Manfred Lahnstein war Chef des Bundeskanzler-amts, deutscher Finanz-minister und danach Vorstand bei Bertelsmann. Nun ist er 80 Jahre alt geworden. Ein Gespräch über die SPD, die Freiheit und seine Wahlheimat

In Manfred Lahnsteins Büro beim Bucerius Kunstforum am Alten Wall finden sich unzählige Bücher – darunter die gesamte Ausgabe des Bertelsmann-Lexikons oder umfangreiche JudaiKa. Signierte Schwarz-Weiß-Fotos zeigen Wegbegleiter des Politikers und Managers: Willy Brandt, Johannes Rau, Helmut Schmidt. Auf dem Schreibtisch liegt seine Rede zum Symposium „Über die Freiheit“, das die „Zeit“-Stiftung aus Anlass des 80. Geburtstags ihres Kuratoriums- vorsitzenden veranstaltet.

Herr Lahnstein, Sie waren Gewerkschafter, Europapolitiker, Sozialdemokrat, Kämpfer gegen Antisemitismus – können Sie in diesen Zeiten eigentlich noch gut schlafen?

Manfred Lahnstein:: Ich schlafe ganz gut. Aber der gegenwärtige Zustand der SPD bedrückt mich. Wir hatten zwar immer schon Genossen, die lieber 100 Prozent erträumt haben, als 50 Prozent zu verändern. Ich bin seit 1959 in der SPD – aber so etwas wie jetzt habe ich noch nicht erlebt.

Worin sehen Sie die Krise der SPD?

Ein Grund liegt in dem Drang, zu allen Themen ausgiebig die Basis zu hören. Bei der Bundestagswahl haben die Menschen, wie es das Grundgesetz vorsieht, ihre Abgeordneten gewählt. Nun aber kommt ein anderer Prozess in Gang; die Parteien überspielen das Parlament. Die SPD hat am Wahlabend beschlossen, in die Opposition zu gehen, nicht etwa ihre Vertreter im Bundestag. Psychologisch war das verständlich, politisch ein Fehler. Vor Kurzem musste ein Parteitag entscheiden, ob man mit dem bisherigen Koalitionspartner zumindest Sondierungsgespräche führen darf! Nun brauchen wir am Sonntag einen weiteren Parteitag, um darüber zu beschließen, ob Koalitionsgespräche geführt werden dürfen. Und dann sollen am Ende die Mitglieder entscheiden, ob es auch eine Koalition gibt. Das begreifen viele nicht mehr. Ich auch nicht.

Warum fesselt sich die SPD freiwillig?

Da ist eine innere Schwäche zu sehen. Es greift aber zu kurz, diese immer nur am Vorsitzenden festzumachen. Der Hamburger SPD-Fraktionschef Andreas Dressel hat kürzlich sinngemäß gesagt, die Position in der SPD sei oft dort am radikalsten, wo die Partei am wenigsten bewegt. Da ist viel Wahres dran. Wo die SPD stark und in der politischen Verantwortung ist, läuft die Diskussion anders.

Das wäre für die SPD ein Teufelskreis: Eine Volkspartei ist sie kaum noch, als 20-Prozent-Partei aber verpasst sie die Themen, die sie wieder zur Volkspartei machen könnten.

Darin liegt zumindest ein großes Risiko. Der Prozess der Koalitionsbildung könnte selbst bei einem positiven Ende bis Ostern dauern. So lange wird die SPD mit sich selbst beschäftigt sein, aber keine positiven Impulse setzen können. Die Reaktion der Öffentlichkeit kann man sich ausmalen.

Einer Ihrer politischen Freunde war Helmut Schmidt ...

Mit dem Begriff Freund muss man bei Helmut Schmidt vorsichtig sein, aber ja, wir hatten ein enges und gutes Verhältnis.

Sie haben ihn einmal Globalisierungskanzler genannt. War Ihr ehemaliger Chef seiner Zeit voraus?

Ja, im Verhältnis zu den anderen deutschen Politikern sicherlich. Er hat als Erster und auch am klarsten weltwirtschaftliche Zusammenhänge erkannt und versucht, den Bürgern die Auswirkungen zu erklären – etwa in der Ölkrise 1973/74.

Sie haben die schweren Jahre der sozialliberalen Koalition in Bonn hautnah miterlebt, erst als Leiter des Bundeskanzleramts, dann 1982 als Finanzminister. Wie schwer waren die Zeiten damals?

Das waren schöne Zeiten! Natürlich waren sie schwierig, aber ungeheuer interessant. Wir als Spitzenbeamte konnten damals sehr selbstständig arbeiten. Willy Brandt hatte mich ja 1973 nach Bonn geholt. 1977 wurde ich Staatssekretär im Bundesfinanzministerium: Da galt es, permanent internationale Probleme zu lösen, aber man konnte sie als politischer Beamte auch angehen – in Verantwortung vor sich selbst, dem Minister und dem Bundeskanzler.

Beneiden oder bemitleiden Sie Ihre Nachfolger?

Die Probleme sind deutlich komplizierter geworden – und die Verzahnung mit der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung ist deutlich enger. Wenn bei uns etwas vertraulich bleiben sollte, blieb es vertraulich. Das geht heute praktisch gar nicht mehr.

Sie waren nur ein halbes Jahr Bundes­finanzminister. Fühlt man sich da als Unvollendeter?

Daran war nichts zu ändern. Ich bin ein überzeugter Sozialliberaler gewesen, von 1959 bis heute. Die Koalition damals ist zunächst an uns Sozialdemokraten gescheitert und nicht, wie manche glauben machen wollten, an einem „Verrat“ der FDP. Es ist schon merkwürdig: Schon der erste SPD-Reichskanzler Hermann Müller scheiterte 1930 an den eigenen Leuten. Bei Helmut Schmidt war es etwa im Streit um die Nachrüstung ähnlich – und bei Gerhard Schröder mit dem Streit um die Agenda 2010 auch. Die SPD ist eine hoch komplizierte Partei, das war 1982 so und ist bis heute so geblieben.

Kurz nach der Wahl 1983 wechselten Sie als Manager zu Bertelsmann in die freie Wirtschaft. Gibt es ein Kapitel in Ihrer Biografie, das Sie besonders geprägt hat?

Diese Jahre waren ungemein spannend. Ich konnte mit meinen Partnern mehr als 20 Firmen neu gründen, von null auf – ob Druckereien, Premiere, RTL Plus oder auch Radio Hamburg. Ich wollte immer etwas bewegen. Die kurze Zeit in der Opposition im Bundestag hatte mir da weniger gefallen. Man konnte noch so gute Ideen haben, die Mehrheit hatten leider die anderen. Das war auf die Dauer nichts für mich.

Hatten Sie später noch einmal erwogen, in die Politik zurückzukehren?

Nein. Und nach mehr als einem Jahrzehnt im Bertelsmann-Vorstand war ich auch zu weit weg vom Tagesgeschäft.

Sie sind später Publizist geworden. Eines ihrer Bücher hieß „Die gefesselte Kanzlerin: Wie die Große Koalition sich selbst blockiert“. Es wäre Zeit für eine Neuauflage ...

Das habe ich kürzlich auch gedacht. In der ersten Großen Koalition nach 2005 ging es zwar um andere Fragen, etwa den Mindestlohn oder die Rente mit 67. Aber schon damals hat sich die Koalition selbst blockiert – und das hing auch mit der Kanzlerin zusammen. Ich habe für das Buch die Position der Kanzlerin zu ergründen versucht. Erinnern Sie sich noch an den Leipziger Parteitag der CDU? Danach hat sie einen schnellen Schwenk hingelegt. Es war nicht ihr letzter. Vielleicht sollte ich wirklich eine Neuauflage schreiben.

2012 haben Sie ein Buch über die asiatische Herausforderung veröffentlicht. Als Merkel 2005 Kanzlerin wurde, hatte China eine niedrigere Wirtschaftsleistung als Deutschland, heute ist sie dreimal so groß. Haben wir geschlafen?

Nein. Dass China uns überholen würde, war allein wegen der Einwohnerzahl unausweichlich. Aber auf mittlere und längere Sicht muss die Politik endlich eine Antwort auf die asiatische Herausforderung – damit meine ich ja auch Indien und Japan - finden. Das wird nur über Europa gehen. Da würde ich mir mehr Weitsicht wünschen ...

Sie kennen Europa seit Ihrer Zeit in Brüssel. Der Aufbruchsgeist ist dahin; machen wir nicht längst Rückschritte?

Nein. Europa hat in den vergangenen 20 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wo würden denn beispielsweise die Staaten Mittel- und Osteuropas ohne die Union stehen? Mit wenigen Ausnahmen sind sie Mitglieder der EU geworden, das ist ein gewaltiger Fortschritt. Auch der Binnenmarkt hat sich gut entwickelt. In der Sicherheitszusammenarbeit haben wir erhebliche Fortschritte gemacht. Die Rückschritte, die es unzweifelhaft gab und gibt, sind eher auf Entwicklungen in einzelnen Staaten zurückzuführen. Für den Brexit kann man ja nun nicht die EU verantwortlich machen.

Sind wir möglicherweise zu verwöhnt, weil wir Europa für eine Selbstverständlichkeit halten?

Ja, das ist eine menschliche Eigenschaft, alles, woran man sich gewöhnt hat, für selbstverständlich zu halten. Das gilt für Europa im Besonderen. Wir setzen uns heute in Hamburg mit einem Personalausweis in den Flieger nach Malaga und können dort mit Euro bezahlen. Ich kenne das noch ganz anders – was haben wir da erreicht! Und sind wir dankbar genug? Ich möchte das den jungen Leuten, die es nicht anders kennen, gar nicht vorwerfen. Mich erschreckt aber, wie ahistorisch viele von ihnen denken. Wer die Dinge nicht mehr in geschichtliche Zusammenhänge einordnen kann, landet in einer oberflächlichen Augenblicksbetrachtung.

Ist das mit der Freiheit, dem großen Thema des Symposiums heute, genauso? Freiheit scheint ebenso vielen heute eine Selbstverständlichkeit zu sein, aber kein Wert mehr an sich.

Noch nie haben wir so viel über die Gefährdung von Freiheit diskutiert und zugleich durch einen erstickenden gesellschaftlichen Konsens Freiheit gefährdet. Freiheit meint stets die Entfaltung der freien Persönlichkeit. Da sollte sich auch meine Partei wieder mehr an die Botschaft des „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ erinnern. Wir alle verlassen uns immer mehr auf den Staat und immer weniger auf uns und unsere Fähigkeiten.

Sie haben ein Buch über die „Die offene Wunde: Antisemitismus als Schicksal“ geschrieben. Mir scheint, das Problem wird immer drängender.

Ich glaube nicht, dass wir im Kampf gegen Antisemitismus zurückfallen. Aber klar ist: Es gibt ihn noch und immer wieder. Der Antisemitismus ist das älteste und übelste Vorurteil der Menschheitsgeschichte. Nur ein Beispiel: Es erschüttert mich, dass am Grindel auch 2018 noch Polizisten die jüdische Schule schützen müssen.

Haben wir das Problem über die Flüchtlingskrise verschärft?

Ich befürchte ja, wenn ich die Entwicklungen der letzten Jahre betrachte. Es ist zumindest bedenklich, wie wir mit der Flüchtlingskrise umgegangen sind. Ich verstehe nicht, wie wir auch eine Aus­legung des Islam, die eindeutig antisemitisch ist, hier tolerieren können. Worauf müssten wir im Staate des Grundgesetzes die Zuwanderer verpflichten? Da sind wir nicht klar genug.

Seit Jahrzehnten sind Sie aktiv in der deutsch-israelischen Gesellschaft. Ich war kürzlich mit einer Delegation in Israel unterwegs. Dort habe ich keinen getroffen, der die deutsche Flüchtlingspolitik versteht.

Das ist nicht nur in Israel so, da reicht eine Reise nach Polen oder Dänemark. Auch hier hilft der Blick in das Grund­gesetz. Das Asylrecht ist klar definiert, übrigens auch die Genfer Flüchtlingskonvention. Warum gehen wir darüber hinaus? Man kann nach unserer Verfassung übrigens auch Grundrechte verwirken – auch das Asylrecht. Ich stehe der deutschen Flüchtlingspolitik insgesamt kritisch gegenüber – nicht erst seit heute.

Von der Politik ins Private. Würden Sie sich heute als Rheinländer von Geburt und Hamburger aus Überzeugung bezeichnen?

Hamburger aus Überzeugung bin ich geworden, ich lebe seit 30 Jahren hier. Aber Rheinländer bleibt man sein Leben lang. Nur den Karneval betrachte ich inzwischen mit deutlich nachlassender Begeisterung.

Was schätzen Sie besonders an Hamburg?

Das sind persönliche Dinge. Ich hatte von Anfang an hier keine Probleme; meiner Frau und mir ist es rasch gelungen, in dieser schönen Stadt so etwas wie unser eigenes Dorf zu finden. Vom Krankenhaus bis zum Konzertsaal, vom Kino bis zu Freunden gelange ich in 15 Minuten. Das Zweite, was ich an Hamburg ungemein schätze, ist das Kulturangebot. Und schließlich: Anders als etwa Berlin hat die Hansestadt ein breites und engagiertes Bürgertum. Vergleichen Sie nur einmal die Stadtregierung in Hamburg mit der in der Hauptstadt!

Anfang der 60er-Jahre waren Sie erfolgreicher Posaunist der Band Feetwarmers, deren Saxofonist Klaus Doldinger es später zu internationalem Ruhm brachte. Hätten Sie auch eine Karriere als Musiker machen können?

Nein. Ich hätte Musiker werden können, aber ich wäre ein mittelmäßiger Musiker geblieben. Das war der Unterschied zu Klaus Doldinger. Ich habe meine Posaune 1963 eingefettet – seit mehr als 50 Jahren liegt sie auf dem Schrank.

Sie sind gerade 80 Jahre alt geworden. Welche Wünsche haben Sie für sich, Deutschland und die Welt?

Ich habe viel Glück gehabt, ich bin einigermaßen gesund geblieben, und ich hoffe, das bleibt noch ein Weilchen so. Viele meiner Wegbegleiter sind ja bereits gegangen. Johannes Rau etwa habe ich 1957 kennengelernt, da hatte er uns als Jazzmusiker verpflichtet – da war er noch nicht einmal in der SPD. Ich freue mich auch heute auf jeden Tag. Mein größter Wunsch aber ist Gesundheit und Glück für meine Familie. Und: der Freiheit wieder zu mehr Geltung zu verhelfen.