Während viele Hamburger nicht wissen, was sie sich in ihrem Überfluss noch schenken können, hat die alleinerziehende Mutter, die wir hier Sabine Krump nennen, ein ganz anderes Problem: wovon nur den Kindern eine Freude machen?

Soll sie ihrer zehnjährigen Tochter diesen lang gehegten Wunsch erfüllen? Seit Wochen schon wälzt Sabine Krump den Gedanken daran hin und her. Und wenn sie sich dazu durchringen würde – was dürfte dann ein Geschenk für ihren dreijährigen Sohn noch kosten?

50 Euro. Davon könnte sie beim Discounter Brot, Käse, Milch, Gemüse und Obst für die Kinder kaufen, genug, um fast eine ganze Woche damit zu bestreiten. „Ich selbst esse ja nicht viel“, sagt Krump. Wäre auch gut, eine Rücklage zu haben, falls die Brille ihrer Tochter wieder kaputt geht oder die Waschmaschine streikt. War ja beides letztlich erst passiert. Und noch so ein Gedanke: Vor Kurzem besuchte ihre Tochter mit der Schulklasse ein Theaterstück. 11 Euro musste sie dafür zahlen. 50 Euro – das würde für fast fünf Kindertheater-Besuche reichen.

50 Euro kostet auch das Kreuzfahrtschiff von Playmobil, das die Kleine so toll findet. Natürlich keine Neuware, daran wäre nicht zu denken, sondern ein gebrauchtes Modell, angeboten bei Ebay Kleinanzeigen.

Ausnahmsweise? Es ist doch für Weihnachten.

Eigentlich wollte Sabine Krump höchstens 40 Euro ausgeben, um davon Geschenke zu kaufen – für beide Kinder. „Meine Tochter spart schon so lange auf das Schiff“, sagt die Mutter. Dann schüttelt sie den Kopf. „Wahrscheinlich muss sie sich das Ding doch selbst kaufen.“

18 Prozent der Haushalte unter Armutsgefährdungsschwelle

Die 34-Jährige ist alleinerziehend und arbeitslos; sie lebt in einer 48 Quadratmeter großen 2,5-Zimmer-Wohnung an einer vierspurigen Straße in Iserbrook. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung genannt wissen. „Meine Tochter weiß, dass wir nicht viel Geld haben“, sagt sie. „Es müssen ja nicht viele andere wissen.“

Das Wort „arm“ vermeidet Krump. Ansehen soll man ihr und den Kleinen die Bedürftigkeit schon gar nicht. „Meine Kinder sind nie schmutzig, immer ordentlich angezogen“, sagt Krump, eine zierliche, kleine Frau mit schmalen Schultern. Sie hat sich geschminkt und die kurzen blonden Haare sorgsam frisiert; über ihrem weißen Kleid trägt sie eine dünne Strickjacke in Blassrosa, „vom Flohmarkt“ – wie der größte Teil ihrer Kleidung, die in zwei von fünf Schubladen eines Schranks untergebracht ist, der in ihrem Wohnzimmer steht. Die anderen drei Schubladen sind mit Handtüchern und Bettwäsche gefüllt.

Etwa 13 Quadratmeter groß ist der Raum. Darin stehen außerdem: ein Ecksofa, auf dem Sabine Krump schläft, ein Couchtisch, gebraucht gekauft, ebenso wie die Kinderküche aus Holz, die keine Türen mehr hat, und der orangefarbene Spielzeug-Lkw ihres Sohnes sowie der Fernseher und der Katzenbaum für den jüngst adoptierten Kater. Die Kinder schlafen in den eineinhalb verbleibenden Zimmern; das meiste Spielzeug darin haben sie von Freunden geschenkt bekommen.

In den vergangenen fünf Jahren hatte Krump einen Weihnachtsbaum aus Kunststoff aufgestellt, doch zuletzt fiel der fast auseinander. In diesem Jahr besorgte ihr Vater ein echtes Bäumchen. Krump hat die Tanne mit bunten Kugeln und kleinen Zuckerstangen geschmückt, „24 Stück für einen Euro“, gekauft im Ein-Euro-Laden. Unter dem Baum wird nicht viel liegen.

Verzicht üben muss Krump fast immer, aber in der Adventszeit fällt es ihr besonders schwer. Die Einkaufsstraßen sind festlich geschmückt, auf den Weihnachtsmärkten duftet es nach Bratapfel und Glühwein. Hamburg, die Stadt mit 867 Einkommensmillionären und das Bundesland mit den höchsten Steuereinnahmen deutschlandweit, lädt besonders offensiv zum Konsumieren ein, für alle, die es sich leisten können.

Viele können es sich nicht leisten. Denn Hamburg ist auch die Metropole, in der im Jahr 2016 rund 18 Prozent aller Haushalte unter der Armutsgefährdungsschwelle lagen (siehe Infowinkel). Im Jahr 2005 betraf dies 17,4 Prozent der Haushalte in der Hansestadt. Die Armutsgefährdungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt lag 2016 bei 1040 Euro, für Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern bei 2184 Euro.

Von den Alleinerziehenden waren im Jahr 2016 sogar 47 Prozent gefährdet, wie aus der amtlichen Sozialbericht­erstattung hervorgeht. Für eine Alleinerziehende wie Sabine Krump mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt die Armutsgefährdungsschwelle bei 1664 Euro.

Sabine Krump verfügt nach eigenen Angaben über 1340 Euro pro Monat, wobei das Kindergeld und eine Unterhaltsleistung des Vaters ihres Sohnes voll auf das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angerechnet werden. Abzüglich Miete (500 Euro), Strom (68), Wasser (26), Telefon (30), einer Gebühr für das Mittagessen ihrer Tochter in der Schule (18), Frühstücks- und Windelgeld für die Kita ihres Sohnes (20) und 50 Euro, die sie monatlich an ihren Vater zurückzahlt für die von ihm vorgestreckte Waschmaschine, blieben ihr zuletzt 628 Euro bzw. rund 210 Euro pro Familienmitglied für Lebensmittel, Kleidung, Kosmetik und die Bildung von Rücklagen. „Ohne meinen Vater und meine Oma könnte ich kaum mehr kaufen als Lebensmittel“, sagt sie.

Die Armut vieler Eltern in Hamburg hat auch zur Folge, dass ihr Nachwuchs bedürftig ist: Etwa jedes vierte Kind in der Hansestadt ist von Armut bedroht.

Zwar leistet sich Hamburg kosten­lose Kitas und eine kostenlose Betreuung an Ganztagsschulen zumindest von 8 bis 16 Uhr. Hinzu kommt das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes: Bedürftige Kinder bekommen daraus 100 Euro pro Jahr für Schulbedarf wie Füller, Zirkel und Geodreieck, und sie erhalten bis zu 10 Euro monatlich, die sie etwa für Theaterworkshops oder Sportausrüstung ausgeben dürfen. Davon kann man Fußballschuhe und Schienbeinschoner bezahlen, oder eine Kindergitarre, eine gebrauchte Geige, aber kaum wöchentlichen Musikunterricht – und schon gar nicht zwei dieser Dinge.

„Die Armut in Hamburg wird durch diese Maßnahmen nicht schlimmer, aber sie bleibt stabil hoch“, sagt Linken-Po­litikerin Sabine Boeddinghaus. Ihre Fraktion hatte im September ein „Armuts­bekämpfungsprogramm“ gefordert. Doch der Antrag wurde von den anderen Fraktionen ab­gelehnt.

Sabine Krumps Tochter kann in einem Sportverein kostenfrei in der ­Chearleader-Gruppe mitmachen, ihr Sohn einmal pro Woche am Kinderturnen teilnehmen. Musikunterricht für ihre Tochter kann sich Krump aber nicht leisten. Reiten würde ihre Tochter auch gerne, „ein schöner Traum“. In ein günstiges Kino zu gehen mit ihrer Tochter, „zwei Karten für 10 Euro“, das sei zwei- bis dreimal pro Jahr möglich, sagt Krump. Verreisen? Das gehe nur mit finanzieller Unterstützung, sagt sie. 2014 bezahlte ihr Vater zehn Tage Urlaub in Büsum. 2016 verbrachte die Alleinerziehende mit ihren Kindern eine Woche in einer Jugendherberge in Mölln, ein Ausflug, den das Kinder- und Familienzen­trum (KiFaZ) in Lurup finanzierte.

In einem reichen Land wie Deutschland hat Armut zumindest nicht zwingend mit existenzieller Not und physischem Elend zu tun. Für viele Betroffene ist das Problem ein anderes: Wer über weniger Geld verfügt, kann weniger an der Gesellschaft teilhaben. Wohlfahrtsverbände wie das Diakonische Werk sprechen von relativer Armut, also „sehr unterdurchschnittlichen Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt“.

Forscher: Grundsicherung pro Kind um 50 Euro erhöhen

Vom KiFaZ in Lurup, das zum Kinderschutzbund gehört, bekommt Sabine Krump hin und wieder auch kleine Essenspakete und gebrauchte Teile aus der Kleiderkammer. Auch weitere Einrichtungen in Hamburg helfen bedürftigen Eltern und Kindern. In der Arche in Jenfeld etwa erhalten bedürftige Kinder täglich ein kostenloses warmes Mittagessen und zweimal wöchentlich ein Abend­essen. Zu den Angeboten gehören außerdem Nachhilfe, Sport, Basteln, Instrumentalunterricht und Singen. Doch Einrichtungen wie diese sind ganz oder zu einem erheblichen Teil von Spenden abhängig und können nur einem Teil der Bedürftigen helfen.

Armut kann viele Ursachen haben. Niedriglöhne, atypische Beschäftigung wie Teilzeit, Leiharbeit und Minijobs, die schwierige Vereinbarkeit von Job und Kinderbetreuung insbesondere für Alleinerziehende, Krankheiten.

Sabine Krump hatte ihre Ausbildung zur Friseurin abgeschlossen, als sie unbeabsichtigt schwanger wurde. Vom Vater ihrer Tochter trennte sie sich bald darauf. Weil sie Asthma bekam und eine Hüfterkrankung sich stärker bemerkbar machte, konnte sie nicht in ihren erlernten Beruf zurück. Als ihre Tochter zwei Jahre alt war, begann Krump erst in einem Fitnessstudio zu putzen, dann arbeitete sie dort fünf Jahre lang an der Rezeption und stockte damit ihr Arbeitslosengeld auf. Doch später habe man sie gemobbt, erzählt sie.

Weitere Versuche, beruflich Fuß zu fassen, scheiterten. „Ich habe immer wieder gearbeitet, aber es hat nicht gereicht, um von Hartz IV loszukommen.“ Ihr Sohn war zwar ein Wunschkind. Doch auch mit seinem Vater ist sie nicht mehr zusammen.

Alleinerziehende und andere bedürftige Eltern und ihre Kinder hätten es leichter, wenn der Bund und Hamburg großzügiger wären, sagt Harald Ansen, Professor für soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. „Der Kindergeldzuschlag sollte erhöht werden, um Eltern mit einem geringen Einkommen nicht in Hartz IV zu drängen“, sagt er. Nach Meinung der Wohlfahrtsverbände müsste die Grundsicherung für Kinder um 50 Euro pro Monat erhöht werden. Ein kostenloses Frühstück und Mittagessen sollte es für alle bedürftigen Mädchen und Jungen in Hamburg geben, sagt Ansen. Außerdem mangele es an bezahl­baren Wohnungen in allen Quartieren, nicht nur in Vierteln mit ohnehin gehäufter Armut.

Studien deuteten darauf hin, dass schlechtere Berufsperspektiven habe, wer in Armut aufwachse, sagt der Wissenschaftler: „Armut hinterlässt Spuren im Habitus; sie kann Folgen für das Selbstbewusstsein haben. Es fehlt dann die Fantasie, dass etwas anderes möglich sein könnte als Hartz IV.“ So weit will Sabine Krump es nicht kommen lassen. Im Januar beginnt sie eine fünfmonatige Umschulung zur Pflegeassistentin für demenzkranke Menschen. Dabei geht es um soziale Betreuung, nicht um schwere körperliche Arbeit. „Ich möchte endlich aus der Arbeitslosigkeit herauskommen“, so Krump. „Es ist vielleicht meine letzte Chance.“ Sie überlegt, ihren Sohn bald ganztags in der Kita zu lassen, sofern ihr Sohn das mitmacht, um in einem neuen Job möglichst in Vollzeit arbeiten zu können.

Eine Sozialarbeiterin vom Familienteam Altona, die Krump schon länger begleitet, sagt über die Alleinerziehende: „Ich bin beeindruckt, wie sie trotz ihrer schwierigen Lebenssituation ihren Alltag mit den Kindern so toll meistert.“

Vor Kurzem bekam Krump von der Stadt auch einen Dringlichkeitsschein, dass sie ein Anrecht hat auf eine größere Wohnung. „Ich freue mich so auf die Umschulung“, sagt sie, während ihre zehnjährige Tochter als Einhorn verkleidet durchs Zimmer hopst. Das Fabelwesen steht als Symbol für das Gute.

Die Abendblatt-Redaktion „Von Mensch zu Mensch“ unterstützt schwerpunktmäßig alleinerziehende Mütter. Wer dafür spenden möchte: Haspa, IBAN: DE03 2005 0550 1280 2020 01, Stichwort: „Alleinerziehende“