Olaf Scholz über Kritiker, die seinen mutmaßlichen Nachfolger einen Verlegenheitskandidaten nennen. Peter Tschentscher habe die nötige Härte und den Willen, Bürgermeister zu werden

Der Abschied aus Hamburg stimme ihn melancholisch, sagt Olaf Scholz im Interview mit dem Abendblatt. Die Hamburger hätten gut verstanden, wie er ticke. Doch auch sein Nachfolger habe die nötige Tatkraft und Intelligenz, die es brauche, um in dem Amt zu bestehen.

Mit einer Ihrer letzten Entscheidungen haben Sie die Hamburger noch einmal sehr überrascht. Wann war Ihnen klar, dass Peter Tschentscher der ideale Nachfolger für Sie als Bürgermeister ist?

Olaf Scholz: Mir ist immer klar gewesen, dass Peter Tschentscher ein sehr guter Senator mit hohem Ansehen ist und das Zeug dazu hat, ein sehr guter Bürgermeister zu werden.

Wenn man in einer Position ist, wie Sie es in den vergangenen sieben Jahren als Bürgermeister waren, muss man sich ständig
darüber Gedanken machen, wer im Fall eines Falles der eigene Nachfolger werden könnte. War das immer Peter Tschentscher?

Ich bin immer froh darüber gewesen, dass der Hamburger Senat über eine Reihe von Frauen und Männern verfügt, denen man das Amt des Bürgermeisters ohne Einschränkung anvertrauen könnte. Peter Tschentscher ist einer von ihnen.

Von außen sah es lange so aus, als würde entweder Andreas Dressel, der bisherige Fraktionsvorsitzende der SPD in der Bürgerschaft, oder Sozialsenatorin Melanie Leonhard Bürgermeister. Täuschte dieses Bild?

Ich schätze Melanie Leonhard und An­dreas Dressel beide sehr. Sie waren auch sehr eng in die Gespräche über meine Nachfolge eingebunden. Und es ist eine große Leistung, dass sie die Gerüchte über ihre vermeintlichen eigenen Ambitionen unkommentiert gelassen haben.

Also stimmt es nicht, dass Melanie Leonhard und Andreas Dressel zunächst erklärt haben, dass sie nicht Bürgermeister werden wollen, und erst dann alle Blicke auf Peter Tschentscher gingen?

Nein, so einfach ist die Welt nicht. Alle haben sich miteinander unterhalten und am Ende gemeinsam eine gute Entscheidung getroffen. Ich bin mir sicher, dass der Hamburger Senat auch nach meinem Abschied ein sehr gutes Team sein wird.

Am Freitag entstand der Eindruck, dass es bei der Suche nach Ihrem Nachfolger hektisch zuging.

Den Eindruck hatte ich nicht.

Trotzdem müssen Sie damit leben, dass Tschentscher nicht als Kandidat der ersten Wahl wahrgenommen wird, das „Handelsblatt“ nennt ihn einen Verlegenheitskan­didaten.

Das ist ziemlicher Unsinn. Peter Tschentscher ist ein hoch angesehener Senator, der seit sieben Jahren Großartiges geleistet hat, zuletzt bei der Planung des aktuellen Doppelhaushaltes und dem Aufräumen der üblen Hinterlassenschaft der CDU-Vorgänger bei der HSH-Nordbank.

Sie sagen selbst, dass Sie viele sehr gute
Senatoren und Senatorinnen haben.

Stimmt.

Warum wird dann Peter Tschentscher Ihr Nachfolger und nicht Andy Grote oder Ties Rabe?

Weil wir alle gemeinsam entschieden haben, dass er die beste Lösung ist. Das ist keine einsame Entscheidung des scheidenden Hamburger Bürgermeisters. Peter Tschentscher ist ein ausgezeichneter Senator, der die gestalterische Kraft, die nötige Härte und auch den Willen hat, das Amt des Bürgermeisters auszuüben.

Stimmt es denn wenigstens, dass Sie sich persönlich sehr gefreut hätten, wenn zum ersten Mal eine Frau Bürgermeisterin geworden wäre?

Ich freue mich immer, wenn Frauen in Spitzenämter kommen. Eines Tages wird auch Hamburg von einer Bürgermeisterin geführt werden. Viele haben Melanie Leonhard diese Aufgabe jetzt schon zugetraut, das ist doch toll. Jede und jeder muss aber für sich selbst abwägen, ob es gerade in die jeweilige Lebenssituation passt.

Heißt: Hätte Melanie Leonhard Bürgermeisterin werden wollen, wäre sie es geworden.

Noch einmal: Wir haben alle gemeinsam erörtert, was die beste Lösung ist.

Sowohl Melanie Leonhard als auch Andreas Dressel haben aus familiären Gründen für Ihre Nachfolge abgesagt. Kann man nicht Bürgermeister sein und kleine Kinder haben?

1950 wäre es ohne Weiteres gegangen, zumindest für die Männer.

Und heute?

Ich finde es eine großartige Entwicklung, dass Frauen wie Männer die Entwicklung ihrer Kinder begleiten und nicht nur ab und zu zu Hause vorbeischauen wollen, um zu sehen, ob die Kinder schon eingeschlafen sind. Da hat sich in unserer Gesellschaft viel zum Positiven verändert. Und ich finde besonders gut, dass das nicht nur für Frauen gilt, sondern auch für Männer.

Ist es klug, jemanden als seinen Nachfolger auszuwählen, der einem sehr ähnlich ist? Böse Kritiker sprechen schon von einer Scholz-Kopie.

Wieso soll das böse sein – es ist ja doch keine völlig erfolglose Zeit gewesen, in der ich Bürgermeister in Hamburg sein durfte. Aber kein Vertun: Trotz einer gewissen äußeren Ähnlichkeit ist Tschen­tscher ein ganz anderer, eigenständiger Mann. Und er besitzt die Tatkraft und die nötige Intelligenz, die es braucht, um in einem solchen Amt zu bestehen. Er wird es sehr gut machen, aber er wird ganz sicher nicht eine Kopie des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz werden.

Was unterscheidet Sie beide denn?

Ach, das werden Sie schon herausfinden. Ich bin jedenfalls fest überzeugt, dass die Hamburgerinnen und Hamburger sich ihren neuen Bürgermeister genau anschauen und dass sie gut finden werden, was sie sehen.

Vergangene Woche gab es nach langer Zeit mal wieder eine Umfrage mit einer Sonntagsfrage zu Hamburg. Und zum ersten Mal seit sieben Jahren hatte die SPD nicht nur weniger als 40 Prozent, sondern stürzte gleich auf 28 Prozent ab. Wie konnte das passieren?

Ich würde diese Umfrage nicht überbewerten, auch wenn sie mich natürlich nicht erfreut hat. Sie entstand zu einer Zeit, in der unklar war, ob es gelingen würde, im Bund eine Regierung zu bilden und damit auch unklar, wie es mit dem Hamburger Bürgermeister weitergeht. Und die Dinge des vergangenen Jahres, für die auch ich Verantwortung trage, spielen sicher eine Rolle. Mit den Entscheidungen jetzt bin ich aber zuversichtlich, dass sich die Werte für die SPD schnell wieder nach oben bewegen und wir bei der Bürgerschaftswahl 2020 mit deutlichem Abstand vor den anderen Parteien liegen werden.

Es gibt viele Menschen, die in den vergangenen Jahren nicht die SPD, sondern Olaf Scholz gewählt haben. Besteht nicht die Gefahr, dass die sich jetzt von der Partei wieder abwenden?

Nein, diese Gefahr sehe ich nicht. Solche Männer und Frauen mag es geben, sie werden die SPD dann aber wegen Peter Tschentscher wählen.

Unterschätzen Sie da nicht den Scholz-
Effekt für das Wiedererstarken der SPD in Hamburg in den vergangenen sieben Jahren?

Sie sind ja sehr freundlich zu mir zum Abschied (lacht). Ich freue mich, wenn es einen solchen Scholz-Effekt gegeben hat. Aber ein solches Phänomen ist nicht auf meine Person beschränkt, sondern es stellt sich ein, wenn die Bürgerinnen und Bürger zufrieden sind mit der Arbeit ihres Führungspersonals.

Machen Sie sich damit nicht etwas zu klein?

Nö. Ich bleibe bei meinen 1,70 Meter.

Ihnen war sehr wichtig, Bürgermeister und Landesvorsitzender zu sein. Bei Ihren Nachfolgern trennen Sie die beiden Ämter nun wieder. Ist das nicht ein Fehler?

Nein, es ist richtig. Ich hätte eine solche Veränderung im Landesvorsitz auch vorgeschlagen, wenn ich Bürgermeister geblieben wäre. Diese Doppelverantwortung war notwendig in der sehr komplizierten Situation, in der sich die SPD anno 2009 befand. Aber man kann ja nun wirklich mit Fug und Recht sagen, dass diese Zeiten vorbei sind. Es ist der richtige Zeitpunkt, die Verantwortung nun auf mehrere Schultern zu verteilen. Und Sie haben ja auch schon angedeutet, dass Melanie Leonhard eine tolle Frau ist.

Sie haben einen recht emotionalen Abschiedsbrief an die Hamburger geschrieben. Sie können also doch Empathie. Warum bemühen Sie sich dennoch, so gut wie nie eine persönliche Regung zu zeigen?

Politik ist keine Vorabendserie, sondern eine ernste, nüchterne Sache. Die Bürgerinnen und Bürger bestellen erst mal eine Führungsleistung und gute Arbeit. Tatsächlich mache ich Politik mit viel Leidenschaft, und immer mal wieder fällt das jemandem auch auf.

Können Sie sich nicht vorstellen, dass das genau das ist, was die Menschen an Ihnen vermissen?

Naja. Ich glaube, die meisten haben mich ganz gut verstanden, und sie haben auch gut verstanden, wie ich ticke.

Sie sind ein Meister darin, sich nicht festzulegen. Warum?

Ich lege mich viel öfter fest als andere. Und bleibe dann auch dabei.

Und wenn Sie sich nicht festlegen, dann weil Sie nicht wissen, ob Sie das, was Sie dann sagen, auch einlösen können?

Politik ist ein Prozess, an dem viele mitwirken. Ich glaube, selbst wenn man sehr wichtige und einflussreiche Ämter hat in einer Stadt oder einem Land oder darüber hinaus, dann ist man nur ein Teil einer komplizierteren Gleichung. Man sollte nicht den Eindruck erwecken, als ob man alles allein in der Hand hätte. John Wayne ist für die Politik ein schlechtes Vorbild.

In Ihrer politischen Karriere sind Sie nirgendwo so geschätzt und respektiert worden wie in Hamburg. Stimmt die Einschätzung, und wenn ja – woran lag das?

Ich habe mich immer sehr darüber gefreut, wie sehr die Hamburgerinnen und Hamburger meine Arbeit hier geschätzt haben.

Warum haben Sie und die Hamburger
offensichtlich so gut zusammengepasst?

Nehmen wir es doch als schönen Fakt: Wir passen gut zusammen.

Sie selbst sagen, dass Sie nirgendwo so viel Spaß hatten und eigentlich bleiben wollten. Warum gehen Sie dann?

Meine persönliche Planung sah eigentlich nicht vor, jetzt als Vizekanzler und Finanzminister nach Berlin zu gehen. Ich hatte hier schon die nächste große Runde vorbereitet, in der ich die Bürgerinnen und Bürger in den Stadtteilen zum Gespräch einlade. Wir haben dazu eigens schöne neue Fotos gemacht, die Plakate sind schon fertig. Meine Frau hatte sich eine Wohnung in Potsdam gesucht, in der sie als Ministerin leben und ich sie ab und an besuchen kann. Nun kommt es anders, so ist das Leben manchmal.

Warum haben Sie sich entschieden zu wechseln?

Das hat etwas zu tun mit den großen Veränderungen, die in Deutschland und weit darüber hinaus stattfinden. Und die es so kompliziert gemacht haben, in unserem Land eine Regierung zu bilden. Die politische Landschaft verändert sich, die Unsicherheit wächst. Wenn man dann das Gefühl bekommt, gebraucht zu werden und dazu beitragen zu können, dass sich unser Land in einer rasant verändernden Zeit richtig aufstellt, dann kann man nicht weglaufen. Wenn man einer sozialdemokratischen Partei, die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft aus meiner Sicht von größter Bedeutung ist, helfen kann, eine gute Zukunft zu haben und sich ernsthaft im Wettbewerb mit CDU und CSU um die Führung des Landes zu behaupten, dann ist das eine wichtige Aufgabe.

Wann und wie haben Sie sich für den Wechsel entschieden?

Dafür gab es keinen konkreten Zeitpunkt, es war eher ein Prozess. Irgendwann war mir klar, dass es auf mich zulaufen könnte, sollte die SPD die Verantwortung für das Finanzministerium erhalten. Am Ende der Koalitionsverhandlungen, an jenem 7. Februar, früh um 7 Uhr war es dann tatsächlich so weit.

Stimmt es, dass Angela Merkel der Verzicht auf das Finanzministerium leichter gefallen ist, als sie hörte, dass Sie Minister werden würden?

Das weiß ich nicht. Ich war in dem Gespräch, in dem das gefallen sein soll, nicht dabei.

Wären Sie Finanzminister geworden, ohne gleichzeitig Vizekanzler zu sein?

Nein.

Zu Ihrer eigenen Überraschung sind Sie zwischenzeitlich SPD-Vorsitzender geworden. Auf normalem Weg wären Sie das nie geworden. Es scheint, man mag Sie in der eigenen Partei nicht besonders. Woran liegt das?

Ich bin kommissarisch Vorsitzender der Partei. Die SPD hat mich gebeten, als Finanzminister und Vizekanzler ins Bundeskabinett zu gehen. Über einen Mangel an Zuwendung kann ich nicht klagen.

Aber bei den letzten Vorstandswahlen hatten Sie ein ernüchterndes Ergebnis.

Naja, ich habe schon lange aufgehört darüber nachzudenken, wie solche Ergebnisse im Einzelnen zustande kommen. Ich nehme sie gelassen hin.

Peer Steinbrück hat im „Spiegel“ gesagt: „Die Strafaktionen gegen Olaf Scholz und andere SPD-Politiker belegen, dass Vorstandswahlen nicht nach Kompetenz funktionieren, sondern nach Gesinnungstreue.“ Stimmt, oder?

Nein, stimmt nicht. Im Übrigen mache ich das, was ich für richtig halte, und profiliere mich niemals auf Kosten anderer in der SPD und auch nicht auf Kosten der Partei.

Warum opfern Sie sich für eine Partei auf, die Ihnen dafür nicht mal Danke sagt?

Opfern?

Sie geben das Amt des Hamburger Bürgermeisters ja auch auf, um Ihrer Partei aus einer schwierigen Situation zu helfen.

Um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Der Abschied aus Hamburg, meiner Heimatstadt, macht mich traurig, das ist ein melancholischer Moment. Ich bin sehr gern Hamburger Bürgermeister gewesen. Aber das Amt des Bundesfinanzministers und Vizekanzlers, das ich nächste Woche antreten soll, das will ich jetzt auch aus vollem Herzen ausfüllen, es reizt mich sehr.

Wir haben neulich mit einem Ohr mitgehört, dass Sie noch zehn Jahre Politik machen wollen. Stimmt das?

Mindestens (lacht). Ich habe jedenfalls kein Endzeitgefühl.

Zehn Jahre Finanzminister?

Mich bewegen jetzt erst mal die nächsten vier Jahre und die Frage, wie wir die Bundestagswahl 2021 gewinnen können.

Nach 16 Jahren wäre dann ja mal wieder ein Mann als Kanzler dran …

Das Geschlecht ist unwichtig. Wichtiger ist, dass es eine oder einer von der SPD wird.