In keiner deutschen Stadt bewegen sich mehr Menschen. Das weckt Begehrlichkeiten. Der Verband für Turnen und Freizeit (VTF) startet jetzt die Kampagne „Entdecke Neues im Verein: 100 Prozent Sport – null Kommerz“.

Die Temperaturen lagen nahe dem Gefrierpunkt, der Himmel war bedeckt, als einer Farbe in den grauen Berliner Morgen brachte. Olaf Scholz (59) trabte im schmucken Trainingsanzug und stylischen Joggingschuhen zu den Sondierungsgesprächen zwischen CDU/CSU und SPD ins Konrad-Adenauer-Haus. Das dürfte kein Zufall gewesen sein. Der stellvertretende Parteivorsitzende der Sozialdemokraten ist schließlich Erster Bürgermeister der fittesten Stadt Deutschlands. Nirgendwo in der Republik bewegen sich mehr Menschen als an Alster und Elbe, rund 80 Prozent der Bewohner treiben hier mehr oder weniger regelmäßig Sport.

Fitness mit all seinen Wellness-Verzweigungen ist dabei die klare Nummer eins. Fast eine halbe Million Hamburger trainieren laut Mitgliederstatistiken Bauch, Beine, Po, Rücken, Nacken, Arme und Brust in einem Sportverein oder einem der etwa 300 Studios und kommerziellen Einrichtungen. Das sind rund 28 Prozent der Bevölkerung, der mit Abstand höchste Wert eines Bundeslandes. Deutschlandweit liegt die Quote bei geschätzten 20 Prozent.

Eine Auswertung des Videoportals YouTube ergab für das Jahr 2017, dass das Suchinteresse nach „Fitness“ in Hamburg am höchsten war. Baden-Württemberg und Bayern folgten, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern belegten die letzten Plätze. Mög­liche Konsequenz daraus: Hamburger forschen auf YouTube mit am wenigsten nach „Abnehmen“ (Platz zwölf), Schleswig-Holsteiner und Rheinland-Pfälzer liegen in dieser Kategorie vorn.

Hamburg könnte in den nächsten Wochen und Monaten seine Position als Deutschlands Fitness-Hauptstadt noch ausbauen. An diesem Wochenende startet der hiesige Verband für Turnen und Freizeit (VTF) seine Kampagne „Ent­decke Neues im Verein – 100 Prozent Sport – null Kommerz“. Weil gemeinnützige Sportvereine keinen Gewinn machen dürfen, Überschüsse als Quersubventionen in andere Abteilungen fließen, – in den Leistungssport, die Nachwuchsarbeit oder aktuell in die Flüchtlingshilfe –, entstand nach langer Diskussion die provokante Formel.

28 Clubs bieten jetzt im Rahmen dieser Aktion am 13. und 14. Januar kostenlose Schnupperkurse an (siehe Artikel rechts), neun Vereine nehmen zugleich das Europäische Fitnessabzeichen ab, das in den Stufen Einsteiger, Fortgeschrittene und Könner vergeben wird. Der Karlsruher Professer Klaus Bös hat die niedrigschwelligen Anforderungen in den Bereichen Kraft (Liegestütze), Ausdauer (mit den Füßen auf eine Schwebebank auf- und absteigen), Beweglichkeit (Rumpfbeugen) und Koordination (Balancieren/auf einem Bein stehen) mit Kollegen entwickelt. Zehn europäische Länder wollen 2018 bei den Tests mitmachen.

Im Sommer und Herbst sollen im Rahmen der Kampagne weitere Werbemaßnahmen mit den Schwerpunkten Dance und Yoga folgen. Mit etwas mehr als 100.000 Mitgliedern ist der VTF nach dem Hamburger Fußballverband (rund 155.000 Mitglieder) der derzeit zweitgrößte von den 54 Sportverbänden der Stadt. Seine jahrelange Spitzenposition verlor der VTF im vergangenen Jahr nach dem Austritt des (Fitness-)Vereins Sportspaß mit seinen 70.000 Mitgliedern aus dem Hamburger Sportbund (HSB). Fitness im Verein hat allerdings Nachholbedarf. Fitnesskurse, zu etwa 80 Prozent von Frauen nachgefragt, bieten zwar viele Hamburger Clubs mit erfahrenen, gut ausgebildeten Trainern an, aber nur zwölf unterhalten eigene Studios mit Geräten. Der Gerätebereich ist weiter Männerdomäne. Allein zwei Vereine, der Eimsbütteler Turnverband (ETV) und die TSG Bergedorf, dürfen sich mit dem Qualitätssiegel des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) schmücken. In Deutschland sind es aktuell 70. Qualitätskriterien sind geschultes Leitungs- und Betreuungspersonal, Eingangstests mit Gesundheitschecks, ausführliche Einweisung an den Geräten sowie ein umfangreiches Kursprogramm.

100 Quadratmeter Trainingsfläche mit modernen Geräten auszustatten, kostet rund 50.000 Euro, entsprechend teurer ist die Einrichtung größerer Räumlichkeiten, die in den meisten Fällen notwendig wären, um die Nachfrage nach Vielfältigkeit (Ausdauer, Kraft, Koordination) angemessen zu bedienen. Investitionen im sechststelligen Bereich scheuen aber viele Vorstände, dabei rechnet sich der Mut. „Wer heute als Verein wachsen will, sollte auf ein umfangreiches Fitnessangebot setzen. Das zahlt sich – meist sogar – kurzfristig aus“, sagt Gerlinde Reeker, Geschäftsführerin des VTF.

Diejenigen Clubs, die dies in den vergangenen Jahren konsequent getan haben, allen voran der ETV (14.300 Mitglieder) und die TSG Bergedorf (11.100), freuen sich über stattliche Mitgliederzuwächse und Mehreinnahmen. Der ETV will deshalb weiter expandieren. Auf seinem Tennisgelände am Lokstedter Steindamm sollen im nächsten Jahr zusätzlich ein Fitnesszentrum und eine Kindertagesstätte gebaut werden. Kalkulierte Kosten: um die 15 Millionen Euro. Neben dem Betrieb von Fitnessstudios sind Kindergärten und Ganztagesbetreuung an Schulen jene – meist in einer GmbH ausgelagert – kommerzielle Unternehmungen, die Vereinen den finanziellen Spielraum für gemeinnützige Aktivitäten verschaffen. Dazu gehört auch Wettkampfsport unterhalb des professionellen Spielbetriebes.

Wer Sport im Verein treibt, lebt gesünder, ist kommunikativer und emotional ausgeglichener. Das legt zumindest eine Untersuchung nahe, die die Österreichische Bundes-Sportorganisation (BSO) herausgegeben hat. Fazit der umfangreichen Auswertung einschlägiger Fachliteratur: „Eine aktive Teilnahme am Vereinsleben kann sich schon allein aufgrund der sozialen Dimension positiv auf die Gesundheit des Mitgliedes auswirken.“ Neben den vielfach belegten positiven Effekten von Bewegung entstünde dadurch ein zusätzlicher psychosozialer Nutzen, „der ein Alleinstellungsmerkmal des Sportvereins im Gegensatz zum selbst organisierten Sport darstellt“. Die aktive Mitgliedschaft in einem Sportverein in der Jugend trage zudem zur Eingliederung in die Gesellschaft bei und schütze Jugendliche davor, „auf die schiefe Bahn zu geraten“, weil Sport das Selbstvertrauen insbesondere von Mädchen stärke. Vereinsmitglieder, behaupten die Österreicher, seien insgesamt auch mit ihrem Leben zufriedener.

Ähnliche Untersuchungen kommerzieller Fitnessanbieter liegen noch nicht vor. Die beherrschen aber mit bundesweit erstmals mehr als zehn Millionen Mitgliedern weiter den umkämpften Markt. Auch in Hamburg sind sie Wachstumstreiber. Die McFit-Gruppe ist mit bundesweit 1,15 Millionen Mitgliedern in 169 Centern die fitteste der boomenden Branche. Jahresumsatz des Discounters: 5,1 Milliarden Euro. Das Konzept funktioniert: große Anlagen, funktionale Ausstattung, günstige Monatstarife – derzeit 4,90 Euro für Einsteiger. Im Kleingedruckten – Bindung für zwei Jahre, vom siebten Monat an 19,90 Euro, 29 Euro Aufnahmegebühr – relativiert sich dann der Preis.

Zielgruppe der Discountersind die 18- bis 35-Jährigen

Mit durchschnittlich 16,15 Euro gehört McFit neben Benefit („Einführungsangebot“ 14,99 Euro im Monat) dennoch zu den momentan günstigsten Anbietern in Hamburg. Nur Sportspaß unterläuft mit 9,90 Euro diese Offerten – als einziger gemeinnütziger Verein. In den meisten Sportclubs liegen die Beiträge der Fitnessabteilungen je nach Nutzungsmöglichkeiten zwischen 35 Euro und 70 Euro monatlich.

Vergleichbar sind die (Lock-)Angebote nur schwer. Wer an die teuren Geräte oder in die Sauna will, muss meistens erhebliche Aufpreise zahlen, für die Grundgebühr werden in der Regel allein Kurse angeboten. Zielgruppe der Discounter sind die 18- bis 35-Jährigen, die aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse besonders stark aufs Geld achten. 450.000 Einwohner Hamburgs sind in diesem Alter, 226.000 davon weiblich – und zehn Prozent davon Mitglieder bei Sportspaß. Aber selbst hochpreisige Ketten wie Meridian mit Durchschnittsbeiträgen um die 90 Euro kämpfen um Marktanteile, trimmen ihre Wellnessoasen auf Fitness. Sie setzen auf Qualität, mit wachsendem Erfolg – bei Älteren. Die Erfahrung lehrt, dass die Discounter Türöffner für die gesamte Branche sind und am Ende alle Anbieter profitieren.

Derweil schreitet die Digitalisierung der Studios voran. Computergesteuerte Hightech-Geräte loten Belastungsgrenzen individuell aus, in Special-Interest-Anlagen wie EMS-Studios werden Muskelgruppen mit Reizstrom stimuliert. Keine andere Stadt weist eine ähnlich breite Fitnesspalette auf. „Hamburg ist auf diesem Gebiet besonders innovativ und bundesweit führend“, sagt Boris Schmidt, der Vorsitzende der TSG Bergedorf.