Unabsteigbar? Das war einmal. Doch die Liebe der echten Fans zu ihrem HSV ist unkaputtbar. In guten wie in schlechten Tagen – eben so, wie es in einer Ehe sein soll

Dass es an diesem 34. Spieltag passieren würde, nach beinahe 55 Jahren, spüren vermutlich alle, die sich ab der Mittagszeit um die „unabsteigBAR“ herum am S-Bahnhof Stellingen versammeln; dieser infernalisch lauten, dunklen, verrauchten „HSV-Kultkneipe“, in der DJ Oliver Silberstein – vor sechs Jahren verkauften seine Eltern die Gaststätte, die damals noch „Hunger & Durst“ hieß, aber er ist als Relikt geblieben – bereits seit 12 Uhr einen Partyknaller nach dem anderen durch die Lautsprecher jagt. „Ich fühle mich eher als Sozialarbeiter“, sagt Silberstein, „ich muss die Leute schließlich immer wieder aufbauen.“ Er lächelt nicht, als er das sagt. Denn diese Aufbauarbeit ist in den vergangenen fünf Jahren verdammt anstrengend geworden.

Doch bei Mozarts „HSV – du bist meine Frau“ singt das halbe Lokal jede Zeile mit, und die ersten Damen, sie tragen selbstverständlich Trikots, lassen sich auf die kleine Tanzfläche vor der Beamer-Leinwand bitten, auf der dann gleich ab 15.30 Uhr die höchstwahrscheinliche Beerdigung im Volksparkstadion live zu sehen sein wird. Wobei die eigentlichen Totengräber aus Köln kommen, die als Absteiger beim VfL Wolfsburg antreten müssen, dem direkten Mitbewerber um die Chance auf die Relegation.

„Wenn der FC ein frühes Tor gegen Wolfsburg kassiert, war’s das für uns“, orakelt Ralf, der draußen am Bierwagen für sich und seine Kumpels aus Meckelfeld drei Holsten ordert, 0,4 Liter im Plastikbecher für jeweils 4 Euro. Die Tabellenkonstellation sei doch wohl jedem klar, meint er. So wie die zweifelhafte Aussicht aufs Lokalderby gegen den FC St. Pauli in der nächsten Saison. In der Zweiten Liga. Aber noch sei es ja nicht so weit. Noch nicht. Aber fast. Er schaudert und schüttelt sich.

Der 54-Jährige ist ein Kerl wie der sprichwörtliche Kleiderschrank. Bestimmt 2,05 Meter hochgewachsen, so um die 120 Kilogramm schwer, mit dichter silberweißer Haarpracht auf dem Kopf und über der Oberlippe und fleischigen, kräftigen Händen. Zurzeit würde er viel gärtnern und Platten verlegen, erzählt er. Über seinem Trikot baumelt ein mächtiges Silberamulett auf der Brust. Sein Vater habe ihn zum HSV gebracht, als er 14 Jahre alt war, erzählt er, seitdem besitze er seine Dauerkarte. „Ich hab mir jedoch schon ein paarmal überlegt, die Karte zu verkaufen – aber dann habe ich sie immer wieder behalten. Weil du das einfach nicht tust als echter Fan – wenn dein Herz eine Raute ist.“ Ralf lächelt zaghaft, als die drei Bierbecher zwischen seinen Hand­flächen beinahe komplett verschwinden. „Man muss sich nur umgucken“, sagt er, „nach vorne raus tun die meisten cool, aber nach hinten raus bluten ihre Herzen.“

Der Alkohol verstärkt die emotionalen Achterbahnfahrten, denen sich die Fußballfans wie Ralf Woche für Woche immer wieder freiwillig aussetzen. Andererseits hilft er, sich eine so störrische Gattin wie den HSV immer wieder schönzutrinken; er lässt auch die latente Abstiegsangst leichter ertragen, und mit mehreren Bieren im Kopf kommen Durchhalteparolen und Beschwörungsformeln einfach flüssiger über die Lippen, treffen die Analysen der jahrelangen fußballerischen Talfahrt genau ins Schwarze. „Denn der Fakt ist nun mal: Fische stinken am Kopf“, sagt Mario Drifte, der allerdings nur Mineralwasser trinkt und dementsprechend ernüchtert klingt: „Die da oben in der Vereinsführung sind doch alles nur Selbstdarsteller. Sie erhöhen andauernd die Preise, flanieren in ihren schicken Anzügen im Stadion herum – und wir kriegen seit fünf Jahren eigentlich doch nur noch Scheiße zu sehen.“ Dabei seien die Fans des HSV absolut bundesligatauglich. Erstligatauglich. „Die leben und lieben diesen Verein so intensiv – so was wie uns haben die da oben gar nicht verdient.“ Drifte wird seine Kneipe vermutlich umbenennen, „aufsteigBAR“ lautet sein derzeitiger Favorit.

Die Grundstimmung, die fünf Minuten vorm Anpfiff im staubigen Bier­garten unter einer Dunstglocke aus dem Qualm zahlloser hastig gerauchter Zigaretten und schwelender Grillkohle herrscht, setzt sich aus tiefen Depressionen, Trotz, dem Mut der Verzweiflung und einem winzigen Fünkchen Hoffnung zusammen. Genau so muss sich ein zum Tode Verurteilter auf dem Gang hinauf aufs Schafott fühlen, wenn er das Fallbeil erblickt und die Gewissheit erlangt, dass es nun kein Zurück mehr gibt und sein Leben nur noch durch ein Wunder oder die Mächte des Himmels gerettet werden kann.

Vater unser im Fußballhimmel

Dein Ball komme

Dein Spiel geschehe

wie in Wolfsburg als

auch in Hamburg

Vergib uns unsere

schlechte Saisonleistung

wie auch wir vergeben

die eine oder andere

Schiedsrichter-Entscheidung

Führe uns nicht in die 2. Liga

sondern erlöse uns

von dem Abstiegsfluch – Amen

Nur der HSV

Das Plakat mit dem Gebet der Unabsteigbaren hängt jedoch dummerweise an einem Müllcontainer. Und als die Wolfsburger dann nach gerade mal 40 Sekunden gegen Köln mit 1:0 in Führung gehen, fühlen sich auch die letzten Optimisten von Gott verlassen und fangen an, nervös an ihren Fankutten zu nesteln und ihre Smartphones zu verstauen. Einfach nicht mehr hinsehen, nicht mehr hinhören. „Würde“, „wäre“ und „hätte“ sind nun an den langen Holztischen, wo diejenigen sitzen, die nicht ins Stadion marschiert sind, die am häufigsten verwendeten Hilfsverben. Wenn die wahren HSV-Fans außer ihrer grenzenlosen Liebe zum Verein etwas beherrschen, dann ist es der Konjunktiv.

Doch ab jetzt geht es nicht mehr um die absurd hohe Transfersummen für tätowierte Ferrari-Fahrer, die in einem Jahr mehr Geld verdienen als alle ihre Fans auf den Stehplätzen zusammen. Es geht nicht um die langweilige Vorherrschaft des reichen FC Bayern München in der Bundesliga, nicht um die „Entfremdung des Fußballs“ vom sportlichen Grundgedanken und auch nicht um die Vollpfosten im Vereinsvorstand oder den umstrittenen Videobeweis. Das alles ist jetzt „Arschkarte“, wie es hier heißt. Jetzt geht es nur noch um die Ehre, mit einer tadellosen Leistung und hoch erhobenem Kopf aus dem Haus auszuziehen, in dem man knapp 55 Jahre gewohnt hat. Man könnte auch sagen: Gefordert ist ein glaubhafter Liebesbeweis, die der HSV seinen Anhängern nun zukommen lassen sollte. Zur Trauma-Bewältigung.

Der Hamburger Sportjournalist Oliver Wurm, der in den vergangenen Jahren mit seinen ungewöhnlichen Sonderheften über die Deutsche Fußballnationalmannschaft bei Weltmeisterschaften viel zum gesellschaftlichen Aufstieg des Fußballs beigetragen hat, drückt es auf Facebook so aus: „Der HSV sollte heute nur auf sich und seine Fans schauen (...) Heute ist das erste Spiel der neuen Saison. Und sie haben es selbst in der Hand, wie die Stimmung nach 17.20 Uhr ist.“

Wer seinen Verein, den HSV, wirklich liebt, der kann verzeihen. Gerade dann, wenn die Mannschaft unter ihrem neuen Trainer Christian Titz ein hervorragendes, vielleicht sogar das beste Spiel der ganzen verkorksten Saison absolviert und die Gladbacher mit 2:1 zurück an den Niederrhein schickt. Das kann den Abstieg des HSV in die zweite Bundesliga zwar nicht verhindern, aber die neue Spielkultur lässt schon mal den Gedanken an einen sofortigen Wiederaufstieg realistisch erscheinen. „Dann eben nach Sandhausen“, seufzt Andreas (52), der ebenfalls schon mehr als 30 Jahre HSV-Vereinsmitglied ist und vor dem Anpfiff noch lachend behauptet hat, auf keinen Fall zur Beerdigung seines besten Freundes zu gehen, wenn die auf einen Spieltag fallen würde. Doch jetzt glitzern Tränen in seinen Augen, als er seinen leeren Plastikbecher achtlos neben sich auf den Boden wirft. Dann überrascht der Speditionskaufmann aus Bramfeld mit einer durchaus kritischen Sichtweise seiner extremen Liebe zum HSV: „Eigentlich bin ich ja bekloppt, weil ich mich immer wieder dazu hinreißen lasse, mich dem Verein gegenüber zu unterwerfen und viel Geld für den Mist auszugeben, den die seit Jahren zusammengespielt haben. Aber das ist für mich wie ein Abhängigkeitsverhältnis – so wie die Beziehung mit einer Frau, die andauernd nur Scheiße baut – mit dem Unterschied, dass ich mich in so einer Ehe, die nur schiefläuft, längst vom Acker gemacht hätte. Aber die Kutte jetzt ausziehen – nee, das geht einfach nicht.“

Sportwissenschaftler wie Prof. Harald Lange, Leiter des Instituts für Fankultur in Köln und Würzburg, sprechen daher inzwischen auch weniger von Liebe als von Abhängigkeitsverhalten. „Der Fußball bildet eine Gegenwelt zum durchorganisierten Arbeits- und Familienleben, wo so etwas Subjektives, Gefühlsgeleitetes häufig keinen Platz hat“, sagte er in einem Interview mit dem ZDF, „doch wer sich in ein Fußballspiel hineinsteigert, kann extreme Freude und Leidenschaft erleben, ohne dass er persönliche Nachteile fürchten muss.“

Tatsächlich ändert sich durch Spielstände im realen Leben des wahren Fußballfans nichts, außer dass er zumeist weniger Geld für andere Leidenschaften ausgeben kann. Aber Siege und Niederlagen haben keinen Einfluss auf seine berufliche Karriere oder das Verhältnis zu seinen Lebenspartnern und Kindern, Verwandten und Freunden. „Wer sich in einer Beziehung in seine Gefühle stürzt, macht sich verletzbar, denn er könnte verlassen werden. Wer seinen Traumjob ergattert, muss Angst haben, ihn eines Tages wieder zu verlieren. Fußball dagegen bleibt immer nur Fußball, und das ermöglicht es den Fans, sich ihren Emotionen beim Zuschauen gefahrlos voll hinzugeben – Woche für Woche“, sagt Sportwissenschaftler Lange.

Von solch psychologischem Gedöns möchte Ralf in diesem Moment vermutlich nichts wissen. Drinnen in der „unabsteigBAR“ hat „DJ Ollie“ Lotto King Karl aufgelegt, „Wir haben verloren“, und das sieht man dem Hünen an, der nun draußen in der Sonne vor dem Lokal auf einem Stuhl zusammengesunken mit mehreren anderen gestandenen Männern im Kollektiv schluchzt. Diejenigen, die ihre Partnerinnen dabeihaben, werden von ihnen getröstet. Ralf sieht in diesem Moment ziemlich klein und sehr verwundbar aus, aber gerade diese Empathie macht ihn groß. Überhaupt wird seine Zuversicht wohl schon bald zurückkehren. Denn die bekannte Fußballweisheit „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ gilt ja vor allem auch für Fans.