Sechs neue Anlagen zur Videoüberwachung am Jungfernstieg und dreian der Reeperbahn sollen verhindern, dass es erneut zu sexuellen Übergriffen kommt. Die Maßnahme ist umstritten

Vor zwei Jahren trafen die Silvester-Übergriffe die Stadt Hamburg wie ein Keulenschlag. Vor allem nordafrikanischen Männern wurde vorgeworfen, junge Frauen im Bereich der Großen Freiheit sexuell attackiert zu haben. 400 Frauen erstatteten danach Anzeige. Doch verurteilt wurde niemand. Denn die Taten konnten „keiner Person mit einer für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden“, wie der Senat in seinen Antworten auf mehrere Anfragen der Opposition schrieb. Und das lag vor allem daran, dass die Täter in den meisten Fällen schlicht nicht sicher identifiziert werden konnten. Weil an den Tatorten auf dem Hamburger Kiez keine Polizeikameras aufzeichneten, mussten die Ermittler auf Aufnahmen eines Partyfotografen zurückgreifen. Die waren im Endeffekt allerdings nicht sonderlich ergiebig. Drei Prozesse, die sich auf die Bilder stützten, endeten mit Freisprüchen der Angeklagten.

So etwas soll sich nicht wiederholen, die Stadt will sich noch dieses Jahr ihrer blinden Flecke entledigen. Nachdem Innensenator Andy Grote (SPD) bereits Anfang 2017 einen „Prüfauftrag“ zum Ausbau der Videoüberwachung erteilt hatte, hat die Polizei nun, gerade rechtzeitig vor dem Jahreswechsel, Kameras an zwei neuralgischen Punkten der Stadt installiert – sechs Geräte am Jungfernstieg und drei im Bereich Reeperbahn. Sie sind allerdings nicht dauerhaft im Betrieb, sondern nur anlassbezogen. Und zwar dann, wenn mit einem erhöhten Aufkommen von Straftaten zu rechnen ist.

Drei Kameras halten direkt auf den Alster-Anleger

Die Videoüberwachung sei an den Stellen eingerichtet worden, die besonders stark mit Kriminalität belastet sind, heißt es dazu von der Hamburger Polizei. „Ein Viertel der gesamten Straßenkriminalität im Innenstadtbereich ereignet sich im Bereich Ballindamm und Jungfernstieg“, sagt Polizeisprecher Ulf Wundrack. Deshalb sind sechs Kameras im Bereich Jungfernstieg installiert worden. Drei davon, allesamt etwas ältere und starre Modelle, sind direkt auf den Bereich Alster-Anleger ausgerichtet, wo es vor allem an den Wochenenden im Sommer immer wieder zu Schlägereien zwischen jungen Männern kommt. Bereits im September 2016 hatte die Polizei dort Flutlicht-Scheinwerfer aufgestellt, um Straftaten verhindern und besser erkennen zu können. Die drei anderen Kameras, schwenkbar und mit modernster Technik ausgestattet, haben den Fußgängerbereich und die Straße im Fokus. Die Bilder laufen direkt in der Wache 14 an der Caffamacherreihe auf, sie ist für den Bereich Jungfernstieg zuständig. An der Reeperbahn zeichnen Videokameras an drei Standorten auf. Sie befinden sich am Beatles-Platz, in Höhe Talstraße und in Höhe Hamburger Berg.

Auch diese Standorte gelten als besonders kriminalitätsbelastet. Der ­Beatles-Platz befindet sich in Höhe Große Freiheit. In dieser Straße soll es zum Jahreswechsel 2015 auf 2016 zu den massenhaften Übergriffen auf junge Frauen gekommen sein. Die Talstraße ist seit Jahren im Zusammenhang mit Drogendelikten aufgefallen. Die Straße Hamburger Berg, in der schon Serienmörder Fritz Honka in den 1970er-Jahren seine Opfer suchte, ist auch heute noch ein Schwerpunkt der Gewaltkriminalität. Allein in den letzten beiden Jahren vermeldete die Polizei fünf Tötungsdelikte, die dort oder direkt an der Ecke Reeperbahn verübt worden waren. Die Bilder der drei Überwachungskameras auf der Reeperbahn laufen in der Davidwache auf.

Die neun neu installierten Überwachungskameras sind allerdings nicht rund um die Uhr im Einsatz, sondern lediglich zu „besonders belasteten Zeiten“. Das bedeutet: vor allem am Wochenende. Ereignet sich außerhalb der festgelegten Zeiten eine Straftat, schauen die Polizeibeamten buchstäblich in die Röhre – denn dann bleibt der Bildschirm schwarz. Ansonsten werden die Aufnahmen 30 Tage lang gespeichert. Ein Großteil der neuen Kameras ist auf dem aktuellsten Stand der Technik und liefert Bilder in bester Qualität, auch Ausschnittsvergrößerungen sind möglich. Zum Einsatz kommt zudem modernste Software, die automatisch Bereiche wie Hauseingänge oder von der Kamera erfasste Wohnungen verpixelt.

Die Regelung, Privatbereiche unkenntlich zu machen, mag zwar den datenschutzrechtlichen Erfordernissen genügen – keineswegs sicher ist, ob das auch den betroffenen Hamburgern reicht. Zumal die Überwachung per Kamera in Hamburg schon immer umstritten war. So beobachtete ein Dutzend Kameras jahrelang den Kiez. Doch 2010, auf die Klage einer Anwohnerin hin, musste die Polizei die Überwachung massiv einschränken: Die Geräte mit 360-Grad-Drehtechnik und Zoomfunktion mussten so präpariert werden, dass sie auf Schwarz schalteten, sobald bei einem Schwenk Balkone, Fenster oder die Eingangsbereiche von Wohnhäusern in den Fokus gerieten. Für die Polizei machte die Überwachung daher keinen Sinn mehr – 2011 wurde sie abgestellt.

Tatsächlich wimmelt es aber schon jetzt in der Stadt vor Kameras, wenn auch nicht an öffentlichen Plätzen und Straßen. Insgesamt gibt es in und an Hamburgs öffentlichen Einrichtungen und im Nahverkehr mehr als 14.000 Kameras. Allein bei den städtischen Behörden und Betrieben sind rund 5200 Geräte registriert. Im Bereich der Hochbahn – in Bussen, U-Bahnen und an den Haltestellen – sind 5900 Kameras in Betrieb; rund 2000 sind es in den S-Bahnen, fast 900 an den Fernbahnhöfen.

Kritiker sehen in der Forderung nach einem Ausbau der Technik im öffentlichen Raum nur eine sicherheitspolitische Nebelkerze. Mehr Überwachung bringe praktisch nichts, insbesondere keinen Schutz vor Straftaten und auch keine bessere Strafverfolgung – dafür nur noch mehr Staat und weniger Anonymität. Für Befürworter wie Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) ist die Videoüberwachung indes ein Ins­trument zur besseren Aufklärung von Straftaten, sie könne „einen wertvollen Beitrag zur Prävention und Aufklärung von Straftaten leisten“, sagte Grote dem Abendblatt. Ähnlich äußerte sich auch Polizeipräsident Ralf Martin Meyer: „Die Videoüberwachung an diesen Orten wird ihren Beitrag dazu leisten, potenzielle Täter von Straftaten abzuhalten.“

Besonders schwer tun sich indes die Grünen mit dem Thema Videoüberwachung. „Mit der Installation der neuen Kameras am Jungfernstieg und im Bereich Reeperbahn waren wir einverstanden, gleichwohl bleiben wir bei unserem kritischen Blick auf die Videoüberwachung im öffentlichen Raum“, sagt Antje Möller, innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bürgerschaftsfraktion. Ein Selbstläufer dürfe die Überwachung an diesen Standorten nicht werden. „Nach einem Jahr muss der Betrieb der Kameras überprüft werden. Dann werden wir sehen, ob die Überwachung Sinn macht – oder eben nicht.“

Eine deutlich offensivere Position vertritt die CDU-Bürgerschaftsfraktion. Sie hatte sich nach den Silvester-Exzessen für einen Ausbau der Technik in Hamburg starkgemacht. Ihr sicherheitspolitischer Sprecher Dennis Gladiator will denn auch nicht von „Videoüberwachung“, sondern lieber von „Videoschutz“ sprechen. „Besser spät als nie, aber die Inbetriebnahme der neuen Kameras kann nur ein Anfang sein“, sagt Gladiator. „Wir benötigen einen besseren Videoschutz auch an anderen Kriminalitätsschwerpunkten wie dem Hansaplatz oder den Vorplätzen am Hauptbahnhof und den Stadtteil-Bahnhöfen.“

Allerdings dürften „auch zunehmende Sicherheitsbedürfnisse nicht in den allgegenwärtigen Überwachungsstaat führen“, warnt der innenpolitische Sprecher der FDP-Bürgerschaftsfraktion, Carl Jarchow. „Gleichwohl kann es angezeigt sein, an sensiblen öffentlichen Gefahrenpunkten Videoüberwachung zu installieren, um die Sicherheitslage zu entspannen und die Verfolgung von Straftaten zu ermöglichen. Ein solcher Ort ist zweifellos der Jungfernstieg, an dem es in den zurückliegenden Jahren immer wieder zu Übergriffen und Straftaten gekommen ist“, so Jarchow. „Wir Freien Demokraten erwarten, dass Polizei und Innenbehörde immer wieder prüfen, ob und in welcher Form die Videoüberwachung dort nötig und sinnvoll ist.“

Zu Silvester ist zusätzlich mobile Videotechnik im Einsatz

Am kommenden Silvesterwochenende steht das neue System vor seiner ersten Bewährungsprobe. In der Silvesternacht wird die Polizei deutlich verstärkt im Einsatz sein. Das Konzept? Nahezu identisch mit dem des Vorjahres. Einsatzschwerpunkte sind die Reeperbahn, die Große Freiheit, der Jungfernstieg und der Hafenrand bei den St.-Pauli-Landungsbrücken. Hinzu kommt dieses Jahr eine zweite mobile Wache an der Großen Freiheit, Höhe Schmuckstraße. Die andere mobile Wache wird wie vergangenes Silvester am Beatles-Platz zu finden sein. Vorgesehen ist auch in dem Bereich der Einsatz von Absperrgittern, um bei einem zu großen Gedränge den Zugang zu beschränken. An der Schmuckstraße wird außerdem Beleuchtung in Form eines Leuchtballons aufgebaut.

Zusätzliche Lichtquellen sind auch am Jungfernstieg vorgesehen. In allen drei Bereichen wird mobile Videotechnik eingesetzt. Das betrifft auch die Bereiche, in denen die neu installierten Kameras stehen. Auf den Einsatz von Betonpollern will die Polizei jedoch verzichten. Stattdessen sollen Fahrzeuge als Hindernisse gegen Anschläge mit Autos oder Lkw aufgestellt werden. „Das ist flexibler“, so ein Beamter.

Die Polizisten, die uniformiert im Einsatz sind, werden gelbe Warnwesten tragen. So soll die ohnehin hohe Präsenz deutlich sichtbarer sein. Daneben werden Zivilfahnder in großer Zahl eingesetzt. Sie sollen aufklären und auch gegen Straftäter vorgehen.

Im vergangenen Jahr waren auf dem Kiez 45.000 Besucher gewesen, an den Landungsbrücken befanden sich in der Spitze 10.000, am Jungfernstieg in der Spitze 4000 Menschen. Im Bereich Große Freiheit hatte die Polizei wegen des zu großen Andrangs dreimal die Absperrgitter eingesetzt. An den Landungsbrücken wurde zeitweise der Bahnhof gesperrt und die Fußgängerbrücke geräumt. Sexuelle Übergriffe wie vor zwei Jahren blieben Silvester 2016/2017 aus. Die Strafverfolger haben die Akte „Silvester-Übergriffe“ ohnehin geschlossen. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft erklärte auf Anfrage, es gebe derzeit keine laufenden Ermittlungen mehr. Eine entsprechende Soko der Polizei war bereits im März 2016 eingestellt worden.

Wiederholt hatte die Staatsanwaltschaft Tatverdächtige angeklagt. Auch gab es deutliche Kritik an mutmaßlichen Ermittlungspannen der Polizei. Der bislang letzte Silvesterprozess gegen einen Iraner endete im März dieses Jahres mit einem Freispruch „erster Klasse“ – der damals 34-Jährige sei nicht an dem Tatgeschehen beteiligt gewesen. „Egal, was ich jetzt sage: Es ändert nichts daran, was mir widerfahren ist. Mein Leben ist auseinandergerissen“, gab der kräftige Mann in seinem letzten Wort vor Gericht zu Protokoll. Er saß zuvor mehr als 70 Tage lang in Untersuchungshaft.