1902 eröffnete August Piefo die Amerika-Bar auf dem Spielbudenplatz. Heute steht nur noch die Fassade des Hauses. Ein neues Buch erinnert an die Zeit

    Wer heute den Spielbudenplatz entlanggeht, blickt zwischen dem Schmidt Theater und dem Tivoli auf eine Art potemkinsche Fassade, dahinter ist eine Baulücke. Das war früher einmal anders. Auf dem Grundstück mit der Hausnummer 26 gab es früher ein Varieté-Theater, dann wurde dort zehn Jahre lang Gefrierfleisch verkauft, auch ein Schwimmbad erfreute die St. Paulianer.

    1902 hatte an dieser Stelle die Hamburg-Amerika-Bar eröffnet. Sie war das erste Etablissement ihrer Art in Deutschland, in dem man diese neumodischen amerikanischen Getränke – Cocktails – bestellen konnte. Zusammengeschüttelt und -gerührt wurden sie von weiblichen Mixern – auch diese Berufsbezeichnung kannte man bis dahin nicht. Sogar der Begriff „Bar“ für den Tresen war neu. Seitdem mischt Hamburg bei diesen Getränken kräftig mit.

    Ein historisches Foto der Bar zeigt einen lang gestreckten, hohen Raum, an dessen rechter Seite zwölf Mixerinnen hinter der Bar, die man damals „Riesenbuffet“ nannte, auf ihre Kunden warteten. An der Tür stand ein dunkelhäutiger Page. An der Decke sieht man noch die Stuckverzierungen des vorher als Varieté betriebenen Etablissements.

    Besitzer August Piefo hatte die 24 Stunden täglich geöffnete Bar in fünf Tageszeitungen mit Annoncen beworben. Er pries sie darin als „größte Bar Deutschlands“, versprach „goldene Reflexe, blendende Lichter“, eine „Zi­geuner-Capelle“ sorgte für die musikalische Untermalung. Mit Postkarten warb Piefo zusätzlich für seine neue Bar. Die eigentliche Attraktion aber waren die neuartigen Getränke, die Cocktails, oder wie es damals hieß: „American-Fancy-Drinks“. „Wer vorübergeht, ohne einzukehren in dieser Bar, ist ein ,Bar-Bar‘“, ulkte damals der Kollege von der „Neuen Hamburger Zeitung“.

    Die Drinks damals waren den heutigen nicht unähnlich

    Betreiber Piefo war ein ziemlich bunter Hund. Zunächst arbeitete er als Journalist. Dann wurde er Manager eines bekannten Ringers. Anschließend bewarb er eine schusssichere Weste, den „Doweschen Panzer“. Seit Mitte der 1880er-Jahre war er Theaterdirektor im Tivoli am Schulterblatt, im Eden auf St. Pauli, im Varieté am Spielbudenplatz und am Hornhardt’s an der Reeperbahn.

    Recherchiert hat all diese Fakten Christian Huck. Er schreibt darüber in einem Kapitel seines neuen Buchs „Wie die Populärkultur nach Deutschland kam“, das Pfingstmontag in Hamburg vorgestellt wurde. Der Autor, Professor am Englischen Seminar der Universität Kiel, wohnt selbst auf St. Pauli („zwei Straßen weiter“) und stieß auf die wechselvolle Geschichte des Grundstücks. „Man könnte ein eigenes Buch allein über das Haus machen“, sagt er. St. Pauli befand sich in der damaligen Zeit im Umbruch. Es gab dort erste Kinovorführungen, und elektrische Lampen lösten die alten Gaslaternen ab.

    Die Drinks, die man in der Bar bestellen konnte, waren den heutigen nicht unähnlich. Der Konsum war damals stark nach Geschlechtern getrennt. Frauen tranken Sekt oder Champagner auf Eis. Männer genossen harten Alkohol – Whisky, Gin und Brandy – mit Eis und Zucker. Die Cocktails hießen Cobbler, Sour, Julep, Flipp, Fix, Smash oder Daisy. Ihre Zutaten fand man zum Beispiel im 1901 veröffentlichten „Hand­habe und übersichtliches Receptbuch sämtlicher Getränke der Gegenwart“. Verwendet wurden auch exotische Zutaten wie Südfrüchte und Angostura. Ein weiteres Muss war die Verwendung von Eis. „Ein eisgekühltes Getränk im Angesicht tropischer Hitze oder in einem heißen Saloon in den Südstaaten zu konsumieren wurde zum Triumph über die Beschränkungen der Natur“, schreibt Huck und ergänzt: „Mit Eis (und Zucker) wurde der Genuss von Alkohol zur Sensation – und zum Triumph. Warmes Bier und feuriger Branntwein, die gewöhnlichen Getränke der Deutschen (und Engländer), hatten (amerikanische) Konkurrenz bekommen.“

    Die Kunden waren vor allem junge, weiße Männer

    Bei aller Exklusivität war der Spaß, den die Hamburg-Amerika-Bar ihren Kunden anbot, nicht unerschwinglich. Der Abendblatt-Vorläufer „Hamburger Fremdenblatt“ machte darauf aufmerksam, dass alle Bevölkerungsschichten angesprochen werden sollten: „Wir wollen hier zugleich ganz besonders noch darauf aufmerksam machen, daß Niemand den Besuch der Amerika-Bar zu scheuen braucht, weil er die kostspieligen American Drinks fürchtet, mit der Bar ist zugleich ein Restaurant und Bierschank, sowie auch ein Café verbunden. Zu den civilsten Preisen gelangt z. B. das Hammonia- und das Lederer-Bräu zum Ausschank, auch der Kaffee ist nicht theurer als in jedem anderen Café.“

    Die Kunden waren überwiegend junge bis mittelalte weiße Männer. Piefo erkannte das und schaltete zum Beispiel 1908 in den „Hamburger Nachrichten“ eine Anzeige, mit der er eine „Weihnachtsabend-Feier für Junggesellen“ bewarb. Die Kundschaft fand in der Hamburg-Amerika-Bar neue Rahmenbedingungen vor. „Wer hierherkam, der konnte die mit seiner Person verbundenen Erwartungen ein Stück hinter sich lassen“, schreibt Huck. „Anders als dies etwa im vornehmen Members Club, aber auch in der damals vorherrschenden Eckkneipe im Viertel der Fall war, wo sich alle kannten – und Fremde oft rigoros ausgegrenzt wurden.“

    Die Kunden hatten natürlich auch ein Auge auf die Bedienung geworfen. „Die Damen gaben der Ware hinter der Bar nicht nur Erotik. Die Bardamen waren wichtig für das, was in der Bar möglich war“, so der Autor. Die Begegnung fand, anders als bei den am Tisch sitzenden Gästen, auf Augenhöhe statt. „Der Umgang mit Unbekannten wurde so zum Vergnügen, etwas, worauf man Lust bekam.“

    Huck hält Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen mit Berlin für einen Vorreiter der Amerikanisierung. „Hier war Amerika als Sehnsuchtsort sehr präsent. Den Anzeigen der Hamburg-Amerika-Linie in den Tageszeitungen konnte man damals gar nicht entgehen.“

    In den 1980er-Jahren wurde das Gebäude abgerissen

    1901 hatte die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag) eröffnet. Viele Auswanderer verließen Europa über Hamburg, um per Schiff in die „Neue Welt“ zu reisen und dort ihr Glück zu versuchen. Fast jeden dritten Tag ging ein Schiff vom Hamburger Hafen Richtung USA. „Amerika versprach ein Ende des Mangels und der Strapazen, versprach Fülle und Freiheit“, schreibt Huck.

    Schon im 19. Jahrhundert hat sich die Reise- und Abenteuerliteratur mit dem American Way of Life auseinandergesetzt. Dann wurden Großstadtdetektive in Groschenromanen populär. Aus Anlass der Weltausstellung 1904 (Louisiana Purchase Exhibition) ließ Kaiser Wilhelm II. in den USA das Schloss Charlottenburg dort neu aufbauen, um Deutschland zu repräsentieren. „Amerika wurde wichtig“, so Huck.

    Die Hamburg-Amerika-Bar blieb bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges ein wichtiger Ort im Nachtleben rund um die Reeperbahn. In den 1980er-Jahren wurde das Gebäude abgerissen. Seitdem gähnt hinter der Fassade die Leere. Cocktails aber sind von den Karten von Bars, Kneipen und Restaurants nicht mehr wegzudenken.