Wie sieht das Leben eines Paketboten aus? Das Abendblatt war einen Tag mit René Caban unterwegs. Von schweren Paketen, bösen Vorurteilen und kleinen Freundschaften

Am schlimmsten ist das Katzenstreu. Wer bestellt denn Katzenstreu per Post? Diese Eimsbüttlerin macht das regelmäßig. Es ist ja auch praktisch, sich schwere Dinge von jemandem hochschleppen zu lassen. Jemandem wie René Caban. Bis zu 20 Liter groß können solche Säcke sein, die er dann in den fünften Stock hievt. Andere lassen sich Bügelbretter liefern, Weinkisten oder Autoreifen. Manche kommen ihm im Treppenhaus entgegen, die meisten aber nicht. Von Paketsklaven ist in einigen Medienberichten die Rede, wenn es um Zusteller geht. Von Menschen, die am Limit sind, unterbezahlt, unzuverlässig und ausgebeutet.

Diesen Eindruck macht René Caban von der DHL nicht. Tatsächlich ist er gut gelaunt und motiviert. Er sagt: „Das hier ist mein Traumjob. Ich bin mein eigener Herr und kann mir meine Arbeit einteilen.“ Unterwegs mit einem, den in seinem Zustellbezirk fast jeder kennt – und der umgekehrt jeden Tag an Wohnungstüren steht und immer auch kurze Einblicke in das Leben der Menschen erhält. Da ist die Frau, die gern im Bademantel die Tür öffnet. „Die kommt dann eben immer gerade aus der Dusche“, sagt René Caban und grinst. Diskretion gehört dazu. Zufall sicher auch die andere Kundin, die ihm einmal nur im Stringtanga die Wohnungstür geöffnet hat. Die Kunden, glaubt der 36-Jährige, sind sich dessen vermutlich gar nicht so bewusst. „Beim ersten Mal habe ich noch einen roten Kopf bekommen“, sagt er. So peinlich war das. Heute kann er mit solchen Situationen souverän umgehen.

Es ist körperliche Arbeit, auch wenn ein Paket nicht mehr wiegen darf als 31,5 Kilogramm. Die meisten wiegen selten mehr als zehn Kilo. René Caban ist ein sportlicher, muskulöser Typ. Das kommt nicht allein vom Paketetragen und von den täglich rund 18.000 Schritten. Er ist Bodybuilder, der von dieser Arbeit sogar profitiert: „Ich sehe meinen Job als Sport“, sagt Caban. Das Herumlaufen und Treppensteigen sei sein Ausdauertraining.

Jetzt noch mehr als sonst. Seit dem 14. November hat Dennis Vondran, Cabans Chef im Zentraldepot an der Kal­tenkirchener Straße in Altona, aufgestockt. Denn das Weihnachtsgeschäft, Starkverkehr nennen sie das hier, läuft. 50 zusätzliche Kräfte werden dafür angelernt. Normalerweise kommen 10.000 bis 11.000 Pakete aus dem Paketzentrum Allermöhe jeden Tag im Zentraldepot in Altona an und werden ausgeliefert, das sind im Schnitt 150 Pakete pro Zusteller. In der Spitze, also in den kommenden Wochen, werden es hier mehr als 20.000 Sendungen jeden Tag sein. Depotleiter Dennis Vondran: „Zur Weihnachtszeit richten wir neue Touren zur Entlastung der Fahrer ein, dann schafft jeder 170 bis 190 Pakete.“

Der erste Kunde, an dessen Tür René Caban an diesem Dienstagmorgen um kurz nach 10 Uhr am Eppendorfer Weg in Hoheluft-West klingelt, ist nackt an den Füßen und öffnet im Bademantel die Tür. Dieses Mal sind es keine Weinflaschen, sondern kleinere Pakete, die er in den zweiten Stock trägt. Ebenso Routine wie das Zücken seines Handscanners, des Hochleistungscomputers im Miniformat. Der Kunde quittiert den Empfang seiner Sendung, weiter geht es. „Ich kenne jeden Kunden, weiß, was die bestellen“, sagt Caban auf dem Weg die Treppen hinunter zu seinem gelben Lieferfahrzeug.

Er muss zusehen, jedes Paket loszuwerden

Ein kleiner Test: Wer wohnt in der Gneisenaustraße 29, dritte Etage links? Er nennt den Namen. Mansteinstraße 6, sechste Etage? Er kann die Menschen den Straßen und Hausnummern zuordnen. Er kennt nur diejenigen nicht, die niemals da sind. So wie die Bewohner eines Hauses an der Mansteinstraße. „Wenn die nette Dame im Erdgeschoss nicht da ist, ist Hopfen und Malz verloren“, sagt Caban. Denn er muss zusehen, dass er die meisten seiner Pakete loswird. Kehrt er häufig mit einer bestimmten Zahl ins Depot zurück, muss er sich erklären. Dann wird geschaut, woran es liegt, denn Ziel auch im Sinne der Kunden ist, das Paket direkt beim Empfänger oder bei Nachbarn zuzustellen. Glück gehabt: Die nette Dame ist da.

Die freut sich ebenso, Herrn Caban zu sehen, wie anscheinend die meisten hier. In seinem Viertel schwärmen sie geradezu von ihm. „Er ist der Beste und Witzigste überhaupt“, sagt Frederike Castan-Oelting vom Laden Happy Balloon. Heute hat René Caban sieben Pakete für das Geschäft dabei. Ihr Paketzusteller sei offen, locker und immer gut drauf, sagt die Ladeninhaberin. „Außerdem spricht er mit uns, und dann auch noch auf Deutsch“, sagt sie. Das sei keine Selbstverständlichkeit.

Es sind immer nur kurze Augenblicke der Begegnung, und doch gehört der Zusteller zum Alltag. Für einen Moment ist er Teil ihres Lebens und gibt den Kunden das Gefühl, sie zu kennen. Von einer Frau weiß er, dass sie sich gerade von ihrem Freund getrennt hat.

Herzliches Hallo im Café Kropka am Eppendorfer Weg. Als das Geschäft aufmachte, hatte der Paketmann dort besonders viel zu tun, weil sich Chefin ­Katrin Koch sämtliche Deko liefern ließ. Dafür gibt es einen Kaffee gratis zum Mitnehmen. „Ich freue mich, wenn er kommt, er gehört zum Tagesablauf dazu. Er ist sehr anständig“, sagt Frau Koch. Ihre Erfahrungen mit anderen Paketzustellern seien nicht so gut. Das erzählen an diesem Tag viele Kunden.

Die Leute kaufen immer mehr im Internet, das merkt auch René Caban, der selbst noch nie etwas online bestellt hat. „Ich gehe viel lieber mit Freunden in die Stadt.“ Manche haben keine andere Möglichkeit. So wie Jan Friesel. Er hat Multiple Sklerose und ist schwerbehindert. Nur mit einem Rollator kann er unterwegs sein. Beschwerlich, da er im vierten Stock wohnt. Ohne Fahrstuhl. Für ihn ist der Internetversand ein Segen. So kann er sich das Buch an die Haustür liefern lassen.

Paketmann René, alle duzen ihn, hat sich schnell in die Herzen seiner Kunden gearbeitet. Dabei ist es gerade eineinhalb Jahre her, dass er in diesem Viertel anfing. Nach einem Job im Einzelhandel, in einem Geschäft für Fitness-Spezialnahrung, startete er zunächst als Zusteller in Norderstedt. Norderstedt, sagt er, sei ein ganz anderes Pflaster als die Hamburger Innenstadt. Während er hier auf seiner Tour, die die Nummer 830 hat, täglich bis zu 15 Sendungen nicht abgeben kann, weil niemand die Tür öffnet, waren es in Norderstedt 15 Pakete in der Woche. „Dort konnte ich die Pakete nach Absprache mit den Kunden irgendwo im Garten deponieren, im Carport – oder sie waren eben zu Hause.“

Das ist in Hamburg anders. Die Menschen leben in Mehrfamilienhäusern ohne Carport, sind berufstätig und häufig nicht da. Dann lässt er die Pakete bei Nachbarn oder versucht es am nächsten Tag erneut. In dem Fall nimmt er die Pakete zurück ins Depot an der Kaltenkirchener Straße, um sie am nächsten Tag wieder mitzunehmen. Oder er hinterlässt eine Benachrichtigungskarte im Briefkasten, und der Kunde muss das Paket im zuständigen Paketshop abholen. Mittlerweile können Kunden sich das auch per E-Mail mitteilen lassen. Warum die Benachrichtigung manchmal erst Tage später im Briefkasten liegt? Dann kam der Zusteller nicht an den Briefkasten und musste das Kärtchen per Post verschicken.

Pinkel- und Raucherpause beim Schuster an der Ecke

Im Schnitt sind es bis zu 200 Pakete, die er jeden Tag ausliefert. Damit die Touren mit dem zunehmenden Weihnachtsgeschäft weiterhin zu bewältigen sind, werden sie bis Januar aufgeteilt, entlastet heißt das. Auch René Caban wurde entlastet und gibt eine seiner zehn Straßen ab. Ausgerechnet die Kottwitzstraße. Dort sind die Menschen besonders nett, sagt er. Dort sind sie aber auch Bestellweltmeister: Pro Tag liefert er dort 80 bis 100 Sendungen ab. Caban mag die Weihnachtszeit. Dann gibt es Trinkgeld und Schokolade. Am 23. Dezember wird er auch arbeiten.

Heute wird es ein früher Feierabend für den rasenden Zusteller, der mit einem anderen Kollegen zu den Schnellsten seines Depots zählt. Zwar beträgt die offizielle Arbeitszeit 10 Stunden und 45 Minuten am Tag, aber wer fertig ist, ist fertig. Der Stundenlohn richtet sich nach der Region, in Hamburg sind es um die 12 Euro/Stunde, zuzüglich Zuschläge und Spesen. Wer so schnell ist wie René Caban, bekommt vom Chef noch ein paar Pakete und dafür ein paar Euro mehr im Monat. Er ist flink, aber gelassen. „Mit Hektik bringt das gar nichts“, sagt er, als ein Kollege im gelben DHL-Wagen viel zu schnell an ihm vorbeifährt. Kopfschütteln.

René Caban geht strategisch vor. Die richtige Organisation und Vorarbeit ist alles. Bevor er von einer Straße in die nächste fährt, sortiert er vor – die Pakete mit geraden Hausnummern in ein Fach, die mit ungeraden ins andere. Er beliefert erst die eine Straßenseite, fährt mit dem Fahrzeug ein Stück weiter, springt heraus und wieder herein. Paket für Paket, Meter für Meter. Dann kommt die gegenüberliegende Straßenseite dran. „Es wäre viel zu gefährlich, ständig die Straßenseite zu wechseln“, sagt er.

Es sind nur oberflächliche Begegnungen mit seinen Kunden, aber dafür sieht man sich manchmal täglich. Wie bei Hans-Jörg Kruse. Er scheint überrascht zu sein über die vier großen Pakete. „O Gott, meine Tochter hat wieder Klamotten bestellt.“ Herr Kruse ist einer von Cabans Stammkunden. „Wir bestellen viel, weil ich keine Lust habe, in die Stadt zum Einkaufen zu gehen“, sagt er.

Zurück auf der Straße. Wieder jemand, der sich freut, den DHL-Mann zu sehen: Liba Frauenholz kommt mit ihrem Fahrrad vorbei. „Haben Sie mein Bügelbrett dabei?“, will sie wissen. Hat er. Bevor es in die Gneisenaustraße geht, macht er wie jeden Tag Pause bei Schuster Oliver Neumann am Eppendorfer Weg. Dort darf er jederzeit die Toilette benutzen. Vor der Tür macht er gegen 13 Uhr Raucherpause.

Immerhin ist er jetzt schon seit 7.55 Uhr im Einsatz. Denn vor dem Ausliefern der Pakete kam die Vorarbeit. Im Zentraldepot in Altona hatte er die Päckchen am Morgen aussortiert, eingescannt und in sein Fahrzeug gestapelt. Alles per Hand. Es ist die einzige Zeit des Tages, an der er mit Kollegen in Kontakt kommt. 100 Menschen aus allen Nationen arbeiten hier.

Sind die Pakete ausgeliefert, die nicht zugestellten Sendungen zurück ins Depot an der Kaltenkirchener Straße in Altona gebracht und die Abrechnung gemacht, ist Schluss. Aber noch nicht ganz. Außer sonnabends, wenn René Caban HSV guckt, geht er jeden Abend zum Pumpen, zum Gewichteheben, ins Fitnessstudio in Steilshoop. Er hat Großes vor: Im Herbst will er an Meisterschaften teilnehmen. Schon jetzt stemmt er 120 Kilo. Was ist da schon ein Sack Katzenstreu?