Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz erklärt, warum er nicht ins Bundeskabinett wechseln will. Vor dem SPD-Parteitag warnt er vor roten Linien in Gesprächen über eine Große Koalition

Vor dem SPD-Parteitag am Donnerstag in Berlin hat das Abendblatt im Rathaus mit Bürgermeister Olaf Scholz gesprochen. Dabei ging es um seine Rolle als stellvertretender SPD-Vorsitzender, die Chancen auf eine Große Koalition und seine persönliche Zukunft in Hamburg – und nicht in Berlin.

Herr Scholz, am Donnerstag wählt die SPD einen Vorsitzenden. Warum treten Sie nicht gegen Martin Schulz an?

Olaf Scholz: Es ist schon länger verabredet, dass Martin Schulz wieder als Parteivorsitzender kandidieren wird, nachdem er eine sehr schwierige Kanzlerkandidatur für die SPD geschultert hat. Ich kandidiere erneut als Stellvertreter.

Seit Wochen bringen Sie sich mit Strategiepapieren, Interviews und Talkshow-Auftritten ins Gespräch, immer mit der unterschwelligen Botschaft, dass Sie es besser könnten als Schulz. Warum sagen Sie A, aber nicht B?

Ich melde mich zu Wort, weil etwas los ist in Deutschland. Das Wahlergebnis vom 24. September hat CDU, CSU und SPD erhebliche Stimmenverluste beschert. Nicht nur aus meiner Sicht war das ein Votum, dass die Große Koalition nicht mehr weitermachen sollte. Nach dem überraschenden Scheitern der Jamaika-Sondierungen müssen wir die Lage neu bewerten. In dieser Situation ist es sinnvoll, sich mit Beiträgen und Vorschlägen zu melden, wie es in Deutschland besser gehen kann. Genau das tue ich und habe ich getan.

Wenn Sie nicht antreten wollen, hätten Sie dann denjenigen, die Sie öffentlich aufgefordert haben, das SPD-Ruder an sich zu reißen, nicht widersprechen müssen?

Ach, wir brauchen jetzt eine Debatte darüber, wie sich Deutschland aufstellen soll, um die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern, und ob und wie es gelingt, eine stabile Regierung zu bilden.

Ist denn im Ernst vorstellbar, dass sich die SPD mit Martin Schulz an der Spitze erneuern kann? Er steht für die schlimmste Niederlage der Partei und eiert seitdem herum.

Wichtig ist, dass es mit dem Erneuern nicht nur so dahingesagt ist, sondern von allen ernst gemeint wird. Die Herausforderung ist nicht gering, denn wir müssen uns natürlich Zeit nehmen für eine gründliche Betrachtung der Lage, gleichzeitig müssen wir aber über die aktuelle Frage der Regierungsbildung diskutieren. Wir können uns jetzt nicht zu einem längeren Wellness-Urlaub zurückziehen, um dann irgendwann frisch gestärkt ins Tagesgeschäft zurückzukehren. Übrigens ist die Aufgabe, vor der wir als SPD stehen, eine Herausforderung, vor der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in anderen Ländern des Westens auch stehen: Es ist ja kein Zufall, dass wir jetzt in vielen europäischen Staaten erstarkte rechtspopulistische Parteien haben. Die SPD muss zeigen, dass man die Zukunft auch optimistisch betrachten kann, und sagen, was für eine gute Entwicklung nötig ist.

Noch vor zwei Wochen hat die SPD-Spitze erklärt, die SPD stehe für eine Große Koalition nicht zur Verfügung. Jetzt wollen Sie doch mit der Union reden. Wo bleibt da die Glaubwürdigkeit der Partei und die Berechenbarkeit ihrer Politik?

Es war richtig, dass unmittelbar nach der Bundestagswahl gesagt wurde, jetzt müssen und können auch andere eine Regierungsbildung versuchen. Es ist blamabel, dass CDU, CSU, FDP und Grüne es nicht hinbekommen haben. Das muss man übrigens auch der Kanzlerin vorhalten, denn sie hat es nicht geschafft, die unterschiedlichen Positionen so zusammenzuführen, dass es ein tragfähiges Regierungsbündnis ergeben hat. Nun muss am Donnerstag der SPD-Parteitag klären, was zu tun ist.

Sie sind um den entscheidenden Punkt herumgegangen. Selbst nach dem Aus für Jamaika hat die SPD-Führung noch beschlossen, weiterhin nicht für eine Große Koalition zur Verfügung zu stehen.

Na ja. Die Gründe, die uns am Wahlabend zum Gang in die Opposition bewegt haben, bestehen ja fort. Es ist problematisch­, wenn Parteien, die bei Wahlen nicht erfolgreich waren, weiterregieren. Es ist problematisch, dass wir im Deutschen Bundestag nun zwei populistische Parteien haben, von denen die AfD im Falle einer Fortsetzung der Großen Koalition sogar Oppositionsführerin wäre. Das sollten wir nicht einfach abtun. Andererseits ist die Verfassung ganz klar: Aufgrund der schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik kann sich der Bundestag nicht einfach selbst auflösen.

Sie sprechen die Verfassungslage selbst an: Hat denn niemand in der SPD-Führung den energischen Vorstoß des Bundespräsidenten für eine Regierungsbildung vorausgesehen?

Jeder weiß, dass der Bundestag nicht mit Mehrheit beschließen kann, Neuwahlen herbeizuführen.

Haben Sie den Vorstandsbeschluss, für eine Große Koalition nicht zur Verfügung zu stehen, nun mitgetragen oder nicht?

Es gehört zu meinen Prinzipien, dass ich über interne Diskussionen nichts sage. Aber ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, dass der Beschluss einvernehmlich war.

Wann haben Sie einmal innerhalb von zwei Wochen Ihre Meinung um 180 Grad geändert?

(lacht): Daran erinnere ich mich jetzt nicht.

Kann die SPD es sich überhaupt jetzt noch leisten, die GroKo platzen zu lassen, nachdem so häufig die staatspolitische Verantwortung bemüht wurde?

CDU, CSU, FDP und Grüne haben acht Wochen benötigt, um zu erkennen, dass sie nicht zueinanderkommen. Wir sind noch nicht einmal in Sondierungen, geschweige denn in Koalitionsverhandlungen. Die wichtigste Frage ist doch, ob es der Kanzlerin noch gelingt, Konsense zu erzielen. Das kostet Kraft, und ich bin mir nicht mehr so sicher, ob die Kraft der Kanzlerin dafür noch reicht.

Ist es leichter oder schwerer, mit einer angeschlagenen Bundeskanzlerin solche Gespräche zu führen?

Ich vermisse bei Frau Merkel einen Plan. Das macht es nicht leichter. Über viele Jahre hat es sie ausgezeichnet, dass sie fähig war, Kompromisse zu schließen. Aber jetzt braucht es auch eine Vorstellung, wohin die Reise gehen soll. Wir brauchen zum Beispiel eine deutsche Antwort auf die Vorschläge von Staatspräsident Macron, damit Deutschland und Frankreich gemeinsam dafür sorgen, dass Europa die richtige Entwicklung nimmt.

Welche Bedingungen oder Voraussetzungen für eine GroKo müssen Ihrer Ansicht nach erfüllt sein?

Grundsätzlich halte ich nicht viel davon, vor Gesprächen rote Linien zu ziehen oder Bedingungen zu stellen. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum es nicht gelungen ist, eine Regierung mit dem schönen Namen Jamaika zu bilden. Deshalb haben wir auch keine Bedingungen aufgeschrieben. CDU, CSU und SPD verfügen über Wahlprogramme, da kann jeder lesen, was sich die Parteien für diese Legislaturperiode vorgenommen haben. Jetzt geht es zunächst mal um die Frage, ob es eine gemeinsame Basis für solche Gespräche gibt.

Welche Punkte würden Sie denn persönlich in solche Gespräche einbringen wollen?

Als Erstes brauchen wir ein gemeinsames Verständnis für die Herausforderungen. Ich meine zum Beispiel, dass den Beschäftigten in der heutigen guten wirtschaftlichen Lage mehr Sicherheit zusteht. Die Möglichkeit, Arbeitsverhältnisse ohne Grund zu befristen, wurde 1985 unter Helmut Kohl eingeführt und gehört endlich abgeschafft. Die wirtschaftliche Lage ermöglicht es auch, die Krankenversicherung fairer zu gestalten. Die Arbeitgeber sollten wieder den gleichen Betrag zahlen wie die Arbeitnehmer und nicht, wie das gegenwärtig der Fall ist, einen geringeren. Wichtig sind auch die Gebührenfreiheit bei der Kinderbetreuung sowie der Ausbau der Ganztagsschulen.

Zählt Ihre Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro auch dazu?

Ganz unabhängig von der Frage der Regierungsbildung­ halte ich es für er­forderlich, in Schritten dahin zu kommen. Wer sein ganzes Berufsleben lang voll gearbeitet hat, darf im Alter nicht auf öffentliche Hilfe angewiesen sein – das widerspricht jedem Gerechtigkeitsgefühl. Das setzt aber voraus, dass der Mindestlohn erhöht wird. Insbesondere weil die Zahl derer, die unter diesen Bedingungen arbeiten müssen, perspektivisch zunehmen wird. Da ist es unsere Aufgabe, dass sich die Bedingungen, beispielsweise­ im Einzelhandel, verbessern.

Welche Lehren ziehen Sie aus den gescheiterten Jamaika-Sondierungen für die GroKo-Gespräche?

Bei GroKo-Gesprächen sind wir noch nicht. Aber eine Lehre, die ich bereits genannt habe, sollte für alle Art von Gesprächen gelten: keine roten Linien ziehen. Ich halte auch nichts davon, den Fortgang solcher Gespräche live via Twitter oder Facebook zu dokumentieren. Da muss schon ernsthaft ausgelotet werden, was geht und was nicht. Es kann sein, dass am Ende herauskommt, dass man nicht zueinanderkommt. Aber das muss aus inhaltlichen Gründen geschehen und darf nicht durch die Begleitumstände beeinflusst werden.

Wie lange wird es am Ende dauern, wenn es zu Koalitionsverhandlungen kommt?

Mit einer wie auch immer gearteten Regierungsbildung rechne ich nicht vor dem Frühjahr. Das ist aber nicht schlimm, denn es ist keine instabile Situation, weil wir eine geschäftsführende Bundesregierung haben. CDU, CSU und SPD verfügen im Parlament über mehr als die Hälfte der Abgeordneten. Deswegen haben wir ausreichend Zeit zu verhandeln.

Schließen Sie eine Minderheitsregierung der Union unter Tolerierung der SPD aus?

Alle Varianten werden jetzt diskutiert, übrigens nicht nur bei der SPD. Ich höre das auch aus der Union. Es gibt jeden Tag neue Vorschläge. Da ist ein kühler Kopf gefragt. Sehr respektable Politikerinnen und Politiker halten die Idee einer Minderheitsregierung für gut. Ich bleibe da zurückhaltend. Deutschland ist das größte Land der EU. Die Wähler verlangen von uns eine stabile Regierung, wer auch immer sie stellt.

Welche Rolle sehen Sie für sich in den Gesprächen?

Ich bin stellvertretender SPD-Vorsitzender und als Hamburger Bürgermeister einer der Ministerpräsidenten. Punkt.

Vielleicht geht es etwas deutlicher.

Genau wie vor vier Jahren werde ich, wenn es denn zu Verhandlungen mit der Union kommt, nicht unmaßgeblich daran teilnehmen. Auch damals war ich schon stellvertretender SPD-Vorsitzender und Hamburger Bürgermeister.

Sollte es zur GroKo kommen, stehen Sie für ein Ministeramt zur Verfügung?

Vor vier Jahren bin ich Hamburger Bürgermeister geblieben. Meine Pläne haben sich an dieser Stelle nicht verändert.

Sie hatten angekündigt, bei der Bürgerschaftswahl 2020 wieder als SPD-Spitzenkandidat antreten zu wollen. Stehen Sie zu Ihrem Wort?

Auch an diesen Vorstellungen hat sich nichts geändert. Und wie Sie sehen, habe ich auch schon politische Pläne für Hamburg in den 20er-Jahren präsentiert: neue U-Bahnen bauen, neue S-Bahnen bauen, den Sprung über die Elbe, mehr Wohnungen. Oder den Wissenschaftsstandort voranbringen und Start-ups fördern. Es geht auch um die Elektrifizierung und Digitalisierung des Verkehrs. Da gibt es jede Menge zu tun.

Sie haben ja auch Pläne für die Zeit nach 2030. Wollen Sie dann auch noch Bürgermeister sein?

Lassen Sie uns diese Frage für ein Interview in den 20er-Jahren aufheben.

Können Sie als stellvertretender Parteivorsitzender eigentlich einen Ruf ins Kabinett ablehnen?

Klar. Weder ich noch sonst wer kann dazu verpflichtet werden.