Ein schreibender Koch und ein Gastrosoph sprechen über die Rezepte der Zukunft, die beste Möhre der Welt und den politischen Zweck von Currywurst

Essen machen. Es klingt so alltäglich. So einfach aber ist es dann doch nicht. Oder jedenfalls: So einfach kann es zwar sein, aber es köchelt halt auch viel mit. Kochen ist Kultur, das weiß Stevan Paul, der selbst gelernter Koch ist, aber auch einer der erfolgreichsten Foodblogger Deutschlands und Schriftsteller – als der er dann auch meist über das Essen, den Koch oder den Gast schreibt. Und weil Kochen auch „Verortung und Heimat sein kann, Religion und Sinn, Ritual und Rausch“, hat Paul nun einen Sammelband zum Thema im Hamburger mairisch Verlag herausgebracht. „Die Philosophie des Kochens“ heißt er und tischt dem Leser eine wilde, kluge und appetitanregende Mischung aus Essays auf, zum Geschmack­, zum „Essenmachen als Weltrettungsaktion“, zum Duft von frisch gebackenem Brot, zur Gastro­erotik und zur High-End-Kulinarik. Das Thema hat so viele Facetten, dass wir Stevan Paul und den Hamburger Gastrosophen Harald­ Lemke, der das Nach­denken über das Kochen zu seinem Beruf erkoren hat, an eine Tafel gebeten haben. Zum Essen kam es dabei übrigens nicht, aber es gab frisch gepressten Saft und reichlich Kaffee.

Herr Lemke, was ist denn ein Gastrosoph?

Harald Lemke: Ein Gastrosoph versucht, im Bereich Ernährung einen Blick auf das große Ganze zu werfen. Wir alle beschäftigen uns zwangsläufig täglich mit dem Thema Essen – mir geht es um eine systematische Haltung dazu. Eine solche, gastrosophische Denkweise umfasst alle Aspekte, die mit dem Essen verbunden sind. In diesem Zusammenhang kann man die Philosophie tatsächlich gesellschaftlich nutzbar machen!

Essen ist ja eigentlich etwas Sinnliches. Es hat mit dem Gefühl, eben buchstäblich: dem Bauch, zu tun ...

Lemke: Die Philosophie ist gar nicht so weit weg vom Bauch, wie man denkt. Und natürlich ist das Essen mehr als der Bauch!

Kochen sei „Physik und Glückssache“, hat Ihr Ausbilder einst gesagt, Stevan Paul. Hat er recht?

Stevan Paul: Ja, bis heute ist Kochen Physik und Glückssache! (lacht) Ein bisschen Chemie ist auch dabei. Aber wenn man das Handwerk gelernt hat, beginnt das Denken für mich. Das Fühlen ist ohnehin ein Teil des Kochens.

Herr Lemke, Kochen ist ...?

Lemke: Kochen ist eigentlich nichts Schwieriges. Und zugleich doch superkomplex, deshalb müssen wir das Kochen neu denken. Das hat lange nur begrenzt stattgefunden. Kochen ist Kreativität, es ist Handwerk, aber nicht nur einfache Handarbeit. Wir befinden uns gesellschaftlich in einem Prozess, der das menschliche Handwerk abschafft. Parallel entdecken wir es als Kultur schaffende Leistung neu. Das tägliche Kochen zu Hause ebenso wie in der Gastronomie kann im Zentrum stehen.

Im Buch geht es natürlich auch um die ­Frage, inwieweit Kochen Kunst ist. Also: Ist tatsächlich jedes Kochen Kunst?

Lemke: Will man alltägliche Arbeiten wie das Essenmachen aufwerten, kann man das unter anderem dadurch tun, indem man einen Kunstbezug herstellt. In der Philosophie spielt das Essen oder das Kochen bislang keine große Rolle. Es geht zwar hier und dort ums Essen, bei Platon oder Hegel zum Beispiel. Aber dabei geht es meist darum, das Essen abzuwerten. Es gehöre zum tierischen Teil des Lebens und nicht zum menschlichen Geist. Bei Michel Foucault oder Jürgen Habermas findet das Essen im Denken gleich gar nicht statt. Was in diesem Verschweigen mitschwingt, ist sicher, dass das tägliche Essenmachen traditionell als Frauensache abgetan wird, also als niedrige, unmännliche Tätigkeit. Im zeitgenössischen Kunstgeschehen, anders als in der Philosophie, spielt das Kochen durchaus eine Rolle. Denken wir nur an Daniel Spoerri oder Joseph Beuys und die Documenta-Beteiligung von Ferran Adrià, den Mitbegründer der Molekularküche.

Paul: Für mich wird Essen dann zur Kunst, wenn ich bemerke, dass mich etwas berührt. Eben das ist ja auch das Wesen der Kunst: wenn es mehrere Deutungen zulässt, wenn es unmittelbar berührt, wenn es dich anregt. Beim Betrachten eines Bildes oder beim Hören von Musik passiert unglaublich viel. Das ist beim Essen auch so. Ritual, Nachdenken, Geschichte, ein vom Duft frischen Brots erfüllter Raum.

Zudem kann Essen – egal auf welchem Level – ein hochkommunikativer Vorgang sein.

Paul: Unbedingt!

Lemke: Das ist geradezu entscheidend, denn das Gestalten, die Variationsmöglichkeiten, auch das ist ein Aspekt der Kunst. Das kreierte Essen ist ein Kunstwerk, das auf seine Rezeption wartet. Es ist eine Kommunikation mit demjenigen, der bekocht wird. Man braucht übrigens, wie auch in anderen Kunstformen, ein gewisses Vorwissen, um in den vollen Kunstgenuss zu kommen.

Wann hat es angefangen, dass Kochen und Essen nicht nur satt machen sollen, sondern glücklich?

Paul: In dem Moment, in dem wir durch waren mit dem reinen Versorgungs­kochen, also in den Wirtschaftswunderjahren vermutlich. Da ging es stattdessen los mit der Völlerei. Als ich für mein vegetarisches Deutschland-Kochbuch recherchiert habe, fand ich einen Aspekt interessant: Die Fleisch- und Wurst­küche, für die wir Deutschen international so berühmt sind, begann eigentlich erst dann. Und die ersten Überlegungen für Massentierhaltungen auch. Der Wohlstandsgenuss hat Schattenseiten.

Wir stellen fest: Essen und Kochen ist nicht nur Physik, Chemie und Kunst – sondern auch Politik und Gesellschaft. Möglicherweise eines der größten gesellschaftlichen Themen, die es gibt?

Lemke: Allerdings. Wir sollten das Essen und die Ernährungswende als Zukunftsaufgaben wirklich ernst nehmen. Essen ist komplex und die unscheinbare Lösung zu vielen Problemen unserer Zeit.

Paul: Kochen und Essen ist ja außerdem eine hochindividuelle Sache. Wir lassen viel an uns heran – aber was lassen wir in uns hinein? Essen wird ja buchstäblich zum Teil von uns. Man ist wirklich, was man isst! Dazu gehört auch die Entwicklung, dass sich viele Leute darüber definieren, was sie kochen und essen, dass sie sich entsprechend in den sozialen Medien darstellen. Dazu gehört der Trend der Selbstoptimierung, Essen als Ersatzreligion.

Herr Lemke, denken Sie nur über das Essen nach – oder essen Sie selbst gern?

Lemke: Och, doch, ja ...

Die Antwort kommt jetzt ein bisschen zögerlich ...

Lemke: Richtig, aber ich will das erklären. Zu sagen, dass man als Genussmensch oder Gourmet vor allem für das Essen lebt, ist ein bekanntes Distinktionsmittel. Da würde ich mich nicht anschließen. Ich koche jeden Tag, aber nicht aus Selbstverwirklichungsgründen. Es ist für mich eine Aufgabe, ich nehme mir die Zeit dafür.

Paul: Ich koche dauernd. Ich beschäftige mich rund um die Uhr mit Essen und Genuss. Für mich ist es sehr meditativ, zu Hause zu schneiden. Meine Frau sitzt am Küchentisch, ich schnipple, wir ­erzählen uns, das ist großartig. Und ich koche selbstverständlich auch für mich allein.

Was ist, kulinarisch gesehen, für Sie eine Sünde? Was geht aus Ihrer Sicht überhaupt nicht?

Paul: McDonald’s zu besuchen – das wäre für mich wirklich nur in einer Notsituation denkbar. Ich versuche tatsächlich, möglichst wenig Mehrkomponenten­essen zu essen. Also: Sobald die Indus­trie daran gebastelt hat, ist das für mich sehr kritisch. Ich versuche beispielsweise, eine Gemüsebrühe selbst zu machen. Dann weiß ich, was drin ist – und es ist so einfach! Damit sind wir bei einem ganz wichtigen Punkt. Man muss den Leuten beibringen zu kochen. Jahrelang haben wir gesagt: Esst weniger Fleisch! Aber wenn die Leute weniger Fleisch essen sollen, muss man ihnen an die Hand geben, was sie stattdessen kochen sollen. Sogar viele Sterneköche haben zu Beginn der Vegetarierwelle vor zehn Jahren oder so nicht gewusst, wie sie das Fleisch aus dem Zentrum ihrer Teller-Überlegungen kriegen sollten. Was kann uns eine Möhre kulinarisch erzählen? Da hat sich irre viel getan – in der Sterne­küche. In guten Restaurants ist das Verhältnis inzwischen ungefähr 80 zu 20. 80 Prozent pflanzlich, 20 Prozent Fleisch oder Fisch. Die Gemüsegänge sind dabei in diesen Restaurants oft die viel spannenderen.

Lemke: In der Spitzenküche entwickelt sich Kochkunst. Auch aus ökologischen Gründen wird es darauf hinauslaufen, dass die Küche mit weniger Fleisch auskommen muss. Es ist eine äußerst erfreuliche Erkenntnis, dass wir gut essen können, ohne Tiere zu essen. Ästhetische Fantasie hilft da mehr als eine ungenießbare Moral des Verzichts. Für mich als Moraltheoretiker eine extrem wichtige Feststellung.

In der großen Politik, so scheint es manchmal, kommt Essen oder Kochen vor allem dann vor, wenn wieder jemand durch den Verzehr von Currywurst Volksnähe simuliert ...

Lemke: Das ist wahr. Dabei boomt Nachhaltigkeit eigentlich. Die Bereitschaft unter den Konsumenten wächst, in der professionellen Küche sowieso. Konservativer Player ist oft die Politik. Dabei sind Ethik und nachhaltiges ­Verhalten sehr einfach, im Bereich ­Ernährung sowieso. Auch die Politik wird sich nicht länger mit einem trotzigen Festhalten an der Currywurst durchwurschteln können.

Paul: Schön gesagt. Ich habe jahrelang gepredigt: Leute, eure Waffe ist der Einkaufswagen. Jeder Einkauf hat Einfluss auf ein Stückchen der Welt, in der du ­leben willst.

Wir sprachen über Essen und Kochen als soziale Unterscheidungsmerkmale. Die „New York Times“ hat sinngemäß geschrieben, „man“ müsse heutzutage, um mitreden zu können, nicht mehr unbedingt den Unterschied zwischen Mozart und Shakespeare kennen, aber zwischen Kuvertüre und Ganache.

Lemke: Aha. Was ist Ganache?

Paul: Kuvertüre ist harte Schokolade, und Ganache ist Kuvertüre mit Sahne cremig gerührt. So ungefähr.

Wenn die Leute also heute in ein Restaurant gehen, wie sie früher in eine Kunstgalerie gegangen sind, entfremdet sich das Thema Ernährung nicht noch weiter von den ­Kunden, die aus finanziellen Gründen beim Discounter einkaufen?

Lemke: Ja, das ist wohl so. Dabei ist es so wichtig, in diesem Bereich einen gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen. Wenn gutes Essen aber zum bloßen Kunstgenuss wird, verspielen wir sehr viel. Am Ende unsere Menschheit und den ganzen Planeten. Ich verstehe zum Beispiel die Veganerschelte nicht. Warum lästern wir über 0,1 Prozent der tapferen Leute, die sich vegan durchschlagen – und mokieren uns nicht über die mehr als 99 Prozent, die immer noch zu viel Fleisch essen und nichts dazulernen wollen?

Paul: In der Preisdiskussion hilft auch nur Bildung und Aufklärung. Dass gutes Essen teuer ist, stimmt so einfach nicht. Würde man viel Gemüse kaufen und eben nur einmal die Woche gutes Fleisch, ist das finanziell machbar. Oder man kauft gleich ein ganzes Huhn – dann muss man bloß wissen, wie man daraus auch fünf, sechs Mahlzeiten zubereiten kann. Es ist wahnsinnig schwer, das zu vermitteln.

Lemke: Und natürlich zahlen wir die 20 Euro, die ein Billighuhn vermeintlich weniger kostet, trotzdem. Nur auf anderem Wege, indirekt. Und vermutlich nicht nur die Differenz, sondern – berechnet man auch die ökologischen Folgen – deutlich mehr. Andererseits ist das billige Essen und das Schlaraffenland des Supermarkts ein tragendes Element unserer Gesellschaft, um andere Entbehrungen des täglichen Lebens auszugleichen. Brot und Spiele, die üppige Kulisse dient dem sozialen Frieden.

Im Buch fällt der Begriff „Kulinarische Intelligenz“. Was ist das?

Paul: Dass man die Zusammenhänge kennt. Das muss gar nicht immer das große Ganze meinen. Das kann auch die Tatsache sein, dass schon die Wahl des Messers einen völlig anderen Geschmack auf den Teller bringt ... Und das begeistert mich!

Wie gefällt Ihnen ein Begriff wie „Foodie“ für Menschen, die sich für gutes Essen begeistern?

Paul: Darauf reagiere ich allergisch. Der Begriff verniedlicht – und dazu ist mir das Thema zu ernst! Wenn ich gefragt werde, was ich bin, sage ich: Kulinariker. Das berührt alle Ebenen. Den Praktiker und den Theoretiker.

Lemke: Vielleicht kommt Stevan Paul ja auch irgendwann dazu, sich „Gastrosoph“ zu nennen. „Foodie“ finde ich ebenso doof wie „Gourmet“ oder „Feinschmecker“.

Paul: Das hat so etwas Klassenbewusstes.

Lemke: Mir macht das Unbehagen, weil damit das ganze Thema ins Geschmäcklerische abdriftet.

Geht man denn als Gastrosoph mal zum Sternekoch? Und sei es nur, um zu recherchieren?

Lemke: Kann ich mir gar nicht leisten. Vielleicht kommen wir irgendwann dazu, dass Kochkunst, wie andere Kunstformen ja auch, staatlich subventioniert werden ... Dann vielleicht.

Paul: Spitzengastronomie ist ja nicht nur abgehoben, sondern kann auch absolute Nachhaltigkeit bedeuten. Saisonalität, Regionalität. Wenn man in Berlin ins Nobelhart & Schmutzig geht, ein Restaurant mit einem Michelin-Stern, kann es passieren, dass man einen Teller bekommt, auf dem sich ein Streifen, ein kleiner Streifen!, Ente findet. Sonst nichts. Perfekt gebraten, serviert mit einer Jus, die nichts ist als reduzierter Rote-Bete-Saft. Bäm! Fantastisch! Aber was machen die Leute? Beschweren sich. Das gilt auch für eine Vorspeise, die nur aus einer Möhre mit Sauerrahm besteht. Ist leider die beste Möhre, die du je ­gegessen hast. Und der Sauerrahm – oh, Mann! Alles von regionalen Erzeugern und Zulieferern, die nachhaltig und ­bewusst wirtschaften. Es wird schon viel nachgedacht und auch viel richtig ­gemacht – in der Breite kommt es trotzdem als Affront an.

Lemke: Ich träume von einer Alltagskultur des guten Essens, nicht von exaltierten Episoden. Wir brauchen bessere Alltagsküche. Die Spitzenküche brauchen wir vielleicht als Impulsgeber.

Dann eine alltagsnahe Frage: Welche Lebensmittel haben Sie denn immer im Haus?

Paul: Im Kühlschrank immer Senf. In der Küche immer Knoblauch und Zwiebeln. Und wenn du dann Nudeln hast und ein Öl – dann hast du schon ein Gericht. Oder ich kaufe gutes Brot und gute Tomaten. Fertig ist das Abendessen. Manchmal ist es so einfach. Wenn man ein gutes Produkt hat, braucht man nicht mehr so viel Tamtam.

Lemke: Ich kaufe das meiste frisch, habe aber immer Marmelade da, für Salatsoßen. Dazu Brot, Butter oder Margarine, Doppelkekse und veganen Brotaufstrich.

Paul: Und weißt du was? Diese Aufstriche kann man sehr einfach selbst ­machen! Man muss nur wissen, wie.