Umgeben von über 600 Männern sitzen 70 Frauen in einem Sonderblock der Justizvollzugsanstalt Billwerder ein. Jetzt gab es nur für sie ein Konzert. Peter Wenig beobachtete das Gastspiel

Als der letzte Ton verklungen ist, das letzte Mikro verpackt, die letzte Box im Transporter verstaut, führt der Heimweg vorbei an der Kneipe „Zur letzten Minute“. Passt. Ein paar Steinwürfe entfernt tost der Verkehr auf der A 1, im Rückspiegel verschwinden die mächtigen Mauern und Zäune der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder. Die Gedanken kreisen um ein außergewöhn­liches Konzert. Einen Auftritt hinter Gittern. Mit einem Sänger, der liebend gern länger gespielt hätte. Vor Besucherinnen, die keinen Eintritt zahlen mussten, aber vorher und nachher durchsucht wurden. Und nun wieder eingeschlossen werden in ihre Zellen. Knapp zehn Quadratmeter groß. Klo, Waschbecken, Regal, Schreibtisch, Klappbett.

„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Reinhold Beckmann bewegt, als er später mit Weggefährten beim Griechen Dionysus am Eppendorfer Weg sitzt. Gerade 20 Kilometer trennen das Restaurant vom Knast – und doch sind es Welten. Hier das pulsierende Eimsbüttler Leben, dort die Billwerder Tristesse. 76 Frauen, die hier ihre Freiheitsstrafen verbüßen. In einem Sondertrakt, umgeben von Häusern, in denen über 600 männliche Straftäter leben.

Ein hoch spannender Stoff für Filmemacher. Das dachte sich Reinhold Beckmann und lotete im November in der JVA Billwerder die Möglichkeit aus, dort eine Reportage zu drehen. Leiterin Rosemarie Höner-Wysk konterte mit einem Gegenvorschlag: „Haben Sie nicht Lust, mit Ihrer Band bei uns zu spielen?“

Man könnte sagen: typisch Höner-Wysk. Mails unterzeichnet sie gern mit „Grüßen aus der TAF“, die Abkürzung steht für „Teilanstalt für Frauen“. Das „TAF“ genauso klingt wie das englische „tough“, also hartnäckig, streng, aber auch widerstandsfähig, passt zu der resoluten wie herzlichen Chefin. Bei Bitten um Rückruf antwortet sie, dass es nach 18 Uhr am besten gehen würde. Diese Frau schaut nicht auf die Uhr, für die studierte Sozialwissenschaftlerin ist dieses Amt kein Beruf, sondern Berufung.

Vielleicht konnte die Idee, die da im November im kargen Büro der Leiterin keimte, auch nur deshalb aufgehen. Denn eigentlich passt ein solches Konzert so gar nicht in das extrem getaktete Leben gerade dieser JVA, wo vor zwei Jahren die Zusammenlegung von Frauen- und Männervollzug für großen Wirbel sorgte. Drei Meter hohe Sichtschutzwände schirmen die Bereiche voneinander ab. Wenn immer die weiblichen Gefangenen in die Werkstätten oder in die Sporthalle gehen, werden sie stets von Justizmitarbeitern begleitet, um das strikte Kontaktverbot zu den einsitzenden Männern durchzusetzen. Denn viele der inhaftierten Frauen waren Opfer schwerer sexueller Gewalt.

Nur Ständer und Kabel trennen Band und Publikum

Und ausgerechnet in diese streng reglementierte Welt steuern an einem sonnigen Wintertag Beckmanns Techniker ihren Transporter. Jedes Kabel, jedes Mikrofon, jeden Lautsprecher mussten sie zuvor anmelden. Als die Fotografin bittet, noch einmal das Ankommen ablichten zu dürfen, schließt zunächst das Nebentor, erst dann schieben sich die mächtigen Gittertore wieder zu – gleichzeitig dürfen sie nie geöffnet sein.

Auch Beckmann muss wie seine Bandkollegen und seine Roadies sein Handy abgeben, was beim Aufbau immer wieder für die Frage sorgt, wie spät es eigentlich ist – der gewohnte Blick auf die Smartphone-Uhr entfällt an diesem Nachmittag. Die Techniker bauen im Laufschritt die Anlage auf, die Zeit drängt, ab 17.30 Uhr dürfen sich nur noch Bedienstete und Strafgefangene in der Justizvollzugsanstalt aufhalten.

Beckmann spielt mit den Kollegen beim Soundcheck ein paar Lieder an. Über 100 Auftritte hat die Band in den vergangenen Jahren absolviert, gerade tourt die Gruppe wieder quer durch die Republik. Doch die Nervosität macht an diesem Tag auch vor einem wie ihm mit der Erfahrung von 624 Talksendungen mit 2000 Gästen und unzähligen Sportmoderationen nicht Halt. Seine vier Kollegen, allesamt exzellente Studiomusiker, die schon Superstars wie Peter Maffay begleitet haben, wirken ebenfalls angespannt.

Was wird uns jetzt gleich in diesem Raum erwarten, in dem sonst Gottesdienste stattfinden? Am Eingang liegen Rosenkränze und Gebetsbücher, die Wand bespannt ein buntes Misereor-Hungertuch, auf eigens aufgebauten Holzwänden pinnen kleine Zettel mit Notizen wie „Freiheit“ , „Unschuldig im System“ oder „Nie wieder herkommen“, geschrieben von Gefangenen. Eine richtige Bühne gibt es nicht, allein Mikro-Ständer und Kabel trennen Band und Publikum.

Begleitet von zwölf Justizmitarbeitern trippeln 40 Frauen dann aufgeregt schnatternd in den Saal. Die Sonne lugt zart durch die vergitterten Fenster, mehrere Dutzend Wand- und Deckenstrahler sorgen für Licht. Bei einen normalen Konzert würden sie jetzt ausgeknipst, Scheinwerfer würden Beckmann und Kollegen fortan ausleuchten. Aber Licht aus, Spot an in einem Gefängnis? Aus Sicherheitsgründen undenkbar.

Und so sieht Beckmann seinen Zuschauerinnen direkt ins Gesicht. Die meisten Insassinnen haben sich geschminkt, vielen sieht man ihre Drogen-Vergangenheit dennoch an, im weiblichen Strafvollzug haben drei von vier Gefangenen Suchtprobleme. Manche dürften in einem Supermarkt weder Alkohol oder Zigaretten kaufen – in Billwerder warten auch 16-Jährige Mädchen in der Untersuchungshaft auf ihren Prozess. Für die Frau im Hut würde man dagegen im Bus aufstehen, sie ist bereits 73. Genauso gemischt sind die Haftstrafen – sie reichen von ein paar Tagen für notorische Schwarzfahrerinnen, die ihre Geldstrafen nicht zahlen konnten und nun abbrummen müssen, bis zu lebenslänglich für verurteilte Mörderinnen.

„Wir sind sehr glücklich, dass wir heute Nachmittag für euch hier spielen dürfen, super, dass hier ausverkauft ist“, ruft Beckmann. Das Eis schmilzt nach den ersten Takten, bereits nach zwei Liedern eilt eine Gefangene zum Sänger und fragt, ob man anschließend ein gemeinsames Foto machen könne.

Nach 20 Minuten hat der Sänger den Saal komplett im Griff. Als er ein Lied mit dem Drama um den kleinen Flüchtling Aylan Kurdi anmoderiert, weinen manche Frauen – jeder im Saal kennt das Foto des dreijährigen Syrers, tot an einem Strand nahe der türkischen Touristenhochburg Bodrum angespült. Nach zwei, drei Balladen schaltet die Band einen Gang hoch. „Sitzen ist für den Arsch“, ruft Beckmann – und spätestens bei „Bremen“, seinem Lied über eine durchgefeierte Nacht an der Weser, tanzen alle. „Bei Männern hätten wir das nicht durchgehen lassen“, sagt einer der Justizbeamten später. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass die gute Stimmung plötzlich in Aggressionen umschlägt.

Beckmann bettelt um die Chance für Zugaben: „Wir sind eine junge Band und würden gerne länger spielen.“ Zwei weitere Lieder gestattet Rosemarie Höner-Wysk, doch dann gibt sie das Zeichen für den Aufbruch. Beckmann verschenkt Plakate und CDs, schreibt Autogramme, macht Erinnerungsfotos, auch mit den Justizbeamten. Und ist glücklich: „Der Aufwand hat sich gelohnt.“

Heute Abend wird Beckmann über das ungewöhnlichste Konzert seiner Karriere in der Talksendung „Lanz“ (ZDF, 23.15 Uhr) berichten. Rosemarie Höner-Wysk freut das, endlich werde mal auch im TV ein anderes Bild vom weiblichen Strafvollzug gezeichnet, sonst kontaminiert durch die Serie „Hinter Gittern – Der Frauenknast“, von 1997 bis 2007 ein Quotenhit auf RTL. 304 Folgen in einem Moloch von Gewalt, Eifersucht und Drogen. Mit Morden, Entführungen, Ausbruchversuchen nebst Affären mit Justizbeamten, in der Serie nur Schließer genannt.

„Meine Großmutter hat mich einmal gefragt, ob es hier bei uns wirklich so zugeht“, sagt Rosemarie Höner-Wysk. Ihre Antwort: Der reale Alltag in Billwerder ist weitaus unspektakulärer. Die anstaltseigenen Betriebe bilden in den Bereichen Gebäudereinigung, Gastronomie und Hauswirtschaft aus. Offenbar gut. Das Büffet, das die Auszubildenden an diesem Tag für die Beckmann-Band geliefert haben, sticht manches Angebot eines Partyservices aus, die dekorierenden Radieschen sind mit geradezu mi­kroskopischer Präzision geschnippelt.

Manche geraten sofort wieder auf die schiefe Bahn

Die Gefangenen fit machen für die Welt da draußen, das ist Rosemarie Höner-Wysks großes Ziel. Manchmal, sagt sie, ruft jemand an und erklärt stolz: „Ich habe es geschafft, ich sitze beim Supermarkt an der Kasse, verdiene mein eigenes Geld.“ Aber wer ihren Job macht, muss mit Rückschlägen umgehen können: „Es gibt Tage, da denke ich, unsere Gefängnistore sind Drehtüren.“ Manche Entlassene verkraften nicht die Rückkehr in das vertraute Milieu. Sie geraten direkt wieder auf die schiefe Bahn, obwohl sie eine gute Ausbildung in der Haft machen konnten.

Umso wichtiger sind Nachmittage wie diese. Mit einem Musiker, der auf eigene Kosten kommt, für Abwechslung im eintönigen Gefängnisalltag sorgt. Auch Tage später, sagt Höner-Wysk, sei das Konzert das große Thema gewesen. Manche Frauen hätten sich schwarz geärgert, dass sie sich nicht angemeldet hätten. In vielen CD-Playern in den Zellen dreht sich die neue Beckmann-CD nun in einer Endlosschleife.

„Das Konzert klingt in mir nach wie kaum ein anderes“, sagt Beckmann. Im April wird er weiter mit der Band touren, nach Frankfurt/Oder, nach Lutterbeck, nach Rotenburg/Wümme. Licht aus, Spot an. „So viel gewagt, so oft versagt. Das Leben hat verrückt gespielt“, wird Beckmann dann wieder Abend für Abend singen, eine Ballade von seiner neuen CD. In der Anstaltskirche von Billwerder klang es, als habe er diese Zeilen eigens für diesen Nachmittag geschrieben.

Termin: Am 15. April (19 Uhr) spielt Reinhold Beckmann mit seiner Band im Schmidt Theater am Spielbudenplatz (Karten für 19,80 bis 29,70 Euro, zuzügl. Gebühren), Karten im Internet unter anderem bei: www.tivoli.de