Lydia Smuda ist mit 111 die älteste Hamburgerin. Sie hat geschafft, wovon viele träumen: trotz ihres hohen Alters jung zu bleiben. Ein Besuch

Sehr behutsam nimmt Lydia Smuda das Glas Weißwein in ihre Hände und dreht es ganz leicht. Dabei blickt sie es nachdenklich an, als sehe sie darin etwas. Vielleicht ein Bild aus alten Zeiten? Womöglich erinnert sie der Wein an einen dieser lauen Sommerabenden, als sie mit ihrem Hans picknickte und er um die Gunst seiner späteren Ehefrau warb. Vielleicht denkt sie an einen ihrer schönen Geburtstage zurück, von denen die 111-Jährige schon so viele hatte. Oder sie erinnert sich an ihre Zeit als Kindermädchen zu Zeiten des preußischen Reiches, als sie sich in guten Häusern um die Erziehung der Nachkommenschaft bemühte.

„Ja, ich habe schon ein Leben zusammenbekommen“, sagt Lydia Smuda plötzlich, trinkt einen Schluck und seufzt zufrieden. In der Tat hat die älteste Hamburgerin sogar das derzeit längste Leben aller Bewohner der Stadt geführt. 111 Jahre – trotz des einen oder anderen Gebrechens und ihres hohen Alters wirkt die zierliche Dame in ihrem Rollstuhl an diesem Abend ausgesprochen lebensfroh. Und sie ist sehr gut aufgelegt.

Das liegt daran, dass ihr langjähriger Arzt Andreas Soyka und seine Frau Fitnat sie zu einem Ausflug in ihr Lieblingsrestaurant abgeholt haben. Vor Jahren haben die beiden die Betreuung für Lydia Smuda übernommen und sie in ihrer Familie als Adoptivoma willkommen geheißen. Man schätzt sich, und man kennt sich sehr gut. Ein Beispiel? Für 19 Uhr hatten sich die Soykas bei Lydia Smuda angesagt, um 19.01 Uhr klingelte das Telefon von Fitnat Soyka in ihrem Rissener Reihenhaus. „Oh, wir sind zu spät. Das ist Frau Smuda“, prophezeite die 58-Jährige. Fitnat Soyka weiß, wie sehr die 111-Jährige Unpünktlichkeit hasst und wie bestimmt die ehemalige Lehrerin und Erzieherin auftreten kann. Und so brach man gemeinsam lieber ganz schnell zur Seniorenwohnanlage nach Osdorf auf.

Im Rosenhof lebt Lydia Smuda seit fünf Jahren. Zuvor hatte sie noch sehr selbstständig in Winterhude gewohnt. Mit 105 Jahren hängte sie sogar ihre gewaschenen Gardinen selbst wieder auf, wie Dr. Andreas Soyka erinnert. Nach einem Sturz und mithilfe der Soykas bezog sie ihre Wohnung in Osdorf. Dort sitzt Lydia Smuda an diesem Abend bereits abfahrbereit. Als der sehnlichst erwartete Besuch endlich eintrifft, sagt sie gleich: „Ich habe zweimal angerufen. Ich dachte schon, dass ich mich mit dem Tag geirrt habe.“ Nein, bei so etwas irrt sich die 111-Jährige nicht, und Fitnat Soyka muss ein paar entschuldigende und beruhigende Worte finden.

Um 19.30 Uhr ist das Ziel erreicht. Im Fischclub auf dem Blankeneser Ponton ist die alte Dame zu gern. Hier ist die Jahrhundert-Lady bekannt. Der Chef begrüßt sie persönlich. Das gefällt ihr. Die angebotene Speisekarte lehnt sie allerdings prompt ab. Was sie esse, entscheide ihr Arzt. „Er weiß am besten, was mir bekommt“, stellt sie klar. Andreas Soyka bestellt das Übliche: Weißwein – ein Grauburgunder – Pannfisch und zum Nachtisch Sorbet, weil es diesmal zum Bedauern der 111-Jährigen keine rote Grütze gibt. Nach dem Anstoßen taut Lydia Smuda sichtlich auf. Mit Blick auf die großen Pötte, die am Fenster vorbeischippern, erzählt sie von ihrem Leben, und sie hat so viel erlebt.

Am 7. November 1906 wurde Elisa Emma Lydia, wie sie mit vollem Namen heißt, in Remscheid geboren. Als Tochter der Fabrikantenfamilie Berger wächst sie gut behütet und – typisch für die damalige Zeit – streng erzogen auf. „Wir hatten nichts zu sagen, nur zu gehorchen“, erklärt die 111-Jährige, die mit drei Geschwistern aufwuchs. Zwei stammen aus der ersten Ehe ihres Vaters. Das sportliche Mädchen aus gutem Haus muss sich früh behaupten lernen. Das kommt ihr auch später zugute.

Dank der finanziell gut aufgestellten Familie kann sie ein Internat besuchen. Im Alter von 19 Jahren besteht sie ihr Examen zur Erzieherin und Lehrkraft. Sie verlässt ihr Elternhaus, um als Kindermädchen und später als Erzieherin und Hauslehrerin zu arbeiten. Ihr familiärer Hintergrund öffnet ihr die Türen zu ebenfalls guten Häusern. Sie arbeitet unter anderem für einen Kommerzienrat, kümmert sich um die Kinder der Gräfin Schulenburg-Wolfsburg, wie ihre guten Zeugnisse belegen.

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges leitete sie ein Kinderheim in Thüringen – allerdings nur neun Monate lang. Hals über Kopf musste sie fliehen, weil sie gegen einen NS-Mann aufbegehrt und ihn geohrfeigt hatte. Ein Kinderarzt, der selbst mit seiner Frau in der Nacht floh, warnte sie vor dem drohenden Unheil, brachte sie bis zur Bahn und zahlte ihr Ticket. Eine Schuld, die Lydia Smuda bis heute sehr beschäftigt, weil sie sich nicht begleichen konnte. „Einfach furchtbar war das mit den Nazis“, sagt sie.

1942 heiratete sie ihren Hans (Rudolf Smuda) in Remscheid, allerdings nur standesamtlich, weil sie katholisch und er evangelisch ist. Ihre Konfession stieß bei den Schwiegereltern auf wenig Gegenliebe. Wegen des Krieges verschlägt es das Paar nach Hamburg, wo die beiden dann auch bleiben. Ihr Mann, der hier für verschiedene Restaurants arbeitet, wird wegen seiner chronischen Nierenerkrankung nicht eingezogen. 1982 stirbt er. Das Paar bleibt kinderlos. Für Lydia Smuda sind die Kinder, die sie miterzogen hat, irgendwie ihre Kinder, wie sie sagt.

„Man hat schon ganz schön was mitgemacht“, grübelt die kleine ältere Dame nachdenklich. Um genau zu sein hat die älteste Hamburgerin zwei Weltkriege, das Ende der Monarchie, vier Währungen, Wirtschaftskrisen und goldene Jahre, Hitlers Machtergreifung und seinen Untergang, die Nürnberger Prozesse, die Berliner Luftbrücke, den Aufbau der Mauer und ihren Fall, sieben Bundeskanzler und eine Kanzlerin (über)erlebt. Sie hat den Zerfall Europas und die Bemühungen um eine friedliche Vereinigung beobachten können. Wer kann das schon von sich behaupten?

In Deutschland sind es sehr wenige, so viel ist klar. Eine offizielle Statistik darüber, wie viele Menschen im Land so alt sind wie die Hamburgerin, gibt es nicht. Wertet man Medienberichte aus, so findet sich der Verweis auf eine 112-Jährige und sechs weitere in Deutschland lebende Frauen, die ebenfalls 111 Jahre alt sind.

Ihr an sich bemerkenswertes Alter merkt man Lydia Smuda in diesem Moment im Blankeneser Fischclub nicht an. Sie genießt den Abend in vollen Zügen. Als dann auch noch der langjährige Blumenverkäufer der Elbvororte erscheint und ihr charmant eine Rose schenkt, ist sie hin und weg. Da blitzt wieder der ihr so eigene scharfsinnige Humor durch. „Es kommen Zeiten, die einem gefallen“, sagt sie und setzt nach: „Die anderen kommen auch.“

Gefallen haben ihr eindeutig ihre Geburtstage. Zum letzten gratulierte ihr Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD). Zuvor bekam die Boxbegeisterte als nachträgliches Geburtstagsgeschenk Besuch von Vladimir Klitschko – ein einmaliges Zusammentreffen einer kleinen schlagfertigen Dame mit einem großen herzlichen Boxer. Fast ein Jahrzehnt zuvor war sie auf einem festlichen Empfang im Atlantic eingeladen. Anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Hotels wurden Hamburgs 100-Jährige eingeladen. So kam Lydia Smuda kutschiert in einer Limousine zur Feier. „Ich hatte tolle Geburtstage. Besser geht’s doch nicht. Wer wird schon so gefeiert?“, freut sie sich.

An diesem Abend feiert sie irgendwie auch – und zwar das Leben. Sie macht vor, wie man mit 111 Jahren noch jeden guten Moment auskosten kann. Um 22 Uhr sitzt sie noch fröhlich am Tisch, während alle anderen Gäste schon weg sind. Sie beklagt sich nicht, bedankt sich vielmehr für den „dollen“ Abend und stößt mit ihren gefundenen Freunden fürs Leben – den Soykas – auf das schöne Essen an. Noch einmal blickt sie das Weinglas in ihren Händen an und entlässt einen mit einer weiteren Weisheit ihres langen Lebens in die Nacht: „Wasser ist das beste Getränk der Welt. Ich nehme lieber das zweitbeste.“