Der Dieselskandal beschert Deutschlands größtem Autoverwerter eine Flut fast neuwertiger Wagen: 6000 statt 4000 Autos im Jahr. Der Gebrauchtwagenmarkt leidet – die Umweltprämie bringt vor allem der Autoindustrie selbst neue Aufträge. Ein Besuch in Norderstedt

Der Winter schickt mit ein paar kräftigen Böen seine letzten Abschiedsgrüße über das 68.000 Quadratmeter große Freigelände. Aber es ist nicht der Wind, der einem die Tränen in die Augen treibt, sondern es ist der Anblick eines Audi S4 Automatik mit Vollausstattung, Baujahr 2008, silbermetallic, scheckheftgepflegt, null Rost, Kilometerstand 112.345, der von einem Drei-Liter-Sechszylinder-Diesel der Euro-Abgasnormstufe 4 mit gut 300 PS angetrieben wird. Die Sitze, das Lederlenkrad und der Schaltknüppel mit dem genoppten Lederknauf sind schon ausgebaut.

Nico Z. (21), Student der Volkswirtschaft, liegt im Wageninneren auf dem Rücken und müht sich, jetzt auch den schwarzen Himmel abzumontieren, den er seinem eigenen A4 spendieren will. „Der schwarze Himmel zählt zur höchsten Ausstattungsstufe“, ächzt er, und fügt dann hinzu: „Irgendwie ist es ein Jammer, dass so ein geiles Auto verschrottet wird.“ Mit 112.345 Kilometern sei ein Dieselmotor dieser Güte doch gerade mal aus der Pubertät raus.

Zurzeit warten noch 700 weitere Dieselfahrzeuge auf dieser Art Sonderparkplatz vor dem flachen Kiesow-Verwaltungsgebäude auf ihre vorzeitige Hinrichtung. Darunter befinden sich mehrere Dutzend Fahrzeuge der oberen Mittelklasse, etwa der VW-Touareg und der T 5-Multivan von Volkswagen, Mercedesmodelle der E- und M-Baureihen, Audis der Typen A4 bis A6 sowie ein paar Fünfer-BMW. Doch die Mehrzahl bilden doch Kleinwagen und Modelle der unteren Mittelklasse. All diese Autos eint jedoch, dass sie vorwiegend zwischen 2004 und 2008 vom Band gelaufen waren und von Selbstzündern angetrieben wurden, deren Katalysatoren der Euro-4- und 5-Norm die strengen Abgaswerte der Euro-6-Norm nicht erfüllen. Gerade für die sechs Millionen Dieselfahrzeuge, die mit dieser Schadstoffklasse unterwegs sind, wird es jetzt eng, obwohl sie mit modernster Abgasreinigungs-Technik nachrüstbar wären.

Allerdings weigern sich mehr als drei Viertel ihrer Besitzer, die etwa 1500 bis 2000 Euro, die für Umbauten an der elektronischen Motorsteuerung und für neue Katalysatoren fällig würden, aus eigener Tasche zu zahlen. Mehr als die Hälfte von ihnen würde sogar eine Klage gegen den jeweiligen Hersteller erwägen, um eine Rücknahme des Autos und die Rückerstattung des Kaufpreises zu erreichen, wenn die von zahlreichen Städten bereits angekündigten Fahrverbote tatsächlich verhängt würden und die Hersteller die Kosten für die Nachrüstung nicht übernehmen (Quelle: YouGov Meinungsforschungsinstitut). Gleichzeitig macht die EU-Kommission in Brüssel erheblich Druck auf Deutschland, kritisiert scharf die zum Teil stark erhöhten Stickoxidwerte in Ballungszentren und droht mit drakonischen Strafen.

Tim Kiesow (36), Geschäftsführer der gleichnamigen Autoverwertungsfirma, hat in den vergangenen Monaten bereits viele Interviews gegeben. Vor ein paar Tagen erst hat er sich jedoch ziemlich darüber geärgert, als ihn eine Boulevardzeitung auf Seite eins zu „dem Gewinner des Abgasskandals“ erklärt hatte. „Dass wir von der Umweltprämie auch zum Teil profitieren ist ja klar. Trotzdem muss ich das aber nicht auch für sinnvoll halten, was insgesamt passiert“, sagt Kiesow. „Wahrscheinlich wäre es energetisch sinnvoller, so manches Auto, das erst 80.000 Kilometer auf dem Tacho hat, noch mehrere Jahre zu betreiben, anstatt es vorzeitig stillzulegen, auszuschlachten und zu verschrotten. Ich kann jedenfalls bestätigen, dass wir wohl noch nie eine so gute Qualität an Kraftfahrzeugen reinbekommen haben.“

So um die 2000 Autos mehr, die wenigsten davon wirklich schrottreif, als die üblichen 4000 bis 4500 Kfz, die bei Kiesow pro Jahr endverwertet werden, sind seit Juli des vergangenen Jahres auf den Hof des Unternehmens gerollt. Das sind weitaus weniger als die rund 16.000 zusätzlichen Autos, die im Jahre 2009 verschrottet wurden, als der Staat im Rahmen des Konjunkturpakets II einmalig 2500 Euro für den Kauf eines Neuwagens spendiert hatte. „Die jetzige Umweltprämie ist aber nicht sinnvoll“, sagt Kiesow, „jedenfalls nicht im Sinne der Umwelt. Die Leute haben nur Angst vor dem Wertverlust – das ist der Hauptgrund, warum sie ihr Auto vorzeitig weggeben.“ Kiesow weiß, wovon er redet: Der Gebrauchtwagenmarkt leidet derzeit heftig, doch der Handel mit Gebrauchtfahrzeugen ist auch ein Geschäftsfeld seiner Firma.

Warum VW trotz Dieselskandal einen Rekordgewinn macht

Die neuesten Zahlen dürften Kiesows These stützen: Nur jeder zwölfte Autofahrer, der sich bisher auf den Deal mit der Umweltprämie einließ, entschied sich für einen Neuwagen mit alternativem Antrieb wie Elektro, Hybrid oder Erdgas. Die anderen tauschten bloß ihren alten in einen neuen Verbrennungsmotor der neuesten schadstoffarmen Generation um und verzichteten so auch auf eine weitere „Umstiegsprämie“ vom Staat in Höhe von bis zu 4000 Euro, beispielsweise für den Kauf eines Elek­troautos. Das hat mit Umweltfreundlichkeit vermutlich herzlich wenig zu tun. Doch allein der Volkswagen-Konzern, der von allen Herstellern zweifellos die sattesten Eintauschprämien an seine Kunden zahlt (bis zu 10.000 Euro für einen VW-Touareg oder einen Audi Q 7), hat bisher fürs frühzeitige Ausdieseln von 150.000 älteren Autos gesorgt. Jetzt wird klar, warum die Wolfsburger trotz des imageschädigenden Dieselskandals im vergangenen Jahr ein Rekordergebnis erzielen und ihren Nettogewinn mehr als verdoppeln konnten. Nach eigenen Angaben verbuchte man 2017 einen Gewinn von rund 11,4 Milliarden Euro (2016 waren es nur 5,1 Milliarden Euro gewesen). Der konzernweite Umsatz stieg gegenüber dem Vorjahr ebenfalls mit 230,7 Milliarden Euro um 6,2 Prozent an.

„Bis vor Kurzem kriegten wir täglich etwa 30 Autos rein, jetzt sind es vielleicht gerade noch fünf“, sagt Kiesow. Schon bald, am 31. März soll die Umweltprämie auslaufen, aber, so der Unternehmer, „es wird in der Branche gemunkelt, dass diese Gelddruckmaschine für die deutsche Autoindustrie eventuell ganz kurzfristig noch einmal um drei Monate verlängert werden könnte. Irgendwie gibt es doch zurzeit viel zu viel Spekulation.“ Das betreffe auch die Abgaswerte, die einem mitgeteilt würden: „Ich frage mich, ob die denn auch wirklich stimmen?“

Kritiker der Umweltprämie bemängeln an der deutschen Verkehrs- und Umweltpolitik schon länger den erstaunlich laxen Umgang mit Zahlen, die von Spöttern auch als „Scheingenauigkeiten“ bezeichnet werden; wie zum Beispiel jene 6000 Menschen, die vermeintlich zu viel Dieselabgase – und damit Stickoxid – eingeatmet haben sollen und vom Umweltbundesamt als „vorzeitige Todesfälle“ statistisch erfasst wurden. Das liest sich zunächst sehr unheimlich, doch leider handelt es sich dabei lediglich um eine Hochrechnung, die zwar nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert ist – aber dafür öffentlichkeitswirksam immer dann von Umweltschützern in Diskussionen kolportiert wird, wenn gegen den Dieselmotor gestänkert wird.

Der Gasherd in der Küche ist viel schädlicher als der Diesel

Interessanterweise sind Menschen in Handwerksbetrieben jedoch offenbar weitaus gefährdeter, was die Atemluft betrifft: Dort gelten „maximale Arbeitsplatz-Konzentrationen“ von 950 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft (µg/m3) – am Straßenrand liegt der erlaubte Grenzwert dagegen bei „nur“ 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Auch wer mit Gas kocht, lebt riskanter als wenn ein Dieselmotor mit moderner Abgastechnik in der Küche laufen würde, denn die Gasflammen entlassen pro Stunde bis zu 4000 Mikrogramm Stickoxid in einen Kubikmeter Raumluft. Und ein durchschnittlicher Raucher (20 Zigaretten pro Tag) zieht sich 5000 Mikrogramm des Teufelszeugs in die Bronchien.

Auch Heiko S. (42) aus Ahrensburg war ob der vielen Zahlenspielereien und der Ankündigung von Fahrverboten nach eigenem Ermessen ziemlich „verunsichert“. Deshalb hat er sich vergangene Woche, vielleicht ja im letzten Moment, dazu entschlossen, seinen VW Polo TDI, Baujahr 2008, Kilometerstand 136.467, verschrotten zu lassen. Für den ledigen Verkäufer in einem Elektrofachmarkt war es ein Rechenexempel: „Gebraucht ist mein Polo ungefähr nur noch 2800 Euro wert. Ich könnte ihn natürlich noch weiterfahren, aber VW zahlt mir jetzt 5000 Euro Umweltprämie für einen Golf 7 Vorführwagen, dazu gab’s ein bisschen Händlerrabatt und von Kiesow kriege ich für meinen Polo auch noch ein paar Hundert Euro. Jetzt kann ich mir für nicht mal 13.000 Euro ein Auto finanzieren, das normalerweise 20.800 Euro kosten würde.“

Und warum er sich für einen Benziner entschieden habe und nicht beispielsweise nicht für einen Golf GTE mit Hybridantrieb? Heiko S. lächelt ein wenig verlegen: „Viel zu teuer. Der steht mit über 35.000 Euro in der Liste. Dafür langt mein Budget nicht.“

Tatsächlich würde Heiko S. für einen solchen Plug-in Hybrid einen zusätzlichen Umweltbonus von VW in Höhe von 1785 sowie eine weitere Förderprämie vom Staat in Höhe von 3000 Euro erhalten. Aber Autos mit solch umweltfreundlicheren Antriebstechniken sind vom Band aus schon mal viel teurer, und die Förderprämien des Staates wohl zu niedrig angesetzt, um wirklich attraktive Kaufanreize zu bieten.

Martin Bratke (35) leitet die Demontagehalle bei Kiesow. Bevor die Karosserien der Autos in die Presse wandern, werden sie hier „voll ausgeschlachtet, was je nach Modell 30 bis 50 Ersatzteile beinhaltet – natürlich auch den Motor“, sagt er und deutet auf ein gutes Dutzend Dieselmotoren in Eins-a-Gebrauchtzustand, die auf Holzpaletten stehen. Die werden über kurz oder lang in ältere Autos eingebaut werden, „das sind wertschätzende und werterhaltende Reparaturen“, sagt Bratke, „oder die Motoren werden nach Afrika exportiert und treiben dann dort noch jahrelang Generatoren an.“

Der Kfz-Mechaniker hält die anhaltende Diskussion über dieselgetriebene Autos für „ausgemachten Quatsch“, denn „die Autoindustrie kurbelt sich doch bloß selber an – mit unserem guten Gewissen, das sie selbst wohl niemals besessen hat.“ Er mache im April Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff, da müsse man mal drüber nachdenken, was die Riesen-Schiffsdiesel an Stickoxiden durch den Schornstein jagten. Aber was ihn richtig nerve sei, dass ausgerechnet die Leute, die wirklich noch alte, dreckige Diesel fahren würden, sich häufig gar keinen Neuwagen leisten könnten. „Schon die erste Prämienaktion 2009 war doch nicht für den kleinen Mann gedacht“, sagt Bratke, „sondern bloß für diejenigen, die es eh schon haben.“