Das im Taschen-Verlag erschienene „Murals of Tibet“ ist ein logistisches Meisterwerk. Es gibt nur 998 Exemplare – und eine besondere Entstehungsgeschichte

Auf dem Höhepunkt ihrer Reise lag die weiße Pergamentseite, die an einem Donnerstagabend in der Buchhandlung Wrage nahe dem Bahnhof Hamburg Dammtor ausgestellt ist, auf einem Holztisch im Haus des Dalai Lama im indischen Dharamsala.

Hier in Hamburg ist sie nun Teil eines Buches, von dem es nur 998 Stück gibt. In jedem einzelnen der 23 Kilogramm schweren Exemplare (den Begleitband nicht eingerechnet) hat der Dalai Lama unterschrieben. Jedes einzelne wird mit einem eigenen Tisch geliefert, weil man beim Halten sonst Rückenschmerzen bekäme. 10.000 Euro kostet es, Porto extra. Bei der abendlichen Buchvorstellung lobt der ausrichtende Buchhändler dementsprechend nicht etwa den Einband aus sibirischem Birkenholz oder die vergoldeten Seitenränder. Stattdessen sagt er ehrfürchtig, während er in Sandalen auf dem Teppichboden eines stuckverzierten Raumes steht: „Ich freue mich, dass wir dieses Buch zu Gast haben.“

Den Gast, das Buch, veröffentlicht der Kölner Verlag Taschen. Es heißt „Murals of Tibet“ und zeigt auf 498 Seiten Fotografien von Wandgemälden der buddhistischen Tempel und Klöster Tibets. Es ist das erste Mal, dass Menschen die Gemälde, die teilweise Unesco- Weltkulturerbe sind, so hochauflösend anschauen können.

Doch bis das Buch auf den Markt kam, vergingen fast 20 Jahre. Im Jahr 2000 kam dem US-amerikanischen Fotografen und Journalisten Thomas Laird eine Idee. Immer wieder hatte er den Dalai Lama interviewt und gefragt, woher er sein Wissen über die Geschichte Tibets habe. Immer wieder habe der Dalai Lama gesagt: „Ein Mönch hat mir das anhand eines Wandgemäldes erklärt.“ Laird war fasziniert. Er wollte anderen diese Welt eröffnen.

Aber die Fotografie war noch nicht weit genug, die teils gigantischen Flächen einzufangen – eine der Malereien ist dreieinhalb Meter breit und neun Meter hoch. In den Nullerjahren wurde die Fotografie digitaler, und Laird sah einen Weg: Statt nur ein Bild machte er bis zu 100 Bilder der gleichen Malerei und legte die einzelnen Aufnahmen über- und aneinander. Dafür reiste er einer 1500 Kilometer langen Route entlang des Himalajagebirges, auf der die 15 Tempel und Klöster liegen. Erst vor zwei Jahren schoss Laird das letzte Foto.

Die meisten von ihnen zeigen oft sehr kleinteilige Motive, die auf den ersten Blick grotesk wirken. Auf einem von ihnen sieht man einen Palast, der sich am Fuße einer hügeligen Landschaft in Grün- und Brauntönen befindet. Es ist der Palast der Rakshasas, der menschenfressenden Dämonen aus der indischen Mythologie. Der Palast ist verziert mit menschlichen Überresten, zum Beispiel Lungen oder Herzen.

Das Bild stammt aus dem Lukhang-Tempel in Lhasa, der so etwas wie die Sixtinische Kapelle der Buddhisten ist. Der fünfte Dalai Lama errichtete ihn im 17. Jahrhundert eigentlich exklusiv für seine Nachfolger. Laird durfte eintreten, weil er den aktuellen Dalai-Lama auf seiner Seite hatte.

2010 sprach der Fotograf das erste Mal mit dem Taschen-Verlag über das Buch. Klar, das könne man machen, aber dann solle der Dalai Lama die Bücher auch unterschreiben, fand Verlagsgründer Benedikt Taschen. Also besuchte Laird 2011 seine Heiligkeit – und überzeugte ihn.

Der Dalai Lama unterschrieb für genau 998 Bücher

2012 kehrte er zurück. In Neu-Delhi nahm Laird mehrere insgesamt 450 Kilogramm schwere Stahlkoffer in Empfang, in denen der Taschen-Verlag riesige Pergamentseiten aus Deutschland geschickt hatte – sie sind wasserbeständiger als Papier. Diese sollten später in die fertigen Bücher eingefügt werden. Danach brachte Laird die Fracht zusammen mit einem Logistikunternehmen ins indische Dharamsala, wo der Dalai Lama im Exil lebt. Doch der unterschrieb nur 100 Seiten – aus Vorsicht, wie sie beim Taschen-Verlag glauben. Zu diesem Zeitpunkt war das Buch noch längst nicht fertig, Laird konnte nur einen Bruchteil der Fotografien vorzeigen.

2013: Noch eine Reise. Wieder Unterschriften sammeln. Es gibt aus dieser Zeit ein Foto, auf dem der Dalai Lama in seinem bordeauxroten Umhang an einem Tisch sitzt. Mit einem dicken, blauen Edding unterschreibt er eine postergroße Seite, die zwei Leute festhalten. Fotograf Laird steht im hellblauen Hemd dahinter und schaut ihm vorgebeugt über die Schulter – wie ein Grundschullehrer. Die fertigen Pergamentseiten lagerten danach in einem Safe in Köln, bis sie in Verona mit den dort gedruckten Fotografien zu einem Buch zusammengebunden wurden.

Wieso das geistige Oberhaupt Tibets genau 998 der Pergamentseiten signierte, darüber sind sie sich beim Taschen-Verlag uneinig. „Nach 998 Unterschriften hatte der Dalai Lama keine Lust mehr“, sagt die Geschäftsführerin Marlene Taschen, Tochter des Verlagsgründers. Redaktionsleiter Florian Kob­ler formuliert es mehr Dalai-Lama-like: „Er wollte das nicht auf eine so westliche Art machen, sondern einfühlsamer. Daher 998.“ Vielleicht erklärt der Dalai Lama das bei seinem nächsten Hamburg-Besuch – er ist sehr gern in dieser Stadt.

Kobler kuratierte das Begleitbuch zu dem monströsen Fotoband – wissenschaftliche Artikel, Fotos aus Tibet und Erklärungen zu den Gemälden und Gebäuden. Die Texte schrieben die Tibet-Experten Robert A.F. Thurman, Heather Stoddard und Jakob Winkler.

Wer kauft ein Buch für 10.000 Euro?

Wer „Murals of Tibet“ bestellt, bekommt nicht nur die beiden Bücher. Auch ein Tischchen ist dabei, designt hat es der Japaner Shigeru Ban, der 2014 den renommierten Pritzker-Architekturpreis gewann. Es besteht aus zwölf Papierrollen, die ineinandergesteckt werden.

Bleibt eine Frage: Wer kauft sich, bitte schön, ein Buch für 10.000 Euro? „Mehr Menschen, als man denkt“, sagt Marlene Taschen. Online gebe es jeden Tag mehrere Bestellungen, bis zum Ende des Jahres werde das Buch wohl ausverkauft sein. In Städten, in denen der Verlag einen Laden hat, kommen Mitarbeiter sogar zu den Käufern nach Hause. Denn das Buch wird logischerweise nicht einfach geliefert. Es wird, sagt Marlene Taschen: installiert.