2006 erlebte ein Ehepaar aus Volksdorf die große Tragödie. Ihre geliebte Anna wurde von ihrem krankhaft eifersüchtigen Freund erwürgt. Wie eine Familie ihren Weg aus der Trauer fand

Das Fotoalbum, grün eingeschlagen, hütet Astrid H. wie einen Schatz. „Dieses Buch ist meine Bibel“, sagt sie. Die Bilder zeigen ein glückliches Paar beim Urlaub auf den Kanaren, beim Städtetrip in Berlin, bei einer WM-Party in Hamburg. Anna, ihre Tochter, strahlend schön. Wiliam, Annas Freund, schwarze Locken, braun gebrannt. Es ist ein Album der Liebe. Und des Todes. Am 16. Oktober 2006 starb Anna, erwürgt von ihrem krankhaft eifersüchtigen Freund. Und fünf Tage später starb Wiliam. Der Brasilianer nahm sich in der Untersuchungshaft das Leben.

Mehr als elf Jahre später tauchen Kerzen das Wohnzimmer der Familie H. in warmes Licht. Eine kleine Seitenstraße in Volksdorf, gutbürgerliche Gegend. Rechts neben dem Fenster hängt eine Strichzeichnung von Annas Gesicht, die Mutter, gelernte Grafikerin, hat es gezeichnet. Darunter der Schriftzug: „Life is, what you make of it.“ Leben ist, was du daraus machst. „Das war Annas Lebensmotto“, sagt Niels H., Notar im Ruhestand. Viele Jahre hat das Ehepaar über die Tragödie seines Lebens öffentlich nicht mehr gesprochen. Die Eheleute machen gegenüber dem Abendblatt eine Ausnahme, weil ihnen ihr Anliegen wichtig ist. Auch nach der größten denkbaren Katastrophe, dem Verlust des Kindes, kann das Leben noch erfüllend und sinnstiftend sein.

Doch um diese Geschichte zu begreifen, muss man zurück an ihren Anfang, an einen nieseligen Novembertag im Jahr 2005 auf dem Flughafen Fuhlsbüttel. Im Flieger nach Fuerteventura sitzt Anna H., 28. Beruflich erfolgreich, anerkannte Projektleiterin bei der Agentur Edelman, verantwortlich für die Werbung der Kosmetikmarke Dove. Die Kampagne, die auf fülligere Frauen setzt, ist ihr Werk. Privat geht es ihr gerade nicht so gut. Sie hat sich getrennt von ihrem langjährigen Freund, den lang mit ihm geplanten Rucksack-Urlaub in Thailand storniert. Stattdessen will sie jetzt eine Woche Sonne tanken auf den Kanaren. Am vorletzten Abend lernt sie in der Disco Wiliam F. kennen, der sich im Hotel als Haustechniker verdingt.

Die Mutter findet ihre Tochter erwürgt im Badezimmer

Es ist eine Geschichte à la Rosamunde Pilcher. Erfolgreiche Werberin, wohlsituiertes Elternhaus, heile Welt, verliebt sich in einen 24-Jährigen aus einem brasilianischen Armenviertel, Mutter Verkäuferin, Vater Landwirt. Silvester sehen sie sich wieder auf den Kanaren, im April kommt Wiliam zum ersten Mal nach Deutschland. Er bleibt gleich da, illegal, zieht mit seiner ganzen Habe, gestopft in einen Rucksack, zu seiner Anna in ihre kleine Wohnung in Kampnagel-Nähe. Nach außen versprüht das Paar pure Lebensfreude, Annas Freundinnen amüsieren sich bei Restaurant-Besuchen, wenn die beiden vor lauter Knutschen das Bestellen fast vergessen.

Ab und an zerkratzen hässliche Szenen die Bilder des Glücks. Wenn Anna kurz mit einem anderen Mann redet, wird Wiliam sofort wütend, wirft mitunter aus lauter Wut ein Glas um. Dann wieder die leidenschaftliche Versöhnung, ein Foto im Album zeigt Annas Bett mit Rosenblättern bedeckt. Nur selten redet Anna gegenüber einer ihrer engsten Freundinnen über Wiliams rasende Eifersucht, seine Gewalt. Und stets bittet sie: Behalte es bitte für dich. Am 15. Oktober 2006, einem Sonntagabend, offenbart sich Anna dann gegenüber ihren Eltern. „Es geht so nicht weiter, ich muss mich von Wiliam trennen“, sagt sie im Wohnzimmer. Die Eltern wollen, dass die Tochter über Nacht bei ihnen bleibt. Doch Anna will die Aussprache noch am selben Abend, sie ist doch die Powerfrau, die jedes Problem löst.

Was in dieser Nacht genau geschieht, wird immer ein Geheimnis bleiben. Als am nächsten Morgen eine Agenturmitarbeiterin bei Familie H. anruft und sorgenvoll fragt, wo Anna sein könnte, sie sei nicht ins Büro gekommen, fährt die Mutter mit einer dunklen Vorahnung nach Barmbek, öffnet die Wohnung mit ihrem Zweitschlüssel. Im Badezimmer entdeckt sie in einer Blutlache ihre Tochter. Erwürgt, wie die Rechtsmediziner später feststellen werden. Die Polizei nimmt Wiliam wenige Stunden später fest, er gesteht die Tat sofort.

Die Tage danach – ein einziger Albtraum. Die Mutter räumt mit einer Freundin Annas Wohnung aus, allein, sagt sie, hätte ich das nicht geschafft. Der Vater muss auch noch ein letztes Mal hin, die Polizei braucht das Ladegerät für das Handy. „Das Blut im Bad war noch immer nicht weggewischt“, sagt er. Reporter klingeln Sturm, betteln um Fotos von „der Bestie“. Sie können nicht wissen, dass Wiliam sich nur vier Tage später in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis das Leben nehmen wird. Er zerreißt das Bettlaken, knotet es zu einem Strick und erhängt sich am Fenstergitter. In seinem Abschiedsbrief bittet er um Verzeihung: „Es tut mir aus tiefster Seele leid. Ich habe die Frau meines Lebens getötet. Ich gehe in ein anderes Leben, um mit Anna zu sein.“

Dann die Trauerfeier für Anna. Rosen schmücken den braunen Sarg auf dem Bergstedter Friedhof, die Kapelle reicht nicht für die 350 Trauernden, Lautsprecher übertragen die Rede von Propst Helmer-Christoph Lehmann, einem Freund der Familie. Er hat Anna getauft, konfirmiert und muss sie nun begraben. „Warum trifft es ausgerechnet Menschen wie Anna?“, fragt er. Immer wieder versagt seine Stimme.

„Im Prinzip hatten wir in dieser Phase nur zwei Möglichkeiten“, sagt Niels H. in seiner bedächtig-ruhigen Art: „Entweder wir ziehen die Vorhänge zu und verkriechen uns für den Rest unseres Lebens in unserem Leid. Oder wir versuchen, irgendwie ein neues Leben zu beginnen.“

Kraft schöpfen sie ausgerechnet im Trösten von anderen. Annas engste Arbeitskolleginnen kommen zu Besuch, fragen tränenüberströmt: „Wie sollen wir ohne Anna nur weiterleben?“ Sie kennen die Eltern gut, wann immer Anna zu einer Party einlud, waren Mama und Papa dabei.

Astrid H. schüttelt den Kopf, wenn sie an die Situation vor mehr als elf Jahren denkt: „Ich hatte als Mutter gerade mein Kind verloren. Und sollte nun für ihre Freundinnen da sein.“ Die gemeinsame Trauer verbindet so sehr, dass sich jedes Jahr im Dezember die Fensterbank fast biegt unter den Geschenken, die Annas Freundinnen für jeden Adventstag gekauft haben. Als Astrid H. einmal klagt, dass sie ja nach Annas Tod nun keine SMS mehr bekommen wird, brummt ihr Handy fortan fast im Stundentakt. Aus allen Erdteilen schicken die Freundinnen fortan Urlaubsgrüße.

„Sie sind unsere Ersatztöchter“, sagt Niels H. Jeden ersten Weihnachtsfeiertag wird es turbulent im Haus in Volksdorf, die Freundinnen bringen inzwischen zum traditionellen Essen ihre Partner und Kinder mit. Auch Kristina Erichsen-Kruse, Vorstand des Weißen Rings Hamburg, zählt seit Jahren zum Freundeskreis. Sie hatte am dritten Tag nach der Tat bei den H. geklingelt, ein Alpenveilchen in der Linken. „Die Gespräche mit ihr haben uns viel gegeben“, sagt Astrid H. „Und mein Mann“, sagt sie dann, „hat zum Glück die Stiftung.“

Wahrscheinlich ist in Hamburg noch nie eine Stiftung so schnell gegründet worden wie die Stiftung, die den Namen der Tochter trägt, bereits in der Traueranzeige bat die Familie um Spenden. „Da hat sich mein Netzwerk ausgezahlt“, sagt Niels H., der als Notar viele Stiftungen juristisch begleitete. Die Saat für dieses Projekt hatte Anna gestreut. „Papa, uns geht es so gut, lass uns gemeinsam Menschen helfen, die in Not geraten sind“, hatte sie einmal gesagt.

Für den Tränenstrom reichtein Bild, eine Erinnerung

Hier die fantasievolle Werbeexpertin, die bei einer Spaß-Marketing-Aktion sogar mal festgenommen wurde – gemeinsam mit Kolleginnen hatte sie im Auftrag eines Putzmittelherstellers das Amtszimmer des Stuttgarter Bürgermeisters für eine Reinigung stürmen lassen. Dort der akribische Notar – es wäre das perfekte Duo gewesen. Nun muss sich Niels H. alleine kümmern. Er ist dabei so penibel, wie es sein Beruf verlangt. Der Verein Dolle Deerns zum Beispiel, der in sozialen Brennpunkten vernachlässigte oder misshandelte Frauen unterstützt, muss ihm selbst Rechnungen für gekaufte Zahnbürsten vorlegen. „Ich bürge schließlich mit meinem guten Namen dafür, dass alle Gelder zu 100 Prozent ankommen“, sagt H. Mit 300.000 Euro hat die Stiftung in zehn Jahren 50 Projekte unterstützt. „In dieser Stiftung lebt Anna weiter“, sagt Astrid H.

Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass die beiden sich nach 46 Ehejahren noch immer sehr gern haben. Viele Familien zerbrechen in der Trauer um den Verlust des Kindes, die H. hat der Verlust noch enger zusammengeschweißt. Annas jüngerer Bruder Jan-Henrik, er arbeitet bei der Hamburger Tafel, ist nach dem Tod seiner Schwester vorübergehend wieder zu den Eltern gezogen, eine Wohngemeinschaft der besonderen Art. Zwei Katzen und ein Hund inklusive.

Womöglich hat der Familie auch geholfen, dass sie schon einmal den Weg aus einer tiefen Trauer gefunden hat. 1980 stand das Ehepaar am Familiengrab in Volksdorf, als sich ein kleiner weißer Sarg in den Boden senkte. Steffen, Jan-Henriks Zwillingsbruder, war im Alter von einem halben Jahr gestorben, Spätfolge des dramatischen Sauerstoffmangels bei der Geburt. „Damals habe ich gedacht, dass ich eine solche Situation ein zweites Mal nicht überleben werde“, sagt Astrid H. Doch in gewisser Weise habe sie dieses erste große Drama für die Zeit nach Annas Tod gestählt.

Verheilen wird die Wunde dennoch nie. Wenn sie Annas Geburtstage mit ihren Freundinnen feiern, wechselt die Stimmung mitunter binnen Minuten. Für den Tränenstrom reicht ein Bild, eine Erinnerung. Die Frage nach dem Warum bricht immer wieder auf, die Selbstvorwürfe reißen auch über elf Jahre nach diesem letzten Abend im Oktober 2006 nicht ab. „Wir hätten Anna an diesem Sonntag nicht allein fahren lassen dürfen“, sagt der Vater. „Du weißt doch, dass Anna immer ihren eigenen Weg gegangen ist“, entgegnet die Mutter. „Dann hätten wir sie eben hier festbinden müssen“, antwortet der Vater, wohl wissend, dass jemand mit diesem Freiheitsdrang sich niemals hätte etwas befehlen lassen.

Beim Abschied zeigt Niels H. noch Fotos von Annas Grab, Blumen und Grabstein vereinen sich zu einer aufgehenden Sonne. „Als passionierter Segler war mir Gartenarbeit immer zuwider, von mir aus hätte man unseren Garten auch zubetonieren können“, sagt er. Und nun hegt und pflegt er Annas Grab mit fast notarieller Akribie. Auch so ein neuer Weg aus dem Reich der Trauer. Noch etwas ist ihm wichtig. Anna, sagt er, hat das Leben geliebt. Und in ihren 29 Jahren hat sie mehr erlebt als andere in einem ganzen Leben.

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