Auf einer sogenannten Paint-Party malen Laien in kurzer Zeit ein Bild und lernen neue Menschen kennen – unter anderem sich selbst

Das kann ich nicht! 26 Menschen denken gleichzeitig das Gleiche. Eine riesige panische Gedankenblase schwebt über der Schicksalsgemeinschaft, die sich an diesem Abend im Restaurant Edelsatt zusammengefunden hat. Das letzte Mal habe ich eine derartige kollektive Versagensangst vor 25 Jahren bei der Abi-Matheklausur erlebt, nur damals konnte man nicht während der Prüfung zum Sekt greifen. „Ich trinke mir erst mal Mut an“, sagt ein junger Mann und lacht.

„Glaubt mir, so schwer ist das gar nicht. In den nächsten zwei Stunden werdet ihr alle zum Künstler“, verspricht Lena Mai Merle. Allein dieser Name ist ja schon ein Kunstwerk. Wie schön und natürlich der klingt! Wie eine Landschaft von Monet. Lena Mai Merle jedenfalls soll uns Laien beibringen, ein richtiges Bild zu malen. Sie studiert an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und arbeitet bereits als Künstlerin. Gerade hat die 24-Jährige die Ausstellung „Egoversum“ in der Galerie Speckstraße im Gängeviertel kuratiert.

Lenas eigene Bilder sehen nicht so aus wie ihr Name, eher extrem wild. „Als wenn man die obere Schicht vom Asphalt abkratzt“, erklärt sie ihre Art zu malen, und schon weiß ich: Aha! Das könnte hier heute Abend doch klappen, diese Sprache verstehe ich. Außerdem gibt es, wie eingangs erwähnt, Nervennahrung und Getränke; neben Acrylfarbe und Pinsel die wichtigsten Utensilien auf der Paint-Party. So heißt die Mal-Veranstaltung, auf der ich mich befinde.

Wieder mal so ein Trend aus den USA. Anders als die letzten amerikanischen Ideen, über die ich las (Solarhandtaschen sowie eine Vermietagentur für Hunde), wollte ich die Verbindung aus Kunst und Party gerne einmal selbst ausprobieren und trage nun eine Schürze. Erste Lektion für heute: steht mir nicht. Hatte ich in unserer Küche vor Jahren schon mal erfolglos und unter viel Gelächter ausprobiert.

In Schürze sehe ich aus wie Grünkern-Eintopf von gestern

Es gibt ja Frauen, die sehen in Schürzen aus wie Göttinnen, wie die Verheißung eines „Liebe-geht-durch-den-Magen“-Dinners. Bei ihrem Anblick denken die Männer an Tiramisu und so. Bei mir maximal an Grünkern-Eintopf von gestern. Mein mir unbekannter Sitznachbar fragt mich: „Irgendwie sitzt das Ding bei dir so komisch, weißt du nicht, wie man eine Schürze bindet?“ „Nee“, antworte ich entschuldigend, „ich habe einen Thermomix.“ Hochgezogene Augenbrauen. Alles klar, damit bin ich in einer fetten Schublade gelandet.

Macht aber nichts, denn das gibt mir die Chance, das Feld von hinten aufzurollen. Jetzt, da mein Kollege zur Linken denkt, ich würde mir ungern die Hände schmutzig machen, kann ich ihn mit einem engagierten kreativen Ausbruch meinerseits gewiss überraschen.

Also ran an die Pinsel und die Farben, die unsere Lehrerin mit dem Monet-Namen allen Teilnehmern zurecht- gelegt hat. Bisschen geschäftig hin und her hantieren mit der Palette … Ah, Mist, schon den ersten Fleck auf den Pulli gemacht. Geht das wieder raus? „Joah, das wird aber anstrengend“, sagt Lena Mai Merle. Wieso ich meine Schürze denn nicht richtig tragen würde? Wir haben noch keinen Strich gezeichnet, und ich komme mir vor wie die untalentierteste Künstlerin aller Zeiten. Eine traurige Nachfolgerin von Florence Foster Jenkins, der legendären Amerikanerin, die unbedingt in der Kunst Erfolge feiern und Sängerin sein wollte, von der Öffentlichkeit aber als „Diva der falschen Töne“ und „Königin der Dissonanzen“ verspottet wurde. Nun denn.

Ist der Ruf erst ruiniert, malt es sich ganz ungeniert.

Das Motiv, das vorne auf der Staffelei als Vorlage steht, zeigt einen dynamischen und kraftvollen Stier. Viel Rot, viel Tod. Gegen dieses Prachtexemplar scheint kein Torero eine Chance zu haben. „Bull’s Victory“ taufte der Frankfurter Künstler sein Werk. Die Motive bei den Paint-Partys wechseln je nach Veranstaltung, an diesem Abend sind wir also mitten im Thema Stierkampf gelandet. Olé! „Bitte?“, fragt mein Sitznachbar irritiert. „Das war Spanisch“, erkläre ich. Läuft gut mit uns beiden.

Als erstes sollen wir mit schwarzer Farbe die Umrisse des Tieres auf unsere 40 mal 50 Zentimeter große Leinwand zeichnen. „Hilfst du uns?“, will ein zukünftiger Rembrandt wissen. „Natürlich, aber fangt doch erst mal an“, rät Lena. Das klingt leichter als gesagt. Ein leeres, weißes Blatt kann durchaus Bedrohung ausstrahlen. Als Journalistin weiß ich das nur zu gut. Ich nutze meine langjährige, leidvolle Erfahrung im Finden eines Anfangs und fange einfach an. Ein Strich. Hurra! Ich freue mich, rundherum eher leichte Verunsicherung: „Oje, wie kann ich das wieder löschen?“, fragt eine Frau. Ein Mann verlangt gleich nach einer weiteren Tube Deckweiß. „Willst du ein Bier?“, fragt die Bedienung einen Jungen, der ein paar Jahrhunderte zuvor gut für Michelangelo hätte Model stehen können. Und David antwortet: „Besser zwei.“

Dabei soll es an diesem Abend ausdrücklich nicht um renaissanceartige Perfektion gehen. Niemand braucht Vorkenntnisse, es gibt kein Richtig und kein Falsch. Wir sind hier in einem Lokal, nicht in der Schule, auch nicht in der Volkshochschule. „Viel lustiger so“, sagt Philipp Kageneck. Der 25-Jährige ist mit seiner Mutter und seiner Schwester gekommen, ein künstlerischer Familienausflug. Zu einem offiziellen Kunstkursus hätte sich der Jurastudent nie angemeldet, „das wäre mir zu streng gewesen“. Aber ein Abend wie dieser, an dem der Spaß im Vordergrund stehen soll, das schien ihm interessant und modern zu sein. Malkurs 2.0!

Viele junge Menschen sind gekommen, aber auch Teilnehmer, die man sich gut vor einer Staffelei in der Toskana vorstellen könnte, in der Hand einen „guten Roten“. Die persönlich schon Kunstmakler kannten, bevor Heidi Klum diese Berufsgruppe durch ihre Liaison mit Vito Schnabel bekannt machte. Von denen man denkt, die würden mit geschlossenen Augen einen Richter von einem Beuys unterscheiden.

Mein Stier erinnert leider stark an Schweinchen Dick

Der 62-jährige Claus Jencquel beispielsweise behauptet zwar von sich, noch nie gemalt zu haben, doch wie er die Farben beherrscht und damit den Stier erschafft, damit hätte er durchaus Chancen als Mitglied der „Blauen Reiter“. Während meine Umrisse eher an schwangere Kuh oder Schweinchen Dick erinnern (vielleicht hätte ich nicht Rosa wählen sollen?), hat Herr Jencquel unserem Kunst-Coach Lena gut zugehört, als sie Proportionen, Verläufe und Lichteinfälle erklärte. „Das macht ja viel mehr Spaß, als ich dachte“, sagt Jencquel. Nach der anfänglichen Panik sind inzwischen tatsächlich alle begeistert bei der Sache. „Ich finde es sehr inspirierend. Im Alltag hat man doch niemals die Muße,“ sagt Anne Kageneck. Die 48-Jährige aus Aumühle erzählt, sie fühle sich gerade „befreit von allen Mustern.“

Es wird gekleckst und gelacht in allen Farben des Regenbogens. Der 22-Jährige Moritz Zoepffel glaubt, dass in dieser Umgebung wahrscheinlich sogar bessere Bilder entstünden als in einer verkrampften Schulatmosphäre: „Wenn sich so wie hier alle wohlfühlen und gut drauf sind, dann strahlt diese Geborgenheit bestimmt auf die Art zu malen ab.“

Die meisten Teilnehmer sind mit ihren Freunden erschienen, eine Mädelsgruppe am anderen Tisch hat eine Mordsgaudi. Sie sind schon jetzt Künstlerinnen, Künstlerinnen des Hedonismus. Ein in Hamburg leider etwas unterschätzter Menschenschlag. Spaß zu haben ohne jegliche weitere Funktion oder Zielsetzung, das scheint außerhalb der Reeperbahn ungern gesehen. Im Alltag über den Rand zu malen – wer traut sich das denn bitte?

So einen Ort wollten die Erfinder der Paint-Partys, Oliver Breiter und Alex Elö, schaffen. Die beiden sind eigentlich Unternehmensberater und lernten das Konzept der unterhaltsamen Malkurse 2016 bei einer Geschäftsreise in den USA kennen. „Wir waren sofort derart begeistert, dass wir kurzerhand beschlossen haben, das Ganze in Deutschland anzubieten,“ sagt Breiter. Die Motive für die Veranstaltungen testen sie selbst. „Denn wir sind die besten Versuchskaninchen, wir haben keinerlei künstlerisches Talent,“ sagt Breiter und lacht. „Schaffen wir es, dann schafft es jeder.“ In 15 Städten finden die Kreativ-Events der „ArtMasters“ inzwischen statt.

Die rasante Expansion führt Breiter darauf zurück, dass im digitalen Zeitalter fast nur noch auf das Handy gestarrt würde, anstatt sich miteinander zu unterhalten. „Das beobachte ich bei allen unseren Veranstaltungen. Es fällt sehr leicht, über das Malen mit Fremden in Kontakt zu kommen“, sagt Oliver Breiter.

Wir brauchen alle mehr van Gogh in unserem Leben

Trotz des holprigen Starts spricht nach der Pause, in der es Currywurst vom Wild gab, sogar mein Sitznachbar mit väterlichem Rat zu mir: „Du musst es mehr bluten lassen.“ Hmm. Recht hat er. Das mit der wundervollen Kommunikation über den Bildrand hinweg scheint also zu funktionieren, die digitalen Medien spielen jedoch selbst in dieser handfesten Umgebung eine Rolle.

Viele fotografieren ihre Fortschritte, eine Teilnehmerin hat gleich zu Beginn die Vorlage geknipst. „Dann muss ich mich nicht immer umgucken.“ Ich überschlage kurz, was mehr Zeit kostet: einen Blick über die Schulter zu werfen oder auf dem Smartphone jedes Mal den Entsperrungscode einzugeben und dann das Bilderarchiv aufzurufen. Doch allein dieser Gedanke unterstreicht ja leider meine Unbegabtheit. Ich darf nicht so logisch an meine künstlerische Karriere rangehen, so werde ich nie von der Muse geküsst.

Mir fehlt einfach der Wahnsinn, die unkontrollierbare Leidenschaft, das Verrückte. Ich brauche mehr van Gogh in meinem Leben. „Würdest du dir ein Ohr abschneiden für den perfekten Stier?“, frage ich meinen neuen Freund zur Linken. Er malt weiter und scheint angestrengt über meine Frage nachzudenken. Oder nein.

Das ist es! Er befindet sich im Flow, so nennt man das, wenn man in einen kreativen Schaffensprozess gerät und nichts um sich herum mehr wahrnimmt. Wahnsinn. So aus nächster Nähe durfte ich das noch nie erleben.

Am Ende der zwei Stunden fühlen wir uns alle wie Picasso. 26 Bullen, die auf jeder Landwirtschaftsausstellung Preise abräumen würden, sind durch unsere Hände erschaffen worden. „Toll!“ „Super!“ „Respekt.“ Wir loben uns gegenseitig. Keiner der Anwesenden wird sich jemals wieder von einem Stier oder einer leeren Leinwand einschüchtern lassen.

Ich überlege, welches Motiv ich als nächstes in Angriff nehme. Am besten irgendwas mit Einhörnern.