Dominik Bloh lebte jahrelang in Hamburg auf der Straße. Als er sich in der Flüchtlingshilfe engagierte, bekam er die Chance, sein Leben neu zu ordnen. In einem Buch erzählt er seine Geschichte.

Wenn er auf der Bank sitzt, hat er das ganz große Hamburg-Panorama direkt vor sich. Hafen. Landungsbrücken. Elbphilharmonie. Im Rücken hat er die Palmen aus Stahl. So mag er es. Der Park Fiction sei sein zu Hause, sagt Dominik Bloh. Sein Buch heißt „Unter Palmen aus Stahl“, er hat es auf der Panorama-Bank geschrieben. Als die schlimmste Zeit vorbei war, die, in der er immer nur den nächsten Schritt im Blick hatte. Wo kann ich mich waschen, wo gibt es eine Suppe für mich, wo ein bisschen Wärme?

Der Wind tut weh an diesem Februartag. Der Park ist kaum besucht, aber die wenigen, die da sind, kennt Bloh. Den Mann im Rollstuhl mit dem kleinen Hund etwa, der am Basketballfeld steht und ein paar Jungs beim Spiel zuguckt. „Das macht er immer“, sagt er, das Lächeln eingerahmt vom Bart. Es klingt ein bisschen Stolz mit, wie es so ist, wenn jemand sein Zuhause zeigt.

Die Mutter warf ihn raus, da war er 16 Jahre alt

Hier hat er sein Leben geordnet. Gemerkt, dass er Bücher mag. Und dass er sein wichtigstes Talent die ganze Zeit in sich hatte: Schreiben. „Hier bin ich das erste Mal zur Ruhe gekommen“, sagt er. Er konnte Hip-Hop hören, seine Musik, und mitrappen, so laut er wollte. Früher hat er hier auch geschlafen, aber nun hat er eine Wohnung. Seine erste eigene.

Elf Jahre lang war Bloh immer wieder obdachlos. Seit seine überforderte, psychisch kranke Mutter ihn rausgeworfen hatte. Da war er 16. Jetzt ist er 29. Stift und Papier hatte er von Anfang an dabei. Geschrieben hat er seit seiner Kindheit, in der so vieles schieflief, in der er vom Stiefvater geschlagen wurde und anfing zu klauen und zu lügen. Nur eins war immer gut: Oma und Opa. „Die haben immer an mich geglaubt“, sagt er. Sie konnten ihn nicht vor allem Schlechten in seinem Leben bewahren, aber sie haben ihm offenbar etwas mitgegeben, was später eine Art Kompass wurde.

Sein Abi machte Bloh nach, ohne ein Zuhause zu haben. Eine große Leistung. Aber als das erreicht war, war er lange ziellos. Im Rotlichtmilieu hätte er was werden können. Einer, der dort was zu sagen hatte, nahm ihn unter seine Fittiche, da war Bloh Anfang 20. Eine Weile machte er mit. Arbeitete, feierte, übernachtete nicht mehr draußen, sondern im Seemannshotel oder irgendwo auf dem Kiez zur Zwischenmiete. Bis er merkte: Das ist nicht seine Welt. Zu viel leere Angeberei und ein falsches Frauenbild. Woher kamen solche Gewissheiten? Alles von Oma, sagt er. Sie starb, bevor er auf der Straße landete.

Abschied vom Rotlichtmilieu hieß: zurück auf die Straße. Alles, was er besaß, in seiner schwarzen Tasche mit sich herumtragen. Die Tasche als Kopfkissen, den Gurt um die Brust gelegt, damit sie ihm niemand entreißen konnte.

Heute hält der 29-Jährige alles für möglich. Obwohl er jeden Tag aufs Neue kämpft aufzustehen und weiterzumachen. Als er ganz unten war, habe er manchmal auf einem Hochhaus auf St. Pauli gestanden und gedacht: Jetzt spring ich. Er hat es nicht getan. So seien die Menschen, sagt er. Überall auf der Welt. Selbst im größten Elend wollten sie noch überleben. Weil das Leben es wert sei. „Das Leben ist einfach ein wunderschöner Kampf.“ Das sind so Sätze, mit denen er einen überrascht.

Er ist ein klarer Typ. Ist eine Frage zu vollgepackt, sortiert er sie erst einmal auseinander und beantwortet die Aspekte der Reihe nach. Unsicher zu sein, wenn ein Obdachloser Hilfe benötige, sei normal, sagt er zum Beispiel. Er selbst atme dann einfach dreimal tief durch, um den Rest der Welt auszublenden, sammle Mut, und spreche die Person dann an.

Sich zu schämen für das, was man selbst hat, während andere arm sind, sei nicht nötig. Man müsse eben nur zusehen, dass man das Richtige mache. So wie der Gründer der Stiftung Dekeyser & Friends, Ex-Fußballprofi und Unternehmer Robert „Bobby“ Dekeyser. Seine Stiftung hat Bloh die Wohnung besorgt. Ihm eine Chance auf einen Neuanfang gegeben. Es sei doch egal, wie reich Dekeyser sei, wenn er außerdem Gutes tue.

Auf dem Weg zur Reeperbahn steht am Straßenrand unübersehbar ein fetter Sportwagen. „Früher hätte ich erst mal die Felgen ausgecheckt, ich hätte gedacht, so was macht das Leben lebenswert“, sagt Bloh. „Gestern hab ich einen Zahnstocher in eine Avocado gesteckt und hoffe jetzt, dass da ein Sprieß rauskommt.“ Neue Prioritäten: die kleinen Dinge. Die Natur. Das Singen der Vögel. Klingt nicht mal kitschig, wenn er das sagt, sondern einfach und echt.

Kalte Hände nach einem einstündigen Gang über den Kiez, kaum auszuhalten, jetzt schnell rein ins Warme. In seinem Buch steht, dass er die Finger in den Mund gesteckt hat früher, weil das der einzige warme Ort war und er dachte, sie würden sonst abfallen. Nachts, draußen, im Winter.

2000 Obdachlose gibt es nach Schätzungen der Diakonie in Hamburg. „Was ist so schwer daran, die von der Straße zu holen?“, fragt er beim Burgeressen. Die Wohncontainer, in denen vor zweieinhalb Jahren die Flüchtlinge untergebracht worden waren, stünden doch leer.

„Housing first“, heißt ein Konzept aus den USA, an das Bloh glaubt und für das er wirbt. Die Menschen von der Straße holen, ohne Druck und Bedingungen, ihnen eine eigene Wohnung geben. Dann erst könnten sie ihr Leben neu ordnen. Wenn sie nicht mehr damit beschäftigt seien, nur den nächsten Augenblick zu überleben.

Er sagt, er habe in seinem Leben viele falsche Entscheidungen getroffen. Die Schuld an dem, was bei ihm schieflief, schiebt er nicht auf andere, dabei hätte er dafür nachvollziehbare Gründe. Seine Entscheidungen: Als Jugendlicher hat er mit Drogen gedealt, später auch noch mal, als er dringend Geld brauchte. Als 18-Jähriger hat er bei der Bank Verträge unterschrieben, die er nicht erfüllen konnte, und er hat auf Raten zu viele Dinge gekauft, die er sich nicht leisten konnte. Einen Laptop, oder, in einer kurzen WG-Phase, Möbel. „Ich hab mich mein Leben lang verglichen mit anderen, und ich wollte so auch sein und hab mich verstellt. Das war nicht ich.“

Die Zeit, in der er nicht er selbst war, lässt ihn noch nicht los. Er arbeitet dran, alte Schulden abzubezahlen. Gerade erst hat er einen Betrag beglichen, der seit 2011 offen war. Gutes Gefühl. Das Neueste sei, dass die Krankenversicherung 5000 Euro von ihm wolle, Nachzahlung für die Zeit auf der Straße. Er sei aber nicht krankenversichert gewesen, sagt er. Rundfunkbeitrag soll er auch noch rückwirkend abliefern. Jetzt, wo sie wissen, wo er wohnt.

Jetzt hat er Menschen um sich, die ihm helfen

Das Ankommen im neuen Leben ist kompliziert. In praktischer Hinsicht und in seelischer. „Die Straße bleibt im Kopf“, sagt er. Seine Wohnung ist kaum eingerichtet, die Küche mag er nicht benutzen. Das nervt ihn. Er wird daran arbeiten können, mit einem Profi, denn er hat jetzt einen Platz für eine Psychotherapie. Bald geht es los.

Sein neues Leben bedeutet eben auch: Er hat ein Netzwerk von Menschen, die ihn unterstützen. Die Leute von der Dekeyser-Stiftung und die vom Ankerherz Verlag, die sein Buch herausgebracht haben und seinen Blog „Ankerschmerz“. Die Kollegen an der Schule, an der er als Honorarkraft arbeitet. Ein Ort für Jugendliche mit komplizierten Biografien und wenig Perspektive.

Er kennt ihn gut: Als Schüler flog er selbst hier raus. Zu viele Fehlstunden, zu wenig Glauben an sich selbst. Und weil es eine Maßnahme vom Jobcenter war, bekam er eine 100-Prozent-Sanktionierung. Null Euro hieß das, und schon war er wieder auf der Straße. Solchen Jungs wie er selbst einer war, halt- und perspektivlos, kann er heute erzählen: „Ich war da, wo du warst, und heute zahlen die meine Miete.“

Eines seiner Tattoos zeigt die Worte Liebe, Glaube, Hoffnung. „Wenn die Liebe geht, zu jemand anderem oder zu dir selbst“, sagt er, „bleibt der Glaube. An dich selbst, an deine Möglichkeiten. Und die Hoffnung kommt, wenn alles andere weg ist. Von der Hoffnung zehrst du, bis du den Glauben wiederfindest.“ Er hat auch ein Ankerherz-Tattoo. Dass er dann Autor im Ankerherz Verlag wurde – Hammer. Bloh glaubt an sich schließende Kreise.

Er hat lange von der Hoffnung gelebt. Bis 2015, als so viele Flüchtlinge auch nach Hamburg kamen. Er wusste, dass er ihnen etwas geben kann. Er wusste, er kennt den Frust, die Angst, die Unsicherheit, die sie erleben mussten. Er engagierte sich. Lebte, einen anderen Ort hatte er ja nicht, mit 1300 Flüchtlingen in den Messehallen und half mit, ihre Ankunft zu organisieren. Über seinen Einsatz als Helfer wurde die Stiftung auf ihn aufmerksam – Bahn frei für sein neues Leben.

Es steckt immer noch in den Anfängen. Aber Türen haben sich geöffnet, und er kann durchgehen. Darum erzählt er von sich und seinem Leben. Weil er möchte, dass die Türen sich auch für andere Menschen öffnen.

Es ist immer noch kalt draußen in Hamburg. Aber Dominik Blohs Kleidung ist trocken und warm.