Der siebenjährige Emil aus Eppendorf ist genervt von Erwachsenen, die ständig auf ihr Smartphone gucken. Mithilfe seiner Eltern hat er für Sonnabendeine Demonstration in Hamburg geplant

    Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Ich höre nichts zu Boden fallen? Ich sehe nichts fliegen? Niemand? Kein Wunder, denn wir alle verbringen zu viel Zeit am Handy. Nur kurz mal die WhatsApp lesen, die sich da gerade piepend angekündigt hat, dann eine klitzekleine Mail beantworten, anschließend bei Facebook ein paar Likes verteilen, und wo man gerade dabei ist, kann ein Blick auf Instagram nicht schaden. „Nur mal eben“ ist eine Formulierung, die viele, viele Sätze (Ausreden?) zur persönlichen Mediennutzung einleiten. Dabei sind es oftmals 20, 30 Minuten, die unbemerkt vergehen, im schlimmsten Fall mehr. Huch? Schon wieder dunkel? Was soll’s, ich hab ja mein beleuchtetes Display. Es werde Licht – das Handy schafft mühelos das, wofür Gott sich richtig ins Zeug legen musste. Natürlich ist ein tragbares Telefon extrem praktisch. Wir sind anrufbarer geworden – und gleichzeitig weniger ansprechbar.

    Den sieben Jahre alten Emil aus Eppendorf nervte das so sehr, dass ihm bei einer Fahrt in der U-Bahn mit seinem Papa Martin Rustige der Kragen platzte: „Papa, du hörst mir gar nicht richtig zu. Alle hier gucken nur in ihre Handys.“ Also was tun?

    Emil ist ein großer Fußballspieler und St.-Pauli-Fan. Bei einer Vereinsveranstaltung hatte er gelernt, dass man auf die Straße gehen kann, wenn einem etwas nicht passt. Also schlug er seinen Eltern vor: „Ich will eine Demonstration machen. Für mehr Zeit für Kinder und weniger Zeit am Handy.“

    Ein bisschen Reflexion hat ja noch niemandem geschadet

    Als er die Idee seinen Klassenkameraden in der Marie-Beschütz-Schule erzählte, fragte die Lehrerin, ob das Handy als ständiger Begleiter der Erwachsenen auch für andere Kinder ein Problem sei. Fast alle sagten: Ja! „Das Thema beschäftigt also nicht nur mein eigenes Kind“, sagt Lisa Rustige, die daraufhin recherchierte, wie man überhaupt eine Demonstration anmeldet.

    „Emil hat mich einfach immer wieder gefragt, wann ich endlich bei der Polizei anrufe. Ich musste mich also um sein Anliegen kümmern“, sagt die 36-jährige Medizinerin. Sogar auf die Gefahr hin, selbst vielleicht schlecht dazustehen. Ob sie das nicht als Kritik empfinden würden, fragten Bekannte, wenn der eigene Sohn von dem Handykonsum seiner Eltern genervt sei. Tja, muss man aushalten können, finden die Eltern, und Emils Vater Martin Rustige ergänzt, dass ein bisschen Reflexion ja noch niemandem geschadet habe. Dann greift er zum Messer und schält ein paar Kartoffeln: „Ich dachte, ich schnippel hier extra während des Interviews jede Menge Gemüse für meine Kinder, um ein paar Pluspunkte einzufahren.“

    Klappt schon mal ganz gut. Die Kinder (Emil hat eine kleine Schwester) hüpfen dabei auf dem Trampolin im Garten, streiten sich um Knallerbsen und berichten zwischendurch immer mal wieder, was sie an Handys gut oder schlecht finden. „Natürlich brauchen wir Handys, ich will mich ja weiterhin mit meinem Freund verabreden können“, sagt Emil, „aber das Ding klaut mir Zeit mit meinen Eltern.“

    Und Ruhe. Seine Schwester kann es nicht leiden, wenn es während des Essens klingelt: „Denn dann ist ja Essenszeit, keine Handyzeit.“ Sie selbst habe es als Kind auch sehr gestört, wenn ihre Mutter während des Abendbrots mit anderen Leuten telefonierte, erzählt Lisa Rustige. Geschichte wiederholt sich. Doch ihren Verlauf kann man ändern.

    Als erste Konsequenz der Diskussion innerhalb der Familie legt Lisa Rustige ihr Handy jetzt jedes Mal, wenn sie von der Arbeit kommt, im Flur ab, schaltet es auf lautlos und nimmt sich vor, bis zum nächsten Morgen nicht mehr draufzuschauen. „Ist jetzt mal ein Versuch, mal gucken, ob ich es schaffe. Doch wenn ich ehrlich bin, habe ich vor allem abends viel zu viel Zeit mit meinem Smartphone verbracht.“

    Die Körpersprache der Moderne: Kopf runter

    Papa Rustige schnippelt inzwischen Süßkartoffeln. Süßholz raspeln tut er nicht. Der 37-jährige Arzt ist einer von den Lustigen – von denen, die sich nicht so ernst nehmen, im entscheidenden Moment dann aber die Wahrheit sagen: „Ich werde jetzt bestimmt kein Vorbild der medialen Entschlackung werden, kein Medien-Vorzeige-Papa, aber ich habe mir vorgenommen, mich selbst zu beobachten. Denn es ist ja klar: Wir sind die Influencer unserer Kids.“

    Letztens sei er mit seiner Tochter in der Waschanlage gewesen, sie saß hinter ihm, er las ein paar Online-Artikel, was die Kleine eigentlich nicht sehen konnte. Doch schon allein an seiner Haltung wusste sie, was Sache ist: „Papa, du guckst ja schon wieder Handy!“ Die Körpersprache der Moderne wird bestimmt von einem nach unten geneigten Kopf.

    Also Kopf hoch! Das empfiehlt man in anderen Zusammenhängen gerne Kindern. „Interessant finde ich, dass bei diesem Fall endlich mal alles andersherum ist“, sagt Martin Drechsler, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM e. V.) Die FSM kümmert sich darum, Kinder vor jugendgefährdenden Inhalten zu schützen. Eine Aufgabe, die durch das Internet, soziale Medien, Smartphones und Co. sehr komplex geworden ist. Cyber-Mobbing, unlautere Angebote, gewaltverherrlichende Videos - die Gefahren lauern nur ein paar Klicks entfernt.

    Doch die Sorgen liefen bislang stets in eine Richtung: Eltern sorgten sich um ihre Kindern. „Die Aktion des Jungen zeigt, dass sich Kinder auch um ihre Eltern sorgen, indem sie deren Medienverhalten infrage stellen,“ sagt der Jugendschutz-Experte. Er hoffe, einige (Erwachsenen-)Augen würden durch die Demonstration in Hamburg geöffnet. Das Bewusstsein für das Problem sei längst erkannt und über alle Schichten verbreitet. Im aktuellen „Jugendmedienschutzindex“, einer Studie, die die FSM gemeinsam mit dem Hans-Bredow- Insti­tut für Medienforschung und dem JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis durchgeführt hat, geben 82 Prozent der Eltern an, sich selbst in der Verantwortung zu sehen, wenn es um einen gesunden Umgang des Nachwuchses mit Medien gehe. „Wie den Umgang mit Messer und Gabel beizubringen, sollte Mediennutzung als Teil der Erziehungsarbeit selbstverständlich werden“, sagt Drechsler.

    Blöd nur, dass es heutzutage für alles Kurse und Seminare gibt, von der Selbstverteidigung für Rentner bis hin zu „Pimp my Avocado Toast“ (ja, gibt es wirklich), doch richtige Mediennutzung, die vermittelt eigentlich keiner.

    Die FSM hat deshalb einen Online-Guide entwickelt mit praktischen Tipps für Eltern, wie sie ihre Kinder bei der Nutzung von Apps, Spielen, Websites und sozialen Netzwerken begleiten. Unter www.elternguide.online gibt es viele Informationen, unterteilt nach Altersstufen, und es wird erklärt, wie sich verschiedene Medien auf die Beziehung von Familienmitgliedern auswirken. „Ganz wichtig ist zum Beispiel, seinem Kind zu erklären, warum man jetzt gerade auf das Handy guckt“, rät Drechsler. Ob man gucke, wann der nächste Bus fahre oder ob man einen Regenschirm einpacken muss. „Das Handy besitzt ja viele hilfreiche Funktionen. Die Mail vom Kollegen jedoch, die kann man auch in einer Stunde noch lesen.“ Das habe er erst lernen müssen, gibt Martin Rustige zu: „Mein Kind kann ja nicht erkennen, ob es wichtig ist, was ich gerade mit dem Handy mache.“

    Emils Idee jedenfalls kam bei den Mitarbeitern der Versammlungsbehörde sehr gut an, in kurzer Zeit war die Demonstration organisiert. Eine befreundete Grafikerin half bei den Plakaten und den Flyern, und der Druckereibesitzer gab ungefragt einen Rabatt, als er auf der Vorlage las, um was es geht. „Super Aktion, die unterstützen wir!“

    Nicht jeder reagierte so. Eine Frau auf dem Spielplatz habe beim Blick auf den Flyer gesagt: „Wieso? Mein Kind kann hier doch prima allein spielen.“ Er wolle ja gar nicht, dass seine Eltern ihn rund um die Uhr bespaßen, sagt Emil: „Aber sie sollen zumindest anwesend sein.“ Das habe sie tatsächlich festgestellt, erklärt Lisa Rustige: „Anders als beim Zeitunglesen entwickele ich beim Lesen im Handy irgendwie einen Tunnelblick.“

    Das Smartphone lässt die Aufsichtspflicht vergessen

    Wie gefährlich diese Versenkung sein kann, darauf hatten im Sommer bereits die Hamburger Bademeister hingewiesen. Viele Eltern vernachlässigten ihrer Ansicht nach ihre Aufsichtspflicht, beschäftigten sich lieber mit dem Smartphone, anstatt auf die Kinder zu achten. Nach Angaben von Michael Dietel vom Hamburger Schwimmbad-Betreiber Bäderland sinkt die Aufmerksamkeit von Eltern seit Jahren. Smartphones und Tablets seien problematischer als Zeitschriften oder Bücher: „Im Netz gibt es ständig neue Inhalte, dadurch hat man immer Angst, etwas zu verpassen.“

    Es gibt eine nette Abkürzung für diese Phobie der Generation Facebook: ­FOMO, die Fear of missing out. So viele Möglichkeiten, Interessantes zu erleben. Doch was ist ernsthaft interessanter als die eigenen Kinder? Und wie verhält es sich inzwischen wirklich: Besitzt der Nutzer das Handy oder das Handy den Nutzer?

    Doch nun Schluss mit der Moralpredigt (die die Autorin sich hier übrigens auch selbst hält). Kommen wir zu den wirklich wichtigen Fragen: „Wann gibt’s Essen?“, wollen die Kinder wissen. Gleich. Papa Rustige steht nun am Herd, Emil zeigt sein elektrisches Schlagzeug, in diesem Haushalt ist Musik drin. „Es wäre toll, wenn 200 Leute am Sonnabend bei der Demo mitlaufen“, sagt Emil. Gemeinsam mit einem Kumpel hat er sich schon einen Schlachtruf überlegt: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr in eure Handys schaut!“

    Die Demonstration startet am Sonnabend
    um 11 Uhr. Die Route führt von der Feldstraße über die Schanze bis zum Lindenpark. Treffpunkt: Grünfläche zwischen Marktstraße und Ölmühle, ab 10.30 Uhr.