Nirgendwo leben so viele Menschen in Deutschland auf so wenig Platz wie in Hoheluft-West. Von „Dichtestress“ aber ist im Eimsbüttler Stadtteil wenig zu spüren. Wer hier wohnt, zieht nur ungern wieder weg

Die Schweizer haben ein Wort erfunden, das man auch hierzulande bald häufiger hören könnte. Es lautet „Dichtestress“, kommt aus der Biologie und beschreibt ein krankmachendes Gefühl der Enge; in der Schweiz hat es die rechtspopulistische SVP eingeführt, um gegen die Masseneinwanderung zu argumentieren: Es würden immer mehr Menschen auf engem Raum leben, in jeder Sekunde werde ein Quadratmeter Land überbaut. Diese Mischung aus Zuwanderungsskepsis und Ökologie wirkt.

Aber wie lebt es sich eigentlich in besonders dicht besiedelten Gebieten? In Hamburg liegt, so zeigen Statistiken, der am stärksten verdichtete Stadtteil Deutschland. Es ist nicht Steilshoop oder der Osdorfer Born, sondern das von Altbauten geprägte Hoheluft-West. Zwischen Mansteinstraße und Hoheluftchaussee, Isebekkanal und Lokstedt
leben 18.988 Einwohner pro Quadratkilometer. Das ist deutscher Rekord, dahinter folgt die Friedrichstadt in Düsseldorf, danach Kreuzberg und Schwabing. Das zeigt: Die Boheme mag es eng, die Szene liebt Dichte.

Vor allem liebt sie Gründerzeitbauten: In den großzügigen, fünf- bis sechsstöckigen Häusern, die blockweise aus dem Hamburger Boden gestampft wurden, lebt es sich gut. Und es leben hier vor allem viel Gutsituierte. „Attraktivität hat auch etwas mit der sozialen Struktur und der Besetzungsdichte zu tun“, sagt der Stadtforscher Dieter Läpple, der mit dem Abendblatt durch Hoheluft-West gebummelt ist. Der langjährige Leiter des Instituts für Stadt- und Regionalökonomie an der TU und der Hafen-City Universität verweist auf das Sozialprofil: Das Durchschnittseinkommen in Hoheluft liegt über dem Hamburger Schnitt, die Zahl der Leistungsempfänger mit 3,1 Prozent nicht einmal bei einem Drittel des stadtweiten Wertes. Drei Viertel der Schüler besuchen ein Gymnasium, der Migrantenanteil liegt mit 19,8 Prozent deutlich unter dem Hamburger Durchschnitt von 32,7 Prozent. Und Hoheluft wählt links – SPD und Grüne kamen bei der letzten Bürgerschaftswahl zusammen auf zwei Drittel der Stimmen, die CDU landete mit 8,7 Prozent abgeschlagen noch hinter der Linkspartei.

Ein Stadtteil der rot-grünen Besserverdiener

Dabei ist das Generalsviertel, wie die Gegend wegen der Straßennamen genannt wird, ein Kind der Spekulationsjahre. Noch vor 150 Jahren weideten hier Kühe; nach der Reichsgründung 1871 begann dann eine rasante Entwicklung, die sich von Nordost nach Südwest vollzog: Moltke- und Wrangelstraße haben kleinere Stadtvillen und sind breiter, die erst im 20. Jahrhundert vollendeten schmaleren Kottwitz- und Gneisenaustraße errichtete ein Investor hingegen in massiver Blockrandbebauung mit grünen Innenhöfen; die heute so geschätzten Stuckfassaden stammen aus serieller Fertigung, zu Baubeginn befanden sich sogar die Straßen und die Kanalisation in Privatbesitz.

In den 20er-Jahren waren Gründerzeitwohnungen verrufen. „Damals dachte man, die hohen Krankheitsziffern, Selbstmord- und Kriminalitätsraten lägen an der baulichen Struktur“, sagt Läpple. „Dabei ging es meist um Schichtzugehörigkeit und damit verbunden um sehr beengte Wohnverhältnisse. In den Gründerzeitwohnungen wohnten damals bis zu sechsmal so viele Menschen wie heute.“

Die Sozialstruktur hat sich tiefgreifend verändert, denn Altbauten sind längst en vogue. „Hoheluft ist ein sozial selektiver Stadtteil“, sagt der Wissenschaftler. „Um es zuzuspitzen: Die Integrationsarbeit müssen andere Stadtteile übernehmen. Hier funktioniert das großstädtische Leben so problemlos, weil es eben auch Wilhelmsburg mit ­seinen multikulturellen Kindergärten, Schulen und Sportvereinen, seinen Wohnunterkünften für Schutzsuchende und Wanderarbeiter und seinen mi­grantischen Ökonomien gibt.“

Hoheluft-West hat etwas Idyllisches. Viele Erdgeschosslagen sind zugänglich, es finden sich viele Nahversorger, Geschäfte, Cafés und Restaurants. „Hier wohnt ausreichend Kaufkraft“, sagt Läpp­le. Er lobt aber auch die Stadtplanung, die mitunter Zufällen geschuldet ist: Immer wieder sind Blöcke frei geblieben und sogenannte Taschenparks entstanden, auf denen sich teilweise Kinderspielplätze befinden. Gelungen sei auch die Nachverdichtung etwa am Scheideweg. Vor zehn Jahren entstand das „gelungene Beispiel“ für moderne Terrassenhäuser. „Hier funktioniert die Verdichtung“, so Läpple. „Die Innenräume sind begrünte Treffpunkte, die Eltern können ihre Kinder rauslassen.“ Nur die Kommunikation mit der Straße sei versäumt worden, der Block wende sich ab: In den Erdgeschossen vermisst Läpple eine öffentliche Nutzung.

Der Stadtforscher sieht weitere Stärken des Stadtteils: Hier fahren – oder stehen – wesentlich weniger Autos als im Hamburger Durchschnitt. Mit 0,287 Fahrzeugen pro Bewohner liegt Hoheluft deutlich unter dem Schnitt des Bezirks und der Stadt. „Wir müssen uns fragen, wie wir mit dem Straßenraum umgehen und wie viel Platz wir dem Auto in Zukunft einräumen wollen“, sagt Läpple. „Die Straßen sind potenziell unsere wertvollsten öffentlichen Räume.“ Es mutet absurd an in Stadtteilen, in denen der Quadratmeter Eigentum mindestens 5000 Euro kostet, für jedes abgestellte Auto 18 Quadratmeter Stellplatz zu verschwenden. Zumal man ohne Auto mobil bleibt: Zwei U-Bahn-Linien berühren den Stadtteil, mehrere Buslinien vernetzen ihn in alle Richtungen.

Ein weiteres Plus von Hoheluft- West, das aus einem lebenswerten einen besonderen Stadtteil macht, sind die Orte der Arbeit, die erhalten geblieben sind wie der weiterhin genutzte Firmenkomplex von Beiersdorf oder die ehemalige Tabakfabrik an der Hoheluftchaussee. Diese im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gebaute Fabrik mit ihrer hochwertigen Architektur, Türmen und Schloten „macht Arbeit sichtbar“. Arbeit, sagt Läpple, sei im Stadtteil von großer Bedeutung – sie sei entscheidend für die soziale Integration. Der Stadtforscher kritisiert, dass übertriebene gesetzliche Reglementierungen wie in der Technischen Anleitung (TA) Lärm (oder TA Luft) das Entstehen von neuen Unternehmen in der Stadt verhinderten oder Alteingesessene verdrängen. Läpp­le fordert seit Langem: „Die Produktion muss zurück in die Stadt.“

Hoheluft profitiere von seiner Geschichte: „Die wichtigste Ressource ist die Zeit – ein Stadtteil muss sich entwickeln können“, meint der Forscher. Dafür habe das Viertel in den zurückliegenden knapp 150 Jahren ausreichend Zeit gehabt. So ducken sich Nachkriegsbauten zwischen herrschaftliche Gründerzeitfassaden, trotz Gentrifizierung entziehen sich manche Einzelhändler der Aufwertung im Quartier. „Ungleichzeitigkeit und Ungleichwertigkeit tragen zur Qualität bei.“ Die Mischung, ob nach Alter, Herkunft oder Vermögen, sei entscheidend.

Qualität eines Stadtteils entsteht erst wegen Dichte

Den Spitzenwert in Hoheluft-West von fast 19.000 Menschen pro Quadratkilometer will Läpple indes nicht überbewerten. „Der Stadtteil profitiert von seiner Einbettung in das Stadtgefüge. Sportplätze oder Bahnen liegen schon im Nachbarstadtteil.“ Bei dicht bebauten Wohnstraßen in engen Grenzen werden schnell Werte von über 10.000 Einwohner pro Quadratkilometer erreicht. Aber Läpple sagt auch: „Dichte muss kein Qualitätsverlust bedeuten – ganz im Gegenteil. Urbane Qualität entsteht erst ab einer gewissen Dichte.“

Bei Familien ist Hoheluft extrem beliebt, es gibt ausreichend Kita-Plätze und Schulen, Kinderspielplätze und kurze Wege. Bei vielen Vermietern ist diese Zielgruppe gern gesehen – die weit verbreiteten Grundrisse namens „Hamburger Knochen“ verschwenden viel Platz für zwei herrschaftliche Zimmer an der Straße – und einen langen schlauchartigen Flur. Wer sein zweites Kind erwartet, denkt bald über den Umzug nach, beim dritten ist er zwangsläufig weg. Aber so bleibt der Stadtteil im Wandel – und jung.

Läpple bewertet das gegenwärtige Wachstum der Städte positiv. Derzeit wird der Zugewinn von jungen Berufstätigen getragen. „Es ist ein altes Phänomen, dass 18- bis 25-Jährige in die Großstädte ziehen. Die neue Qualität ist, dass die 25- bis 30-Jährigen in der Stadt bleiben wollen.“ Damit eröffne sich die Chance, nicht nur die ökologisch problematische Stadtflucht einzudämmen, sondern auch den demografischen Wandel zu gestalten, die Stadtgesellschaft ­lebendig und die Politik handlungsfähig zu halten.

Das alte Konzept der wachsenden Stadt hat seine Gültigkeit nicht verloren.