Die deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan huldigen dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan. Damit erweisen sie dem Fußball einen Bärendienst. Eine Analyse von Matthias Iken

Die Mannschaft“, so nennt sich die deutsche Fußballelf seit dem Triumph in Brasilien kurz und treffend. Die Mannschaft. Ein Wort mit Wucht. Es ist zum einen der Anerkennung im Ausland geschuldet, etwa wenn Franzosen über „La Mannschaft“ staunen. Zum anderen beschreibt das Wort den Imagewechsel der Nationalelf, die sich einst mit deutschen Tugenden durch große Turniere ins Finale rumpelte, hin zu einer Mannschaft von Technikern, einer Multikulti-Truppe mit unterschiedlichen Charakteren, Nationalitäten, Religionen.

Was im modernen Deutschland längst selbstverständlich klingt, wäre vor 20 Jahren einer Sensation gleichgekommen: Damals gewann Frankreich die Fußball-WM mit einem Multikulti-Kader. Und wie kommentierte der dama­lige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder diesen Sieg? „Hätten wir 1918 die deutschen Kolonien nicht verloren, hätten wir heute in der Nationalmannschaft wahrscheinlich auch nur Spieler aus Deutsch-Südwest.“ Deutschland 1998 war manchmal skurriler, als es die „heute-show“ aus dem Jahr 2018 ist.

Fußball war und ist immer auch politisch. Vom „Wunder von Bern“ 1954 bis zum Kabinenbesuch der Kanzlerin 2010 führt ein gerader Weg. Nun aber fliegt der Ball in eine überraschende Richtung: Die deutschen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan haben Sport und Politik, Fans und Gesellschaft unmittelbar vor ihrer erwarteten WM-Nominierung verstört. Die beiden Mittelfeldstars ließen sich am Sonntag im Londoner Luxushotel „Four Seasons“ vom umstrittenen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan hofieren. Özil und Gündogan überreichten dem Präsidenten, der sich im Juni zur Wiederwahl stellt, Trikots ihrer englischen Vereine FC Arsenal und Manchester City. Gündogan signierte sein hellblaues Trikot mit der Nummer acht sogar mit der seltsamen Widmung: „Mit großem Respekt für meinen Präsidenten.“

Mein Präsident? Ist Recep Tayyip Erdogan ins Schloss Bellevue umgezogen? Oder hat Ilkay Gündogan, geboren und aufgewachsen in Gelsenkirchen, ein Integrationsdefizit? Das würde gerade bei ihm überraschen, der sich bis dato besonnen geäußert hatte. 2013 erklärte er der „FAZ“, ihm sei es inzwischen gelungen, „die türkischen Landsleute zu überzeugen“. Es gebe sehr viele Menschen, die ihm sagten: „Auch wenn du für Deutschland spielst, wir sind stolz auf dich.“ Nun ist vor allem Erdogan stolz auf seinen Wahlkampfcoup.

Auch Özil hat mit dem geschenkten Trikot viele vor den Kopf gestoßen. Bislang hatte der Gelsenkirchener beteuert: „Über Politik rede ich nicht.“ Wer einen Pass über 50 Meter spielen kann, muss nicht zwangsläufig ein Politikexperte sein. Özil hatte die Klippen, die hinter diesem Thema lauern, stets umschifft. „Ich habe sowohl Angela Merkel als auch Erdogan schon treffen dürfen“, sagte er im vergangenen Jahr der „Bild“: „Aber ich bin kein Politiker, sondern Sportler. Daher will ich mich nicht einmischen.“

Diese Haltung ist durchaus verständlich. Menschen mit Migrationshintergrund wurzeln in zwei Kulturen, Deutschtürken empfinden deutsch und türkisch zugleich. Fußballer sind auch nur Menschen.

Ihre Loyalitäten sind aber nicht nur ein umstrittenes Thema in der eigenen Familie, sondern ein Streitfall zwischen Ländern: Allein die Frage, für welche Nationalmannschaft ein junger Spieler aufläuft, bewegt die Massen – und sorgt für Ärger. Lange rivalisierten Deutschland und die Türkei um den Dortmunder Mittelfeldstrategen Nuri Sahin. Der entschied sich 2005 für die Türkei und schoss als 17-Jähriger gleich im ersten Länderspiel ein Tor – gegen Deutschland. Mesut Özil hingegen war einer der ersten Deutschtürken, die sich bewusst für die Mannschaft entschieden.

Zusätzliche Brisanz bekommt die Wahlhilfe für Erdogan durch das belastete deutsch-türkische Verhältnis und die Politik des türkischen Staatspräsidenten, der die Werte des Deutschen Fußballbundes wie Toleranz und Fair Play konterkariert. Erdogan hat die Pressefreiheit in seinem Land beschnitten, Journalisten und Oppositionelle verhaften lassen. Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel saß ein Jahr lang wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ in türkischer Untersuchungshaft. Er war der bekannteste, aber nicht der einzige politische Gefangene: Mehr als 150 Journalisten sitzen im Gefängnis. Seit dem gescheiterten Putsch im Jahr 2016, nach dem der Ausnahmezustand verhängt wurde, wurden Dutzende Medienunternehmen geschlossen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen hat den Auftritt der Nationalspieler mit dem türkischen Präsidenten deshalb kritisiert. Scharf reagierte der Deutsche Fußball-Bund und rief seine Stars zur Ordnung. Teammanager Oliver Bierhoff äußerte Unverständnis und kündigte eine Aussprache mit dem Duo an, das spätestens im WM-Trainingslager in der kommenden Woche in Südtirol stattfinden dürfte. „Die beiden waren sich der Symbolik und Bedeutung dieses Fotos nicht bewusst, aber natürlich heißen wir die Aktion nicht gut und besprechen das mit den Spielern“, sagte Bierhoff. „Ich habe nach wie vor überhaupt keine Zweifel an Mesuts und Ilkays klarem Bekenntnis, für die deutsche Nationalmannschaft spielen zu wollen und sich mit unseren Werten zu identifizieren.“

Gündogan sagte, bei der Veranstaltung einer türkischen Stiftung in London hätten Özil und er sich zu einer „Geste der Höflichkeit“ gegenüber dem „Präsidenten des Heimatlandes unserer Familien“ entschlossen: „Es war nicht unsere Absicht, mit diesem Bild ein politisches Statement abzugeben, geschweige denn Wahlkampf zu machen.“ Und weiter: „Aus Rücksicht auf die derzeit schwierigen Beziehungen unserer beiden Länder haben wir darüber nicht über unsere sozialen Kanäle gepostet.“

Wie alarmiert man beim DFB ist, zeigt die Aussage von DFB-Chef Reinhard Grindel. „Der Fußball und der DFB stehen für Werte, die von Herrn Erdogan nicht hinreichend beachtet werden“, schrieb er bei Twitter. „Deshalb ist es nicht gut, dass sich unsere Nationalspieler für seine Wahlkampfmanöver missbrauchen lassen. Der Integrationsarbeit des DFB haben unsere Spieler mit dieser Aktion sicher nicht geholfen.“

Genau hier liegt ein weiteres Pro­blem – und das ist ein deutsches Pro­blem: Bislang galt die Mannschaft zu Recht als Musterbeispiel für Integration: Sie gibt dem millionenfachen ehrenamtlichen Engagement auf deutschen Sportplätzen ein strahlendes Gesicht. Jugendmannschaften leisten enorme Anstrengungen bei der Integration, in allen Klassen spielen deutsche und ausländische Spieler Seit’ an Seit’, sie gewinnen gemeinsam und verlieren gemeinsam.

Bei großen Turnieren zeigt sich die integrative Kraft des Fußballs. Dort kombinieren sich die Özils und Gündogans mit den Kroos und Müllers in die Herzen der Fans – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Auf den Fanmeilen fiebern und feiern alle, „Menschen mit Migrationshintergrund“ und „Biodeutsche“, mit ihrer Elf. Beim Fußball entsteht der so oft vermisste gemeinsame Nenner, der Zuwanderer wie Alteingesessene verbindet. Es wächst ein entspannter Patriotismus; gemeinsam singen sie eine Hymne, derer man sich nicht länger schämt; es ist ein Land, das man mögen darf, in dem auch Flüchtlinge begeistert die schwarz-rot-goldenen Farben schwenken.

Für den DFB kommt das Treffen zu einem schlechten Zeitpunkt

Deshalb ist das Treffen mit Erdogan hochpolitisch und hochnotpeinlich zugleich. Der türkische Staatspräsident, der bei seiner berüchtigten Kölner Rede 2010 Assimilation als „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geißelte, will Deutsche und Türken spalten, um die Deutschtürken enger an sich zu binden. Weder Mesut Özil noch Ilkay Gündogan sind Politiker, aber sie haben sich benutzen lassen.

Gerade erst hat Erdogan die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf den 24. Juni vorgezogen: Die Fotos mit Özil und Gündogan sind in seinem Kampf für den Umbau der Türkei zu einem Präsidialsystem hochwillkommen. Rund 1,5 Millionen in Deutschland lebende Türken sind wahlberechtigt, hierzulande ist Erdogan der Wahlkampf untersagt. Da helfen solche Bilder besonders. Es war die AKP, Erdogans Partei, welche die Fotos des Treffens, an dem auch der deutsch-türkische Profi Cenk Tosun vom FC Everton teilnahm, am Montag bei Twitter veröffentlichte.

Cem Özdemir, langjähriger Bundesvorsitzender der Grünen, sagte: „Der Bundespräsident eines deutschen Fußball-Nationalspielers heißt Frank-Walter Steinmeier, die Bundeskanzlerin Angela Merkel und das Parlament heißt Deutscher Bundestag. Es sitzt in Berlin, nicht in Ankara.“ Anstatt Erdogan „diese geschmacklose Wahlkampfhilfe“ zu leisten, betonte Özdemir, „wünsche ich mir von den Spielern, dass sie sich aufs Fußballspielen konzentrieren und noch einmal die Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nachschlagen“. Ein frommer Wunsch. Immerhin: Bislang hat noch niemand gefordert, die beiden Erdogan-Schlachtenbummler aus dem deutschen Kader zu werfen. Das wäre der maximale Triumph für Erdogan.

Für den DFB kommen die Grußadressen an den Sultan in Ankara zu einem schlechten Zeitpunkt: Heute wird Bundestrainer Joachim Löw den Weltmeister Özil und auch Gündogan wahrscheinlich ins Aufgebot für die WM in Russland (14. Juni bis 15. Juli) berufen. Zudem konkurrieren Deutschland und die Türkei um die Ausrichtung der EM 2024.

Vielleicht stehen Mesut Özil und Ilkay Gündogan für die wachsende Entfremdung in Deutschland. Die Debatten der vergangenen Jahre über den Islam, Integrationsdefizite und Terror, haben Deutsche und Migranten entfremdet. Das Einende schwindet, das Trennende wächst; die integrative Kraft der Nationalelf ist nicht nur Erdogan ein Dorn im Auge. Man erinnere an den unseligen Satz des AfD-Politikers Alexander Gauland, der von der EM 2016 in einem Interview über Jérôme Boateng sagte: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“

Das Bild der Integration durch den Fußball hat Splitter bekommen – es wird mancher Tore in Russland bedürfen, das Bild zu reparieren. Aber jubelnde Özil und Gündogan im Adler-Trikot können die Erdogan-Nummer vergessen machen.