Das weltberühmte Viertel soll immaterielles Kulturerbe der Unesco werden. Doch es regt sich massiver Widerstand. Es geht um die Identität eines Stadtteils im ständigen Wandel – und wer eigentlich was schützen möchte

    Michel Ruge sitzt auf der Treppe vor seiner Wohnung. Er hat sich ein Kissen auf die Stufen gelegt, Kaffee gemacht, grüßt die vorbeilaufenden Nachbarn und genießt ansonsten die vormittägliche Ruhe. Er weiß, diese währt nicht lange. Spätestens wenn die Sonne unter- und die Lichter angehen, wandelt sich sein Viertel. Dann ziehen die Touristengruppen durch seine Straße, pinkeln die ersten an die Hausecke und dringt das Gegröle der Feiernden in sein Wohnzimmer.

    Ruge wohnt mitten auf dem Kiez. In einem Stadtteil, der sich nicht nur jeden Tag von einem Wohn- in ein Amüsierviertel verwandelt. St. Pauli verändert sich, seit es St. Pauli gibt. Doch vieles von dem, was sich in den vergangenen Jahren getan hat, geht Ruge mächtig gegen den Strich. Die immer neuen Billigläden und Kioske, die die kleinen Kneipen kaputtmachten, die Touristenführer, die den hinterhertrabenden Horden „hanebüchenes Zeug“ erzählten, die Besuchergruppen, die das Verruchte „irgendwie geil“ fänden, aber dann vor der Herbertstraße stünden und über Prostituierte und Freier lachten. Diese ganze Ballermannisierung eben. Doch jetzt geht es um ein Thema, das keine Partytouristen ins Viertel geschleppt haben, sondern das ausgerechnet von St. Paulianern selbst kommt: Der Stadtteil soll immaterielles Kulturerbe der Unesco werden. Eine Idee, die St. Pauli als ganz besondere Einheit präsentieren soll – stattdessen aber für viel Streit sorgt.

    „Das Ganze wirkt wie eine riesige PR“, sagt Michel Ruge. „Ich frage mich, welche Konsequenzen dieser Antrag für die Anwohner haben wird und wem er eigentlich nützen soll, außer den neuen großen Playern auf St. Pauli.“ Seiner Ansicht nach solle ein Bild des Stadtteils kreiert werden, das in starkem Widerspruch zur Wirklichkeit steht. Ein politisch korrektes, in dem das Rotlicht, alteingesessene Gastronomen und gestrandete Existenzen keinen Platz mehr hätten. Genauso wenig wie die „echten St. Paulianer“, zu denen auch der 48 Jahre alte Ruge gehört.

    Sein Vater war Zuhälter, seine Mutter arbeitete in einer Bar, mit zwölf ging er das erste Mal ins Bordell. Ruge hat den Spiegel-Bestseller „Bordsteinkönig“ über seine Jugend auf St. Pauli geschrieben, er ist hier nicht nur aufgewachsen, er ist mit diesem Biotop, in dem jeder sein und machen durfte, was woanders nicht möglich war, verwachsen. Heute sei das gekippt, sagt Ruge, und die Kulturerbe-Bewerbung werde nur noch mehr Touristen, schneller steigende Immobilienpreise und Ver­drängung bringen. Für alles, was den Stadtteil einst ausmachte.

    „Der Nimbus von St. Pauli speiste sich auch und vor allem aus den 70er- bis 80er-Jahren und den Rotlichtgeschichten aus dieser Zeit, die in der Darstellung der Initiatoren allerdings kaum bis gar keine Rolle spielen“, sagt Ruge, der mehrfach betont, dass er nicht der Sprecher des Rotlichts sei und sich selbst bewusst gegen das Gewerbe entschieden habe. „Ich will da nichts schönreden“, sagt er. Doch er kann auch nicht zulassen, dass das Geld heute mit dem weltweiten Ruf St. Paulis als Rotlichtviertel, mit seiner „verruchten Seele“ gemacht werde – und man genau diese gleichzeitig zerstöre. Und stattdessen das Bild, das Partytouristen von dem Viertel haben, zum Kulturgut erheben lassen wolle.

    St. Pauli ist, für Ruge, also ein Stadtteil, der definitiv Schutz braucht, aber nicht von der Unesco. Sondern vor Initiativen wie der hinter der Bewerbung.

    Julia Staron sitzt im Klubhaus St. Pauli mit Blick über den Spielbudenplatz und genießt ebenfalls die vormittägliche Ruhe – ihr Handy bleibt gerade mal still. Seit sie und ihre Mitstreiter mit der Welterbe-Idee um die Ecke kamen, muss sich die 47-Jährige viel anhören. „Wir führen viele kritische Gespräche, viele davon sind auch sehr konstruktiv“, sagt sie. „Andere poltern dagegen nur – einige wollen sich ihre eigene Bühne bauen.“

    Die Quartiersmanagerin des BID Reeperbahn und Mitgesellschafterin des Clubs Kukuun gehört zu den Initiatoren des Vorhabens, das sich die Projektgruppe „Große Freiheit am Tag des offenen Denkmals“ bei einem Treffen nach dem ein oder anderen Bier ausgedacht hat. Schnell kamen erste Unterstützer dazu, darunter Olivia Jones, Corny Littmann, Kiez-Fotograf Günter Zint, das St. Pauli Museum, der Bürgerverein und die St. Pauli Kirche. Doch auch die Anfeindungen ließen nicht lange auf sich warten. „Es gibt Feindbilder, die jetzt rauskommen“, sagt Staron. „Wir haben aber nie gesagt, ,Touris kommt alle her‘ oder ,Rotlicht, hau ab‘.“ Und noch bekannter könne der Kiez ja nun auch gar nicht mehr werden. Der Kulturerbe-Titel könnte laut Staron vielmehr dazu führen, dass St. Pauli international nicht nur als überdimensionierte Partyzone, sondern vielfältiger wahrgenommen werde.

    Erste Erkenntnis: Von Toleranz muss man sich verabschieden

    Momentan zeigt sich die Vielfalt allerdings in entgegengesetzten Vorstellungen. „Es gibt hier sehr widersprüchliche Interessensgruppen, und alle beanspruchen die Deutungshoheit“, sagt die gebürtige Hamburgerin, die im Westen der Stadt aufgewachsen ist und seit zehn Jahren auf dem Kiez lebt. „Es gibt ein paar Fronten, die sehr verhärtet sind.“ Doch genau in diesen Gesprächen sieht die Frau mit den kurzen wasserstoffblonden Haaren die große Chance des Vorhabens. „Ich habe die Hoffnung, dass wir über die Auseinandersetzung miteinander am Ende eine stärkere Einheit werden“, sagt Staron. „Das wäre das Wichtigste – wenn wir das schaffen, ist mir persönlich auch total egal, ob der Antrag überhaupt bis zur Unesco kommt.“

    Bis dahin ist es ohnehin noch ein weiter Weg, der bereits schon auf den ersten Metern ernüchternde Erkenntnisse gebracht hat. St. Pauli sei nicht nur ein Ort, sondern eine Haltung, die auf Akzeptanz und Toleranz fuße, hieß es noch auf der Pressekonferenz im Juni. Dies sei die kulturelle Einzigartigkeit, die einen Welterbe-Titel verdiene. Von dem Begriff Toleranz hat man sich jedoch bereits verabschiedet. „Momentan ist für uns der Faktor Freiheit das Entscheidende“, sagt Staron. „Das ist nichts, was ich anderen gebe, wie Toleranz, sondern was ich mir nehme.“ Ein großer Unterschied, wie man jetzt merkt.

    Dass mangelnde Toleranz die Freiheit aber durchaus einschränken kann, hat Ekkehart Opitz erfahren. Der Betreiber des Erotic Art Museums musste kürzlich ein Plakat aus dem Schaufenster entfernen, auf dem eine barbusige Lisa Simpson zu sehen war. „Ein junger Vater, der hier seit ein paar Jahren lebt, hat sich massiv beschwert und meine Mitarbeiterin bedroht“, erzählt der 51-Jährige. Zu ihrem Schutz habe er die Comiczeichnung erst mal abgehängt. „Die neuen Bewohner schränken die Freiheit der Kunst ein“, sagt Opitz, den hier alle nur den Reverend nennen. Doch nicht nur nackte Brüste haben es auf dem Kiez mittlerweile schwer. Der Puff an der Holstenstraße oder der Massagesalon mit „Happy End“ an der Paul-Rosen-Straße hätten aufgrund von Anwohnerprotesten dichtmachen müssen. Übergentrifizierung nennt Opitz das.

    Über die Kulturerbe-Idee zu diskutieren und Forschung zu betreiben findet er grundsätzlich nicht verkehrt – vielleicht werde dadurch ja eine Klientel angelockt, die sich für Kultur interessiert. Doch es dürfe niemand, so wie das Rotlicht, ausgeklammert werden. Opitz will sich in dem Prozess auf jeden Fall einmischen. Die Frage nach der Identität des Viertels kann man schließlich nicht nur andere beantworten lassen.

    Um Antworten zu finden, will die Initiative 30.000 bis 40.000 Fragebögen ausfüllen und vor allem auswerten lassen. Dafür gibt es eine wissenschaftliche Leiterin, die durch Spenden finanziert wird, doch die Anträge für Zuschüsse durch die Stadt laufen bereits. Man wird weitere Wissenschaftler brauchen, um am Ende einen Kulturbegriff zu definieren, für den St. Pauli steht und den die Unesco anerkennen soll. Mitmachen bei der Befragung dürfen Bewohner und Gewerbetreibende, aber auch Kiezbesucher aus der ganzen Welt. Auch ein Punkt, der bereits für Kritik sorgt.

    „Wir brauchen auch den Blick von außen“, hält Quartiersmanagerin Staron dagegen. „Das wird aber später gefiltert und getrennt ausgewertet.“ Bis Oktober 2019 muss der offizielle Kulturerbe-Antrag stehen, bis Jahresende will man auf jeden Fall die 20.000 St. Paulianer erreicht haben. Hier hänge man noch hinterher, ausklammern, das sei ausdrücklich betont, wolle man aber niemanden. Und am Ende – auch das wohl schon ein Eingeständnis – dürften nur die St. Paulianer darüber abstimmen, ob die Bewerbung wirklich eingereicht wird.

    Den Fragebogen bereits weggeworfen hat Horst Schleich, seit stolzen 44 Jahren Eigentümer vom Crazy Horst an der Hein-Hoyer-Straße. So ein Titel würde ihn zwar schon stolz machen, sagt er, eigentlich. Doch genau wie Michel Ruge hat auch der 73-Jährige die Sorge, dass der Stadtteil „ein Gesicht aufgedrängt bekommt“, das er nicht hat. „Es werden zu viele Menschen befragt, die keine Ahnung haben“, sagt Schleich mit seiner Reibeisen-Stimme. „Das macht das Ganze künstlich.“

    Schleich hält von einigen Initiatoren nicht viel, und das scheint eines der Hauptprobleme zu sein. So hält auch Rotlicht-Größe Kalle Schwensen mit seiner Ablehnung nicht hinter den Berg. Auf Facebook erklärt er, wie er das „löbliche Ansinnen“ eigentlich unterstützen wollte, dann aber schnell davon abgekommen sei. „Weltkulturerbe St. Pauli – ein schöner Gedanke!“, schreibt Schwensen. „Beim Gedanken an die Initiatoren graust mir!“

    St. Pauli, das sich in seiner Geschichte als Schmuddelkind der Nation immer gegen Angriffe von außen wehren musste, hat anscheinend gerade vor allem mit sich selbst zu tun. Mit einer gemeinsamen Haltung, die auch der Unesco gefällt, könnte es also schwer werden.

    Dabei kann St. Pauli so gut zusammenhalten, wie das Beispiel Silbersack zeigt. Anwohner, Stammgäste, die Interessengemeinschaft St. Pauli, der Bürgerverein und eine Facebook-Initiative setzen sich für den Erhalt der legendären Kneipe ein, die 2012 nach dem Tod der Gründerin geschlossen wurde – mit Erfolg.

    Vielleicht kann der neue Pächter Dominik Großefeld die ganze Aufregung auch deshalb nicht verstehen. „Im Sinne einer ergebnisoffenen Umfrage sollte noch niemand an dem Punkt sein, zu glauben, ob es richtig oder falsch ist, sich zu bewerben“, sagt er. „Denn einer der wichtigsten Aspekte, der St.Pauli ausmacht, ist das leben und leben lassen.“

    Kaum einem hier, wenn nicht sogar niemandem, gefalle alles, so Großefeld. Die einen störten die Großveranstaltungen, die anderen das Cornern oder zu laute Clubs und die Dritten das Rotlicht. „Ich kann über all diese Kritik nur schmunzeln“, sagt der 33-Jährige. „Denn alles gehört irgendwie zum großen Ganzen dazu, und irgendwie finden es am Ende des Tages ja auch alle schön hier und wollen bleiben.“

    Bleiben wird natürlich auch Michel Ruge. „Ich fühle mich als Bewahrer dieses Stadtteils“, sagt er. Darum will er weiter für „sein St. Pauli“ kämpfen – das ist sein persönliches Erbe.