungen verpflichtet, obwohl sein Vater den Kontakt abgebrochen und den Sohn enterbt hatte.

    Felix: Zunächst einmal schulden alle Verwandten in gerader Linie einander Unterhalt – also auch Kinder ihren Eltern. Das BGB wird durch das Sozialrecht ergänzt bzw. überlagert. Dieses sichert die Existenz im Bedarfsfall über die Grundsicherung im Alter: Das Sozialamt zahlt und verzichtet auf den Rückgriff gegenüber den Kindern, es sei denn, diese hätten ein hohes Einkommen, nämlich mehr als 100.000 Euro im Jahr. Können die Eltern nicht von der Rente leben, werden sie also in der Regel durch Sozialleistungen unterstützt, ohne dass die Kinder etwas dazu tun müssten. Anders ist das aber insbesondere im Fall der Pflegebedürftigkeit: Wenn die Eltern aus ihren Mitteln eine Unterbringung im Heim nicht bezahlen können, springt zwar auch das Sozialamt ein. Aber: Der Anspruch, den Eltern ja zivilrechtlich gegen ihre Kinder haben, geht auf das Sozialamt über. Das Amt macht diesen Anspruch dann gegenüber den Kindern geltend, um so jedenfalls einen Teil des an die Eltern gezahlten Geldes zurückzubekommen.

    Kann dieser grundsätzliche Unterhaltsspruch verwirkt werden?

    Felix: Ja – genau das war die Frage im besagten Rabenvater-Urteil. Der Anspruch der Eltern besteht schon nach dem BGB nicht, wenn die Eltern schwerwiegende Verfehlungen gegenüber dem Kind begangen haben. Wo kein Anspruch besteht, kann er auch nicht auf das Sozialamt übergehen. Auch das Sozialrecht schließt einen Übergang aus, wenn dieser eine unbillige Härte für das Kind bedeuten würde. Wann diese Voraussetzungen vorliegen, hängt stets vom Einzelfall ab. Ein normaler Kontaktabbruch reicht dafür – so das Gericht in dem Rabenvater-Prozess – nicht aus. Nicht zahlen muss – so wurde kürzlich in erster Instanz entschieden – eine Frau, deren Mutter sie als kleines Kind in ein Heim gegeben hatte. Weil die Mutter später ein weiteres Kind bekommen hatte, das bei ihr bleiben durfte und damit deutlich wurde, dass sie nicht per se überfordert gewesen war, hat das Gericht aktuell einen Unterhaltsanspruch der Mutter abgelehnt. Keinen Unterhalt haben auch Kinder zu leisten, die einem nachweisbaren sexuellen Missbrauch durch die Eltern oder erheblicher körperlicher Gewalt ausgesetzt waren.

    Finden Sie es richtig, dass es eine rechtliche Verpflichtung zum Elternunterhalt gibt?

    Felix: Ich halte diese Verpflichtung jedenfalls für sehr rechtfertigungsbedürftig, denn Kinder haben sich ihre Eltern ja nicht ausgesucht. Sozial- und gesellschaftspolitisch ist eine gewisse familiäre Solidarität aber sinnvoll. Wer alles dem Sozialstaat überlässt, zerstört zugleich jegliche individuelle Solidarität. Schon heute mag der Eindruck entstehen, dass man sich selbst um nahe Angehörige nicht kümmern muss. Zudem ist der Elternunterhalt sehr moderat ausgestaltet, sodass der Lebensstandard des Kindes sich nicht deutlich verschlechtert, weil es die Eltern finanziell unterstützen muss.

    Pauli: Es ist ein Illusion zu glauben, dass der Staat alles regelt. Es muss doch in Familien vielmehr darum gehen, möglichst früh für alle Familienmitglieder eine faire Beziehung zu etablieren, mit einer Kommunikationskultur, in der die Erwartungen klar sind und wo es auch Grenzen gibt. Dann kommt es gar nicht erst dazu, dass Eltern und Kinder sich vor Gericht treffen müssen.