In Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung schätzen Menschen immer stärker dieses Gefühl tiefer und wahrer Verbundenheit. Ein Gespräch mit fünf Hamburgern

    Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen. Was der Hamburger Dichter Gorch Fock einst so wunderschön formulierte und was seit bald 70 Jahren auf der Titelseite des Abendblatts verankert ist, spüren viele Menschen heutzutage besonders intensiv. Doch was macht dieses zeitlose Gefühl tiefer, wahrhaftiger Verbundenheit aktueller denn je? Weltweite Netzwerke hin, Globalisierung her.

    Wir unterhalten uns mit fünf kernigen, norddeutschen Typen, die etwas dazu zu sagen haben. Für diese Stamm-tischrunde wurde ein passender Ort gewählt: die Seemannskneipe Zum Schellfischposten am Altonaer Fischmarkt. Für viele Gäste ist das urige Lokal mit mehr als 100 Jahren Geschichte auf dem Buckel ein gutes Stück Heimat.

    „Heimat ist dort, wo ich mich wohl-fühle und zu Hause bin“, sagt Wirt Uwe Müller. Der 69 Jahre alte Kapitän auf großer Fahrt, der die Pinte gemeinsam mit der ihm seit Jahrzehnten angetrauten Ulla betreibt, fuhr 27 Jahre als Lotse durch den Hamburger Hafen und schätzt es, schnörkellos auf den Punkt zu kommen.

    Nicht lang schnacken ist ebenfalls das Ding seines Kumpels Gerhard Backhus. Selbst Freunde kennen ihn kaum unter diesem Namen. Alle Welt sagt „Backe“. Bleiben also auch wir dabei, nicht nur wegen der beiden Gerhards am Tisch. Backe ist 83 Jahre alt, aber im Her-zen jung. Sagt Uwe. Beide segeln seit 27 Jahren gemeinsam auf der Elbe. Die Herren kennen sich also bestens. Backe arbeitete früher 38 Jahre bei der Hamburger Berufsfeuerwehr, zuletzt als Hauptbrandmeister. Noch zwei Jahre länger ist er mit seiner Inge verheiratet. Als Geburtsort steht in seinem Personalausweis: „Altona, jetzt Hamburg“. Ohne Witz. So einer weiß, was Heimat ist – und wie sich das anfühlt.

    „Ich bin in Altona zutiefst verwur-zelt“, stellt Backe klar. „Wenn du dort jeden Meter und die Mentalität der Menschen kennst, spürst du Verbundenheit und fühlst dich geborgen.“ Das ist Heimat. Daheim mit Inge in Ottensen, beim Pils im Schellfischposten und am Elbufer Höhe Strandperle spüre er diesen beglückenden Kitzel besonders innig.

    Zeit für die Damen am Stammtisch, sich einzumischen. „Ich liebe dieses heimatliche Gefühl, wenn ich aufs Wasser gucke“, sagt Undine Schaper. Die Verlegerin des vor 25 Jahren gegründeten Magazins „Land & Meer“ ist Hamburgerin in siebter Generation. In Övelgönne aufgewachsen, wohnt sie heute in Neumühlen. „Ich bin also 200 Meter weit gekommen“, ulkt sie. Ihr Heimatmagazin werde auch von Abonnenten gelesen, die inzwischen weit weg leben. Und die oft Sehnsucht nach dem Norden haben. Heimweh eben. „Das habe ich schon, wenn ich drei Wochen aus Hamburg weg bin“, sagt Frau Schaper.

    Es sei alles andere als ein Zufall, fährt die 56-jährige Hanseatin fort, dass „Heimathafen“ sich zu einem modernen Wort entwickelt habe – weit über die ursprüngliche Bedeutung hinaus.“ Aus ihrer Sicht geht es um Rückbesinnung, um eine Art Stalldrang im besten Sinn des altbackenen Wortes.

    Dass Heimat aktuell ein großes, angesagtes Thema ist, bestätigt Cornelia Ehlers aus eigener Erfahrung. Die 35 Jahre alte Dramaturgin ist in Kellinghusen bei Itzehoe aufgewachsen und lebt seit 16 Jahren mit kurzer Unterbrechung in Hamburg, derzeit mit ihrem Lebensgefährten in Altona-Nord. Das plietsche Nordlicht arbeitet als Dramaturgin und Leiterin der Studiobühne im Ohnsorg-Theater. Plattdeutsch bezeichnet sie als ihre Muttersprache, Hochdeutsch als Vatersprache. Beides habe sie im Blut.

    Bevor sie ihre These vom zunehmenden Wert des Heimatbegriffs darstellt, ergreift Gesprächspartner Nummer fünf das Wort. Gerhard Litzki steht mit seiner Bürstenbude seit 1972 auf dem Isemarkt Höhe Jungfrauenthal und ein bisschen kürzer auf dem Markt in Groß Flottbek. Als ambulanter Einzelhandelskaufmann bietet der 67 Jahre alte Drogist rund 1000 verschiedene Bürsten und Besen feil. Die Stammkundschaft weiß: Der Mann ist ein Unikum, eine Persönlichkeit mit Herz und Charakter. Wer also seit 46 Jahren in Hamburg mittenmang ist und schon als Kleinkind Anfang der 1950er-Jahre am elterlichen Textilstand auf dem Fischmarkt gewickelt wurde, muss ein Ohr für Volkes Stimme haben.

    „Ich bin ein Meinungsforschungsinstitut auf zwei Beinen“, sagt er. „Hochrechnungen gehören dazu.“ Und mit welchem Ergebnis, Herr Litzki? „Dass die Leute Heimat wieder als wertvolles Gut verinnerlicht haben“, entgegnet er, „ganz anders als vor ein paar Jahren.“ Heimat sei wieder ein Thema, über das die Menschen sprechen.

    „Somit verbucht unser Stammtisch zwei Zwischenergebnisse“, sagt Uwe Müller. Er wohnt seit 46 Jahren im Bezirk Altona. Und nicht nur wegen seines Kapitänspatents wurde er einvernehmlich zu einer Art Diskussionsleiter bestimmt. Also: Erstens ist Heimat ein Gefühl. Und zweitens ist Heimat zeitgemäßer denn je. Kopfnicken in der Runde. Die Kellnerin bringt ein Tablett mit Nachschub: Kaffee, Alsterwasser, Astra vom Fass. Prost!

    Nach einer kurzen Künstlerpause geht die Debatte weiter. Was ist Heimat eigentlich, über ein Gefühl hinaus? Wie kann man das Wort quasi anfassen? „Es hat etwas mit sesshaft und Ankerwerfen zu tun“, meint Backe. Er beteiligte sich im Museumshafen ehrenamtlich an der Restaurierung der alten Schiffe. Auch das sei Heimat für ihn.

    Weitere Stichworte, bitte schön. Heimat sei nicht unbedingt an einen Landstrich gebunden, meint Undine Schaper: „Auch auf meinem kleinen Se-gelboot kann ich Heimat spüren.“ Uwe Müller fragt augenzwinkernd, welche Rolle deutsches Liedgut für heimatliche Gefühle spiele. Ist dieses gegeben, wenn er sich als HSVer im Volksparkstadion an der Hymne „Hamburg, mein Perle“ erfreue? Da gibt’s unterschiedliche Auffassungen. Gut so.

    In einem Punkt dominiert Einigkeit: Heimat hat eine Menge mit der Sprache zu tun. Vier am Stammtisch beherr-schen prima Platt, Frau Schaper Mis-singsch. Dass dieses Quintett automa-tisch per Du ist, liegt wohl an der zünftigen Umgebung. Schließlich steht das Motto in großen Buchstaben über der Theke: „Ob jung oder alt, ob arm oder reich, im Schellfischposten sind sie alle gleich.“

    „Ich bin im Norden verwurzelt“, bestätigt Cornelia Ehlers. „Der Menschenschlag ist mir nahe, und Plattdüütsch öffnet die Herzen.“ Sie glaubt, man müsse nicht unbedingt nur eine Heimat haben. In ihrem Fall seien es Schleswig-Holstein und Hamburg. Jetzt erklärt sie, wie das Ohnsorg-Theater Heimat als Thema würdigt(e). Zum Beispiel im zurückliegenden Frühjahr mit „Allens Düütsch­ – oder wat?“ und mit „Buten vör de Döör“ (Wiederaufnahme im November). Beide Male geht es um Heimat. Die Intendanz habe gezielt nach dazu passenden Stücken gesucht.

    Ähnlich spannend sei „Ankamen – an(ge)kommen“ auf der Studiobühne. Am 10. Juni ging’s ursprünglich los, am 25. August startet das Stück erneut – siehe auch unten. Die Rollen übernehmen nicht professionelle Schauspieler, sondern lange in Hamburg lebende Vertriebene aus Ostpreußen, Schlesien oder Russland. Mit ihren eigenen Worten geben sie wieder, wann und wo man sich wie zu Hause fühlt. Und was dabei besonders half?

    Was meinen die anderen in der munteren Runde? Ist Heimat heute wichtiger denn je? „Ja!“, antwortet Backe. „Man weiß Gewohnheiten wieder zu schätzen.“ Wenn man aufwacht und aus dem Schlafzimmer in den Garten gucke und einen vertrauten Baum betrachte, könne diese Kleinigkeit bereits Heimatgefühle auslösen. „Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft spielt eine enorme Rolle“, ergänzt Uwe Müller. „Heimat ist meist da, wo man geboren ist“, sagt Undine Schaper. Andererseits müsse Heimat nicht unbedingt zu Hause sein. Es komme auf eine vielschichtige Betrachtung an. „In raueren Zeiten nimmt die Bedeutung von Wurzeln zu“, meint Gerhard Litzki.

    Uwe Müller bringt Heimatminister Horst Seehofer ins Gespräch. Sofort geht’s rund am Tisch. „Seine Heimat ist doch nur Bayern“, flachst Backe. „Bei jedem löst der Begriff Heimat etwas anderes aus“, sagt Cornelia Ehlers. „Jahrelang war das Wort ,Heimat‘ verpönt.“ Derzeit registriere sie eine Rückbesinnung. Frau Schaper sieht es ähnlich: „Heimat- und Vertriebenenverbände galten lange Zeit als altmodisch.“ Gerhard Litzki gibt an, Heimat gut zu finden. Herr Müller betrachtet das differenziert: „Vor der Flüchtlingsdiskussion wäre kaum einer auf die Idee gekommen, über Heimat sprechen zu wollen.“ Aus seiner Sicht gibt es Leute, die den Begriff missbrauchen. Er wiederholt seine Einstellung: Grundsätzlich ist Heimat – gerade auch in Zeiten der Globalisierung - ein wichtiges und gutes Gefühl, das jedoch wachsen müsse.

    Noch eine Runde, bitte. „Es ist schön, wenn man weiß, wo man zu Hause ist“, sagt Cornelia Ehlers. Das betrachten die anderen ebenso. „Was aber nicht heißen soll: Bei mir zu Hause darf jetzt keiner mehr rein“, fügt die Theaterfrau hinzu. Erneut nicken die anderen.

    Zum Ausklang erzählt Undine Schaper von ihrem Onkel Harald, der 1958 von Nienstedten nach Australien ausgewandert ist. „Dort machen er und seine Frau heute auf alte Heimat – mit Dirndl, Lederhose, Sauerkraut und deutschen Clubs.“ Gelächter am Stammtisch. Mit der ursprünglichen Heimat Hamburg habe das nicht viel zu tun.

    Beim Stichwort Übersee steuert Uwe Müller eine Begebenheit aus seiner Zeit auf hoher See bei. Am Kai von Takoradi war das, in Westafrika. „Give me one Hamburg water, please“, bat ein schwarzer Hafenarbeiter die deutsche Besatzung. Klar, dass der durstige Mann die gewünschte Buddel „Hamburger Wasser“ der Marke Holsten erhielt. „Da hatte ich plötzlich ein heimatliches Gefühl“, erinnert sich Uwe Müller noch heute.