Seit 20 Jahren unterstützt die Tennislegende mit ihrer Stiftung „Children for Tomorrow“ Therapien für traumatisierte Mädchen und Jungen. Peter Wenig sprach mit ihr über die Not in Slums, den Kampf gegen Vorurteile und ihren Abschied vom Tennis

    Etwas ängstlich schreitet das kleine syrische Kind auf die Bühne, kneift die Augen zusammen: „Das Licht blendet so.“ Steffi Graf (49) erhebt sich von ihrem Sitz in der zweiten Reihe des Theaters Haus im Park in Bergedorf und bittet das Mädchen: „Schau mich an, nicht nach oben in die Scheinwerfer.“ Als die Generalprobe am Sonnabend endet, klatscht niemand lauter als die siebenmalige Wimbledon-Siegerin.

    Zwei Wochen durften 20 Flüchtlingskinder mit dem Bundesjugend­ballett proben, am gestrigen Sonntag führten sie das Stück zweimal auf. Unterstützt wurde das Projekt von der Stiftung „Children for Tomorrow“, gegründet 1998 von der Weltklasse-Sportlerin. Nach der Generalprobe sprach das Abendblatt mit Steffi Graf.

    Frau Graf, als Sie vor 20 Jahren Ihre Stiftung gründeten, wurde Gerhard Schröder Bundeskanzler, US-Präsident Bill Clinton stolperte fast über eine Affäre mit einer Praktikantin, und in Deutschland wurde die Rechtschreib­reform eingeführt. Was ist Ihre ganz persönliche Erinnerung an dieses Jahr 1998?

    Steffi Graf: Oh, das ist wirklich lange her. Ich laborierte 1998 noch an den Folgen einer schwierigen Knieoperation aus dem Oktober 1997 in Wien. Vor der OP konnte ich kaum noch richtig gehen, die Verletzung war falsch diagnostiziert worden. Es war ungewiss, ob ich nach dem Eingriff überhaupt noch Tennis spielen kann. Ich habe dann 1998 nach einem Jahr Pause doch mein Comeback gefeiert. Aber dieser Weg zurück war hart. Sehr hart.

    Löste diese Verletzung den Impuls aus, sich mit dieser Stiftung ein Ziel für die Zeit nach der Karriere zu setzen?

    Nein, diese Gedanken hatte ich schon deutlich früher. Ich war in meiner aktiven Zeit öfters in Hamburg, nicht nur durch das Turnier am Rothenbaum, sondern auch privat durch Besuche bei Bekannten. Irgendwann habe ich Prof. Peter Riedesser (einer der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendpsychiater, der 2008 im Alter von nur 63 Jahren starb, die Red.) kennengelernt, ein unglaublicher charismatischer Mensch. Er hat mir von seiner Arbeit mit Flüchtlingskindern erzählt, die vom Krieg traumatisiert sind, und mich auf seine Station ins UKE eingeladen.

    Ihr erster Eindruck?

    Schon der erste Besuch war sehr berührend. Die Kinder haben im Krieg Schreckliches erlebt. Viele konnten einen nicht anschauen, waren völlig verschlossen, jede Freude in ihnen war erloschen. Dank der intensiven Therapie konnte Prof. Riedesser ihnen helfen. Da habe ich für mich entschieden, dass ich diese Arbeit unterstützen will.

    Ihre erste gemeinsame Auslandsreise führte Sie 1999, also direkt nach Ihrer Karriere, in die Elendsviertel von Kapstadt.

    Ich habe in den Slums Kinder gesehen, die mit zwei Jahren missbraucht und regelmäßig geschlagen wurden. Hilflose Mütter, die ihre Kinder einfach auf der Straße ausgesetzt haben, fünfjährige Mädchen hatten Säuglinge im Arm. Ein Mädchen hatte schwerste Brandverletzungen, die Eltern hatten es auf eine brennende Müllkippe geworfen. Und trotz der schrecklichen Gewalterfahrungen habe ich bei vielen Kindern das Strahlen in den Augen gesehen. Sie waren nicht verloren, es gab Hoffnung, wenn man ihnen denn hilft. Nach Kapstadt hat uns eine Kunststudentin begleitet, die mit den Kindern gemalt und gezeichnet hat. Viele von ihnen hatten zuvor weder Farbe noch Stifte gesehen.

    Nach dem Flüchtlingsstrom 2015 hat sich vielerorts in Europa die Stimmung gedreht. Es gibt inzwischen offene Ausländerfeindlichkeit. Wie beeinflusst dies die Arbeit Ihrer Stiftung?

    Ich verstehe, dass die Situation viele besorgt. Aber wir kümmern uns um die seelischen Wunden der Kinder und Jugendlichen, die vor Gewalt und Zerstörung in ihren Heimatländern geflüchtet sind. In unserer Ambulanz sind die meisten Jugendlichen alleine ohne Eltern hier angekommen und viele sagen, dass die Flucht noch schlimmer war als der Krieg. Niemand verlässt freiwillig seine Familie, setzt sich den Gefahren der Flucht aus und flieht in ein unbekanntes Land. Diese Kinder und Jugendlichen sind die unschuldigsten Opfer, darum ist es unsere Verantwortung, ihnen zu helfen. Und gerade die psychische Heilung der Wunden ist essenziell für ihre Entwicklung und Integration. Die öffentliche Diskussion hat aber geholfen, dass wir in den letzten Jahren neue Freunde und Förderer gefunden haben, ohne die wir unsere Projekte nicht umsetzen könnten. Die Menschen wissen, dass wir seit 20 Jahren erfolgreiche Arbeit leisten, entsprechend groß ist die Unterstützung. Schauen Sie sich hier die Proben an. Hier studieren Kinder verschiedenster Nationalitäten und Religionen gemeinsam ein Stück ein. Das überwindet Vorurteile, die zum Glück in diesem Alter noch nicht so ausgeprägt sind.

    Aber auch diese Kinder können sehr negative Erfahrungen machen. Möglicherweise werden sie wegen ihrer Herkunft in der Zukunft angefeindet.

    Ich mache andere Erfahrungen. Wenn ich hier Einrichtungen für Flüchtlinge besuche, sehe ich eine Welle der Hilfsbereitschaft, unglaublich viele Menschen, die sich engagieren, ihre Freizeit opfern, um anderen zu helfen. Das finde ich großartig.

    Manche Helfer fühlen sich aber auch von der Politik im Stich gelassen.

    Natürlich kann man bei der Bewältigung der Aufgaben jede Unterstützung, auch die der öffentlichen Hand, gebrauchen. Staatliche Hilfen, wie zum Beispiel zur Finanzierung zusätzlicher Dolmetscher, wäre absolut wünschenswert. Wir brauchen sie dringend für unsere Arbeit. Ich würde mir aber auch wünschen, dass wir unsere Erfahrungen mit traumatisierten Kindern häufiger weitergeben können, damit es zukünftig mehr therapeutische Hilfe für sie geben wird.

    Auf den Schlauchbooten bei der Flucht über das Mittelmeer spielen sich immer wieder Dramen ab, auch viele Kinder ertrinken.

    Es stimmt, wir registrieren immer mehr Traumata durch schreckliche Erlebnisse bei der Flucht. Ein 16-jähriges Mädchen aus Afghanistan hat im Schlauchboot sein sechs Monate Baby verloren und wollte nicht mehr leben. Wir haben der 16-Jährigen in der Therapie wieder Hoffnung gegeben, sie möchte jetzt Krankenschwester werden. Wir beobachten ohnehin, dass viele unserer Kinder und Jugendlichen in helfende Berufe möchten.

    Mit HonigHelden haben Sie ein eigenes Projekt für Kinder im Grundschulalter gegründet. Warum setzen Sie schon so früh an?

    Traumata sollten möglichst schnell behandelt werden, umso erfolgreicher ist die Perspektive. Wir haben uns nach Gesprächen mit der Schulbehörde die Grundschule Osterbrook in Hamm ausgesucht, weil hier besonders viele Flüchtlingskinder zur Schule gehen. Wir können den Kindern Gruppen- und Einzeltherapien geben, beraten auch die Eltern und bieten Fortbildungen für die Lehrer an.

    Abendblatt: Und wieso HonigHelden?

    Honig ist überall beliebt. Und die Kinder sind unsere Helden. Außerdem steckt dort noch das HH für Hamburg drin (lacht).

    Wie binden Sie Ihren Mann in die Arbeit Ihrer Stiftung ein?

    Andre kümmert sich vor allem um seine Projekte in Sachen Bildung für Kinder. Aber natürlich reden wir über die Stiftung.

    Ihre Kinder Jaden und Jaz sind jetzt 16 und 14 Jahre alt. Wissen Ihre Kinder, was Sie beide in Ihren Stiftungen machen?

    Ja, unsere Kinder sehen uns viel stärker in Verbindung mit unseren Projekten als mit dem Sport. Unsere Karrieren liegen für sie viel zu lange zurück. Wir sind für sie darum eigentlich mehr durch unsere Engagements als durch den Sport vertraut.

    Spielen die beiden auch schon gut Tennis?

    Mein Sohn hätte das Talent, aber er spielt lieber Baseball.

    Spielen Sie eigentlich noch? Mit Ihrem Mann hätten Sie ja den idealen Partner.

    Wir haben eine Zeit lang noch bei Schauturnieren gespielt, um Geld für unsere Projekte zu sammeln. Aber das geht körperlich bei mir einfach nicht mehr. Sie werden uns wohl nicht mehr bei öffentlichen Tennisevents auf dem Platz finden.

    Wie haben Sie den Wimbledon-Sieg von Angelique Kerber erlebt?

    Am Fernseher in Las Vegas, den zweiten Satz habe ich komplett gesehen. Und ich habe mich total für sie gefreut, ein wirklich schöner Erfolg! Auch über den Halbfinaleinzug von Julia Görges habe ich mich sehr gefreut.

    Kerbers Gegnerin Serena Williams ist mit 36 Jahren als Mutter wieder mit Erfolg in den Tenniszirkus zurückgekehrt. Denken Sie manchmal, Sie haben mit 30 Jahren zu früh aufgehört?

    Was Serena leistet, ist phänomenal. Aber ich würde eher mit Ja antworten, wenn Sie mich fragen würden, ob ich nicht zu spät aufgehört habe.

    Viele Fußballprofis trauern ihrer Karriere hinterher, sagen, sie hätten noch länger spielen müssen.

    Das finde ich schade für sie. Nein, das war für mich nie ein Gedanke. Als ich meine schwere Knieverletzung hatte, wollte ich unbedingt noch einmal zurückkommen. Das Kapitel Tennis war für mich noch nicht abgeschlossen. Mit meinem Sieg 1999 bei den French Open und dem dann folgenden Erreichen des Wimbledon-Finals war es dann aber. Der Abstand zum Sport kam für mich unheimlich schnell, und ich hatte nie mehr das Gefühl, noch mal den Schläger in die Hand nehmen zu wollen.

    Sie waren ja auch schon extrem früh dabei. Im Alter von 13 Jahren und vier Monaten wurde Sie bei der WTA, der Vereinigung der professionellen Tennisspielerinnen, gemeldet. Wahnsinn …

    Es war sicherlich kein normales Leben. Und wenn ich heute mein Tochter sehe, denke ich manchmal, ,was habe ich in deinem Alter schon alles gemacht?‘ Aber es ist jetzt alles gut, wie es ist. Das Gefühl, meinem Sport alles gegeben zu haben, gab mir Ruhe und den Frieden, die Sportkarriere hinter mir zu lassen. Wenn ich jetzt hier sitze und mein bisheriges Leben Revue passieren lasse, kann ich nur von Glück sprechen. Und dankbar sein.

    Helfen Ihnen die Aufs und Abs im Leben einer Weltklasse-Athletin heute bei Ihrer Arbeit in der Stiftung?

    Ja, definitiv, ich gebe nicht auf, ich sehe immer das Ziel. Ich will weiter alles versuchen, damit die Wartelisten für unsere Therapien kürzer werden.

    Sie haben sehr viel Leid in der Arbeit für Ihre Stiftung gesehen. Macht Sie das im Alltag gelassener?

    Ich kann mich immer noch aufregen. Aber es stimmt, ich sehe jetzt vieles in einer anderen Relation. Und ich kann besser meinen Frieden mit einem Tag machen, an dem nicht alles so geklappt hat.