Wie kommen Megaschiffe wie die „CMA CGM Antoine de Saint Exupéry“ in den Hamburger Hafen? Und wie unversehrt wieder heraus? Ein Besuch in der Nautischen Zentrale

Am Bubendeyufer in der Nautischen Zentrale springt das Funkgerät an. „Wir bereiten uns langsam vor nach Antwerpen. 23 Personen, 7,60 Meter Tiefe mit Elblotse“, meldet die Stimme, die zu dem Elblotsen gehört. Er ist im Hafen an Bord der „Azargoun“ gegangen. Noch liegt das 207 Meter lange Containerschiff am Schuppen 70 im Ellerholzhafen. „Jetzt machen die Festmacher die Leinen los“, sagt Jörn Warwel, der Leiter der Nautischen Zentrale.

Auf dem Radar verfolgt Jörg Plewe das Geschehen. Der 58-Jährige überwacht seit sechs und noch bis 18 Uhr zusammen mit einem Kollegen den Schiffsverkehr. Dann kommt die Nachtschicht. Es herrscht immer das Vier-Augen-Prinzip. Plewe ist wie alle 27 Mitarbeiter im Schichtdienst Kapitän und jahrelang zur See gefahren. Sie haben viel Erfahrung, und das ist wichtig, schließlich haben sie einen verantwortungsvollen Job: Sie regeln im engen Austausch mit ihren Bundeskollegen der Verkehrszentralen in Cuxhaven und Brunsbüttel sowie den Lotsen, dass es auf der Elbe und im Hafen keine Zusammenstöße gibt. Die Nautische Zentrale ist für den Schiffsverkehr von Tinsdal bis zu den Elbbrücken zuständig und damit ein Sonderfall: Als Hafenbehörde verantwortet sie auch Flussabschnitte – und die gehören eigentlich zu den Bundesaufgaben.

Plewe zoomt sich auf dem Radar an die „Azargoun“ heran. Es erscheinen zwei Dreiecke. Wenn er mit der Maus darüber fährt, erscheinen die Namen „Wilhelmine“ und „Fairplay“. Es sind die beiden Schlepper, die das iranische Schiff beim Ablegen unterstützen. Ihre Positionen werden durch das Automatisches Identifikations System (AIS) gemeldet. „Kapitän und Lotse entscheiden, wie viele Schlepper eingesetzt werden“, sagt Warwel. Es gibt Mindestanforderungen, aber zum Beispiel bei starkem Wind kann auch der Einsatz von mehr Schleppern notwendig sein. Falls sich ein Kapitän mal gegen die Empfehlung des Lotsen sträube, weil er für den Reeder im vorauseilenden Gehorsam auf die Kostenbremse treten möchte, könne man die Zahl der Schlepper auch anordnen. Das komme allerdings selten vor.

Die „Azargoun“ ist für Plewe Routine. Das liegt an zwei Parametern: Sie ist nur 30 Meter breit. Und mit 7,60 Metern Tiefgang ist sie unabhängig von der Tide. Die Spezialfälle sind die sogenannten außergewöhnlich großen Schiffe. Dazu zählen alle, die länger als 330 und breiter als 45 Meter sind – wie die „CMA CGM Antoine de Saint Exupéry“. Sie stoßen auf die natürlichen Grenzen der Elbe.

Zuletzt vertieft wurde der Fluss 1999. Doch seitdem sind die Schiffe immer größer geworden. Statt 10.000 Standardcontainer wie vor einigen Jahren können sie heute mehr als 20.000 Boxen tragen. Voll beladen ist das Schiff dann aber zu tief für einige Wasserstellen. Selbst teilbeladen müssen sie sich nach der Tide richten.

In den Hafen einlaufende Großschiffe fahren so, dass sie mit dem höchsten Wasserstand in der Hansestadt sind. Maximal dürfen Massengutfrachter 15,10 Meter tief ins Wasser sinken. Begleitet werden sie beim Einlaufen von mindestens einem und bis zu vier Schleppern. „Die drehen zu Hochwasser in das Hafenbecken hinein“, sagt Warwel. Neben dem höchsten Wasserstand gibt es einen weiteren Vorteil. Die Strömungsgeschwindigkeit ist am geringsten, sodass sich die Frachter am besten mänovrieren lassen.

Auslaufende Großschiffe fahren bei Niedrigwasser los

Für auslaufende Großschiffe verhält sich die Situation anders. Sie müssen bei Niedrigwasser die Hansestadt verlassen. Was den Laien überrascht, erklärt der Fachmann. Der Hafen sei tiefer als der Fluss in Richtung Nordsee, sagt Warwel: „Die Schiffe müssen gegen den Flutberg anfahren, damit sie bei Schulau genug Wasser unter dem Kiel haben. Dort beginnt der flachere Bereich der Elbe.“ Der maximale Tiefgang liegt bei der Fahrt gen Deutsche Bucht niedriger, nämlich nur bei 13,80 Metern. Das Tidefenster dafür ist mitunter sehr klein. Teilweise haben die Meeresriesen nur eine halbe Stunde Zeit, um den Hafen zu verlassen. Das unterstreicht, wie wichtig das Zusammenspiel aller Parteien bei der Abfertigung ist. In der Praxis käme immer etwas dazwischen. Das kann eine defekte Containerbrücke sein. Oder der Lotse meldet für das Schiff 30 Zentimeter mehr Tiefgang als ursprünglich angegeben. Wie tief das Wasser ist, messen übrigens jeden Tag vier Peilboote, die im Auftrag der Nautischen Zentrale fahren. Durch die Gezeiten werden Schwebstoffe angespült, die sich absetzen können und im Fluss oder den Liegeplätzen für Untiefen sorgen.

Fehlende Tiefe ist das eine natürliche Hindernis der Elbe, es kommt eine zweite Einschränkung hinzu. Denn die Schiffe sind auch breiter geworden. Fast 60 Meter messen die größten von Backbord bis Steuerbord. Zwischen Tinsdal an der Hamburgischen Landesgrenze und der Störmündung können die dicken Pötte nicht aneinander vorbeifahren. Der Fluss ist zu eng, es gibt auf etwa 40 Kilometern eine Begegnungsverbotszone. „Einander passieren dürfen nur Schiffe, die zusammen nicht breiter als 90 Meter sind“, sagt Warwel, der knapp zwölf Jahre für die Reederei Hamburg Süd zwischen Europa und Südamerika, aber auch zwischen den USA und Australien-Neuseeland gefahren ist.

Für den 54-Jährigen ist daher klar, dass der Hafen die geplante neunte Elbvertiefung braucht – wobei die Vertiefung um durchschnittlich einen Meter nur ein Teil der offiziell Fahrrinnenanpassung genannten Maßnahme ist. Der Fluss soll zwischen Wedel und Wittenbergen auf 385 Meter verbreitert werden, um eine acht Kilometer lange sogenannte Begegnungsbox zu schaffen. „Diese Begegnungsbox ist ganz wichtig, damit die großen Schiffe besser aneinander vorbeikommen“, sagt Warwel. Denn wenn ein Schiff erst einmal von der Deutschen Bucht in die Elbe eingefahren ist, gibt es kein Zurück. Ein Drehen dort ist nicht möglich – deswegen müssen die Fahrten gut geplant sein.

Dafür ist an diesem Tag in der Nautischen Zentrale Stephan Uhlmann zuständig. Er arbeitet in der heutigen Schicht sozusagen als Hafenbüro und kümmert sich um die Verwaltung. Er weist der „Bianca Rambow“ Ankunftszeit, Liegeplatz, Seite (also Steuer- oder Backbord) und Poller zu.

Uhlmanns zweite wichtige Aufgabe ist die Planung dessen, was in den nächsten Tagen auf den Hafen zukommt. Jedes Schiff muss sich mindestens 24 Stunden vor der gewünschten Ankunft anmelden, Grossschiffe mindestens vier bis fünf Tage vorher. Im vergangenen Jahr sind 9000 Seeschiffe in den Hafen ein- und später wieder ausgelaufen, es gab also 18.000 Bewegungen. Zudem wurde 6500-mal „umgeparkt“, also Seeschiffe zu einem anderen Liegeplatz verholt. Der 34-Jährige sitzt vor einem Bildschirm, auf dem Linien und Uhrzeiten dargestellt werden. „Auf der Zeitachse werden alle Schiffe, die in den nächsten Tagen für Hamburg geplant sind, mit ihren Durchschnittsgeschwindigkeiten angezeigt“, sagt er.

Das Programm zeigt an, auf welchem Flusskilometer sie wann fahren werden. Die Begegnungsverbotszone ist rot schraffiert – und in zwei Tagen droht Ärger. Die 48,20 Meter breite „Seaspan Zambezi“ will raus aus dem Hafen, die „APL Singapura“ mit ihren 51 Metern Breite möchte hinein. Sie würden sich an der engen Flussstelle treffen. Uhlmann klickt mit der Maus, verschiebt die Linie der „APL Singapura“ ein Stück und kontaktiert im Anschluss die Beteiligten wie Terminals und Schiffsmakler und informiert sie über die neue Ankunftszeit. „Sie dürfte erst eine halbe Stunde später in die Elbe hineinfahren.“ So lässt sich das Treffen in der Begegnungsverbotszone vermeiden.

Wenn das Schiff aus Singapur in den Fluss einläuft, werden zwei Kollegen von Ben Lodemann schon an Bord sein. Der 50-Jährige bringt die Hochsee-Erfahrung von 17 Jahren auf Containerfrachtern, Großseglern und Passagierdampfern mit, hat seit 2002 aber ein Stammrevier: die Elbe. Er ist Ältermann der Lotsenbrüderschaft Elbe. Mit seinen 296 Kollegen bildet er die größte Lotsengemeinschaft weltweit.

Weit draußen in der Deutschen Bucht liegt das Stationsschiff „Elbe“, 60,40 Meter lang und 24,60 Meter breit. Gefüllt mit Proviant für 14 Tage. 34 Crewmitglieder sorgen für einen reibungslosen Ablauf. Mit drei Tendern und Versetzbooten bringen sie die Lotsen von und an Bord. Denn auf der Elbe herrscht Lotsenpflicht für alle Tanker und normalen Schiffe, die die Maße von 90 Metern Länge, 13 Metern Breite und 6,50 Metern Tiefgang überschreiten. Sie gehen als Duo an der Tonne „E3“ an Bord, weil die Fahrt sehr lang und ein Wechsel vor Brunsbüttel nicht möglich ist. Dort teilt sich das Revier der Elblotsen in zwei Bezirke auf, elbabwärts bis zur Deutschen Bucht und elbaufwärts bis Tinsdal, wo die Hafenlotsen zuständig sind. Sie sollen die Sicherheit gewährleisten, weil sie das Fahrtgebiet wie ihre Westentasche kennen. „Die Lotsen sind sowohl schifffahrts- als auch ortskundig“, sagt Lodemann und stellt einen interessanten Vergleich auf.

Die Revierfahrt der Elblotsen entspreche der Autobahnlänge von Quickborn nach Hannover, das sind knapp 190 Kilometer. Es gebe Abschnitte mit Standstreifen, unterschiedlich breite Mittelstreifen und verschieden lange Aus- und Einfahrten – alle Details darüber wüssten seine Kollegen. Übertragen auf das Wasser heißt das zum Beispiel: Welche Orientierungshilfen gibt es wo in der Nacht? Ist die Seitentrasse steil oder flach? Besteht der Untergrund aus Steinen oder Matsch? Welcher Kurs wird bei Tonne 84 gefahren? Alle Elblotsen haben ein Studium hinter sich und mindestens vier Jahre Borderfahrung, davon ein Minimum von zwei als Kapitän oder Erster Offizier. Dann werden sie acht Monate lang fit für den Fluss gemacht.

Nach erfolgreicher Prüfung werden sie vom Staat zu Lotsen bestellt, die alle selbstständig arbeiten. Knapp 49.000 Lotsungen machten Lodemann und seine Kollegen im vergangenen Jahr. Tendenziell werde es weniger, weil sich die Ladung zunehmend auf große Schiffe konzentriert. Ein Drittel der Einnahmen – die Gebühr liegt je nach Schiffsgröße zwischen 120 und 5500 Euro – erhält der Lotse, der wie ein Taxifahrer Aufträge annehmen oder ablehnen könne. Der Rest kommt in einen Topf und werde unter allen (auch erkrankten) Kollegen geteilt. „Wir arbeiten nicht im Wettbewerb, weil dieser im Widerspruch zur Sicherheit steht, die unser größter Fokus ist“, sagt Lodemann. Das beziehe sich nicht nur auf Meeresgiganten, sondern auch auf die Badenden am Strand, die Küsten und die Sportbootfahrer.

Gefragt sind die Elblotsen beispielsweise auch, wenn neue Schiffsklassen auf den Markt kommen. Im eigenen Simulator an der Schnackenburgsallee wird getestet, unter welchen Bedingungen sie den Hamburger Hafen anlaufen können. Tiefgang, Ladung, Tide fließen in die Bewertung ein. Geht Windstärke neun? Oder ist maximal sechs drin? Weil heute immer höher gestaut wird, steige die Windanfälligkeit. Aber auch unter Wasser gebe es durch höhere Maschinenleistungen und andere Ruder deutliche Veränderungen bei den Auswirkungen. „Die größten Schiffe wiegen 160.000 bis 180.000 Tonnen. So ein Ding auf den Punkt genau in einem dynamischen Medium zu führen, ist ex­trem anspruchsvoll“, sagt Lodemann.

Der Gigantismus in der Schifffahrt stößt an Grenzen

Wie dynamisch die Elbe ist, lässt sich in der Nautischen Zentrale gut beobachten. Ein riesiger Bildschirm an der Wand zeigt das Hafengebiet. Schwarze Drei­ecke markieren die Pegelstände. In Blankenese sind es 86 Zentimeter, vor der Haustür am Bubendeyufer 55 und am Köhlbrand erst 33 Zentimeter. „Das ist die Flut, die jetzt kommt“, sagt Warwel. An letzterer Station steht noch ein zweiter Wert: 54,50. Es ist die Durchfahrtshöhe in Metern für die Köhlbrandbrücke. Für die zahlreichen Verholer, die im Hafen zwischen den rund 70 Schiffsanliegeplätzen Waren hin- und hertransportieren, ist das kein Problem. Dennoch stößt der Gigantismus in der Schifffahrt hier an Grenzen. Viele Containerriesen können sie bei Hochwasser nicht mehr passieren, weil sie schlichtweg zu hoch aufragen.

Die „Azargoun“ gehört nicht zu dieser Größenklasse. Eine gute halbe Stunde nach ihrem ersten Funkspruch hat sie den Ellerholzhafen verlassen und befindet sich im Hauptfahrwasser in der Nähe der Fischauktionshalle. Grundsätzlich gilt auch für die Seeschiffe, dass sie von einem Nebengewässer wie dem Vorhafen kommend Vorfahrt gewähren müssen. Häufig sprechen sich aber Kapitän und Lotse mit den anderen Schiffsführern ab, dass sie zuerst fahren dürfen. Schließlich fällt das Bremsen im Wasser den Meeresriesen sehr schwer. Wie alle Schiffe darf die „Azargoun“ im Hafen maximal zehn Knoten (18,52 Kilometer pro Stunde) schnell sein. Gut sechs Stunden Fahrzeit braucht sie bis zur Elbmündung in Höhe von Cuxhaven, wo sie 15 Knoten fahren darf. Deutlich vorher wird sie sich in der Nautischen Zentrale abmelden, so wie es jetzt die „Sten Skagen“ macht, die zu Beginn des Abendblatt-Besuchs aus dem Köhlfleet vor die Nautische Zentrale drehte. Plewe greift zum Funkgerät: „,Sten Skagen‘, Sie sind an der Landesgrenze. Gute Reise.“