Unsere Autorin war zum ersten Mal bei den Festspielen. Sie hat wenig Ahnung von Opern, aber das machte (fast) nichts. Hier ihre Anleitung, wie Sie auch als Bayreuth-Dummie vor Ort eine gute Figur machen, wie Sie mit Wagnerianern und Einlass-Ordnern umgehen, wann Sie zur Post und ins Kneipp-Becken müssen und wieso rückenfreie Kleider eine schlechte Idee sind. Eine Reportage in drei Aufzügen

    Erster Akt: Der Mann kommt zielsicher auf mich zu: „Haben Sie ,Lohengrin‘? Ich zahle Ihnen das Doppelte!“ Willkommen in Bayreuth. Ich habe noch nicht mal richtig das Auto abgestellt, da bin ich schon mittendrin im Wagner-Wahn. „Ich habe zwei Karten für den ,Fliegenden Holländer‘“, antworte ich. „150 Euro das Stück, aber ich habe so lange drauf gewartet und bin jetzt 700 Kilometer von Hamburg gefahren, die verkaufe ich nicht.“ Der Mann lacht. Keine Ahnung diese Norddeutsche. Den „Holländer“ würde doch niemand mehr wollen! „Lohengrin“! „Lohengrin“ sei das Stück der Stunde. Ach, okay. Ich würde mich dennoch sehr freuen, entgegne ich kleinlaut. „Das können Sie auch, Sie sind im Himmel der Opernwelt angekommen. Bayreuth ist das Beste, keine Konkurrenz!“

    Es stellt sich heraus, dass der Mann bereits 160 Wagner-Opern auf der ganzen Welt gesehen hat, bis auf Sydney kennt er alle großen Häuser, nirgendwo sei es so wie hier. „Ich komme aus Duderstadt und habe 50 Wagner-Büsten in meinem Haus, die lasse ich nachts anstrahlen, was sagen Sie dazu, Frau Hamburgerin?“ Erst mal nichts. Nach den ersten drei Minuten vor Ort schon sprachlos. Das muss besser werden. So erkennt mich ja jeder als Festspiel-Dummie. Für die Verrücktheit der Wagnerianer (so nennen sich extreme Wagner-Fans) sollte man gewappnet sein. Die Biografie von Ludwig II. hätte sich als vorbereitende Lektüre empfohlen oder ein Besuch bei Ikea am Wochenende, wenn Köttbullar im Angebot sind. So lernt man Wahnsinn. Ich hingegen habe mir nur auf YouTube die Szenen aus „Apocalypse Now“ angesehen, die mit dem Ritt der Walküren unterlegt sind. Allerdings nicht bis zum Ende, denn ich war kurz davor, mich freiwillig für den Militärdienst zu melden.

    Also: Ich bin in Bayreuth und habe wenig Ahnung. Was nun? Als Erstes gehe ich zum Einführungsvortrag. Was für eine tolle Idee, habe ich gedacht, als ich davon erfuhr, dass jeder Kartenbesitzer am Tag seines Stückes um 10.30 Uhr zum Festspielhaus kommen kann, um etwas über die Inszenierung des Abends zu erfahren. Niemand soll so unvorbereitet wie ich in die Vorstellung gehen. Der Redner sei einfach wundervoll, hatte man mir erzählt: Dr. Sven Friedrich, der Direktor des Richard-Wagner-Museums mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung in Wagners Bayreuther Wohnhaus Wahnfried. Mannomann. Das passt auf keine Visitenkarte, aber Wagner lässt sich eben nicht in Standardformate quetschen. Wie gespannt bin ich auf Herrn Friedrich. Sein Ruf eilt ihm voraus. Alles soll er wissen. Innerhalb einer Stunde wird er aus einem Wagner-Nobody wie mir einen Opern-Experten machen, so hoffe ich, als ich vor dem Eingang des Festspielhauses stehe.

    Jedoch: „Sie kommen hier nicht rein!“ Wieder ein Mann, der mich unerwartet anspricht. Deutlich unfreundlicher, militärischer als der Wagnerianer aus Duderstadt. Wohl zu viel „Apocalypse Now“ geguckt. „Hier ist meine Eintrittskarte für heute Abend“, sage ich höflich. „Damit darf ich doch zum Einführungsvortrag.“ Diabolisches Grinsen. „Der begann um 10.30 Uhr, jetzt ist es 10.36 Uhr, ich lasse Sie nicht mehr rein.“ Bitte? Aber ich sei extra aus Hamburg gekommen, und so ein Verrückter auf dem Parkplatz habe mich in ein Gespräch verwickelt, und ohne das Wissen von Dr. Friedrich sei ich heute Abend aufgeschmissen, und, und, und. Bis auf Tränen liefere ich die größte Ausreden-Darbietung aller Zeiten ab, gleich verpflichten sie mich hier als Schauspielerin, so gut bin ich.

    Von wegen. „Aus Hamburg, was? Hier reisen Leute aus Japan und den USA an, die sind alle pünktlich. Sie nicht!“ Abgang des Einlass-Ordners. Was mache ich denn jetzt? Auftritt eines zweiten Einlass-Ordners. „Ärgern Sie sich nicht, ich habe sogar schon Markus Söder abgewiesen, der hat hier direkt vor der Tür zu lange ein Interview gegeben, der kam dann auch nicht mehr rein.“ Was für ein Trost. Jetzt haben Markus Söder und ich etwas gemeinsam. Gleich heule ich, in echt. Einlass-Ordner 2 hat Mitleid und bleibt eine Sekunde zu lange bei mir stehen. „Sie kennen sich doch hier aus, gibt es nicht noch einen Eingang? Kann ich den Vortrag durch irgendeine Tür heimlich mithören?“ Aber nein, das Festspielhaus gleicht einer Festung. Nun weiß ich, woher der Name wirklich kommt. „Und wo geht Dr. Friedrich nach seinen umjubelten Vorträgen für gewöhnlich hin?“ frage ich. „In die Kantine.“ „Aha!“ Hoffnung. „Die ist nicht öffentlich.“ Hoffnung zerstört.

    Einlass-Ordner 2 und ich unterhalten uns noch ein bisschen, wir stellen fest, dass er auch Journalist ist. Er arbeitet „während der Saison“ (so sagen die Leute über die Wochen, in denen die Aufführungen laufen) auf dem „Grünen Hügel“ (so taufte Richard Wagner den kleinen Berg, auf dem er sein Festspielhaus bauen ließ), um die Stimmung vor Ort zu erleben. Bayreuth gleicht Olympia. Dabei sein ist alles.

    Mein neuer Freund sorgt jedenfalls dafür, dass ich eine gute Stunde später am Ausgang der Kantine zufällig auf Dr. Friedrich stoße. „Ich brauche Sie, dringend!“, eröffne ich das Gespräch, Dr. Friedrich bleibt cool. Wieder einer im Wagner-Wahn, wird er denken, wunderbar. „Was muss ich für heute Abend wissen? Was muss ich überhaupt wissen, wenn ich noch nie eine Oper in Bayreuth erlebt habe?“ Dr. Friedrich sagt: „Die Inszenierung heute Abend ist leicht zu erschließen. Die Message des ,Fliegenden Holländers‘ lautet: Liebe in einer ökonomischen Welt ist unmöglich. Wir alle sind Zombies der Arbeit. Dann müssen Sie nur noch wissen, wann die Zäsuren stattfinden, nämlich gleich um 11.45 Uhr, und wo Sie sich bei dieser Hitze abkühlen, dann sind Sie perfekt vorbereitet!“ Spontan liebe ich Dr. Friedrich. Puh, fast wäre mein großer Bayreuth-Auftritt in die Hose bzw. ins Abendkleid gegangen, doch jetzt weiß ich Bescheid. Wobei … Was sind denn die Zäsuren, und wo genau erfrische ich mich? Ich erfahre, dass es hinter den Parkplätzen ein Kneipp-Becken gibt. In diesem Sommer der begehrteste Ort der Festspiele und immer wieder ein Quell lustiger Instagram-Bilder. Männern in Frack, aber ohne Hose, die in der Pause eines gefühlt dreitägigen Stücks durchs Wasser waten. Mein Mann wird das nachher bereits vor dem ersten Akt machen. Jetzt am Vormittag ahnen wir noch nicht, dass es später über 40 Grad sein werden, und es hat uns auch niemand gesagt, dass der Zuschauersaal über keine Klimaanlage verfügt. Doch zu den Ohnmachtsanfällen kommen wir noch.

    Nun erst mal zur Probebühne IV, um an einer Zäsur teilzunehmen. Dabei handelt es sich um Gesprächsreihen, die ihren Namen von Wagner, dem großen Denker der „Zäsur“, des Einschnitts und radikalen Neubeginns, haben. Verschiedene Künstler treten dabei auf und plaudern aus dem Nähkästchen. Fast besser als die Aufführung, muss ich rückblickend sagen. Von Regie-Assistent Manuel Schmitt lerne ich, was große Oper bedeutet. Mehrere Tausend Euro verbrennen zum Beispiel in einer Szene vor den Augen der Zuschauer, als ein Plakat angezündet wird. „Wir haben uns schon mal überlegt, es an einem Abend sein zu lassen und für das Geld einen trinken zu gehen“, sagt Schmitt. Natürlich macht er Scherze. Alles und jeder hier strebt nach Perfektion. Wenn sich am Ende zum Beispiel der Vorhang schließt, dann sei das Stück noch nicht vorbei, gibt er uns als Tipp mit. Innerhalb von genau 22 Sekunden vollbringen 30 Leute hinter der Bühne ein Kunststück. Sie bauen in dieser Zeit ein komplett neues Bühnenbild für eine allerletzte Szene. So etwas funktioniere nur hier mit dieser großen Truppe, erzählt Schmitt und gibt zu, doch auch ein wenig in Wagner verliebt zu sein: „Seit ich einmal ,Parsifal‘ gesehen habe war es um mich geschehen.“

    Zweiter Akt: Thomas Gottschalk steht neben mir. Er ist komplett in Weiß gekleidet und unterhält sich mit seiner Begleitung auf Englisch über die Hitze: „Hot.“ Gottschalk sieht extrem gut aus, als Bayreuth-Stammgast weiß man eben, wie es geht. Eine Traumrobe nach der anderen flaniert nun durch die gut gepflegten Gärten, in 30 Minuten geht es los, vor dem mobilen Postamt hat sich eine lange Schlange gebildet. Es öffnet nur direkt vor der Aufführung und während der ersten Pause; eine Gruppe von Japanern schreibt Karten und stellt sich für den begehrten Poststempel an.

    Als Souvenirs werden im Kiosk neben dem Festspielhaus (Profi-Tipp: Hier befinden sich auch Toiletten!) ­T-Shirts verkauft mit der Aufschrift: „Wahn, Wahn! Überall Wahn!“ Eine Amerikanerin fragt: „What does it ­mean?“ Ihre Freundin sagt: „Something with Wagner, I guess.“ An der Bar auf der anderen Seite des Festspielhauses drängen sich die Durstigen. Ein Glas Champagner kostet 14 Euro. Niemand protestiert. Wer sich auskennt, hat die Kühltasche im Kofferraum und stößt beim Fliege-Binden auf dem Parkplatz an. „Cheers!“ Picknick bei Wagners.

    Ein Paar kommt in Abendgarderobe auf dem Rad den Grünen Hügel heraufgefahren. „Ein erhebendes Gefühl, wir hatten die ganze Auffahrt für uns“, sagt der Herr, der sich als Gerhard Bauer vorstellt. Seine Frau schließt das Rad ab und holt die Pässe raus. Denn merke: Die Eintrittskarten sind personalisiert, ohne Ausweis bleiben Sie draußen vor der Tür! „Als Bayreuther schaut man sich den Zirkus jahrelang an, und dann freut man sich, wenn man zwischendurch selbst eine Karte ergattert“, sagt Birgit Bauer. Acht Jahre haben sie dieses Mal gewartet. Aber es geht schneller. Wer an Aufführungstagen zwischen 10 und 12 Uhr oder zwei Stunden vor der Aufführung im Kartenbüro am Festspielhaus wartet, kann Glück haben. Manchmal werden Karten zurückgegeben, die können gleich vor Ort auf den Namen des neuen Käufers umgeschrieben werden.

    Zehn Minuten vor Beginn stehe ich bereits bei meinem Angstgegner vom Vormittag und halte ihm zitternd meine Karte hin. Er rollt mit den Augen. Na gut, Hamburgerin, dieses Mal darfst du rein.

    Die nächsten Stunden vergehen in einer Art Schmerz- und Hitzerausch. Unsere Sitznachbarn aus Nürnberg haben zum Glück zwei Fächer dabei, einen darf ich mir immer dann ausleihen, wenn mir schwarz vor Augen wird, sonst erginge es mir wie der Frau zwei Reihen vor uns, die im zweiten Akt kurz bewusstlos wird, sich aber dennoch weigert, den Saal zu verlassen: „Jetzt bin ich einmal im Leben da, das ziehe ich durch“, zischt sie. Die Frau hat natürlich recht.

    Über die unbequemen Stühle von Bayreuth wurde schon viel geschimpft. Was für ein Gejammer, dachte ich immer, nun rate ich dringend: Betreten Sie niemals mit einem rückenfreien Kleid diese Sitzmöbel-Hölle. Es sei denn, Sie möchten wie Uhu an einem Sitz kleben. Der Komfort ist unterirdisch, alle wackeln und ruckeln auf ihren Stühlen herum. Wie eine Klasse Erstklässler hocken wir da, bereit für die Hochkultur und doch nur damit beschäftigt, den Schmerz in Kreuz und Steiß zu bekämpfen. Bayreuth erstand aus der Vision eines einzigen Mannes, und mich würde nicht wundern, wenn Wagner das Leiden der Zuschauer als Teil des Mythos bereits eingeplant hatte.

    Natürlich berauscht einen die Musik, die durch den besonders gebauten Orchestergraben ganz anders beim Publikum ankommt als in anderen Konzerten. Auch die Sänger singen himmlisch, aber glauben Sie nicht, dass Sie irgendetwas davon verstehen werden. Höchstens einige Wortfetzen und Halbsätze kann ich erraten, ansonsten Bahnhof. In anderen Opern werden die Texte eingeblendet, hier nicht. Der Kunstanspruch bleibt elitär. Ich hätte vorher das gelbe Reclam-Heftchen mit dem Text vom „Der fliegende Holländer“ lesen sollen, dann hätte ich mehr begriffen als: Der Holländer ist verdammt, für ewig auf den Meeren zu fahren, bis ihn eine Frau, die ihm treu bis in den Tod ist, erlöst. So eine Seltsame findet er tatsächlich. Sie heißt Senta und verlässt für den nebulösen Holländer den bodenständigen Eric, ihr Papa findet das auch noch toll. Am Ende sterben Holländer und Senta, und ihr Papa weiß den romantischen Tod für eine neue Business-Idee zu nutzen. „Ja, und?“, fragt mein Mann. „Das reicht doch, was willst du denn noch?“

    Wahrscheinlich muss ich begreifen, dass man Bayreuth nicht komplett verstehen kann. Kein Festspiel in Deutschland läuft länger, es hat zwei Weltkriege, die Nazi-Vergangenheit, den Streit der Wagner-Nachfahren und unzählige Skandale überlebt. Es geht um ein Genie, um eine Dynastie, um Hochkultur, um ein Event am äußersten Rande Deutschlands, für das sich alle sehr gut anziehen, um im Kneipp-Becken den schönsten Moment des Tages zu erleben.

    Dritter Akt: Erschöpft stehe ich im Abendkleid an einer Tankstelle in Bayreuth. 700 Kilometer Heimfahrt warten. „Ah, da kommt eine vom ,Holländer‘“, sagt ein Mann zu seiner Frau. „Die Glückliche“, antwortet sie.

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