Der Rechtsmediziner Klaus Püschel obduziert Leichname, der Theologe und Vorstandschef der Stiftung Alsterdorf, Hanns-Stephan Haas, hat seinen Vater beerdigt. Ein Gespräch vor dem Totensonntag über das Leben und das Sterben

Nebenan im Sektionssaal wird das Gehirn eines kurz zuvor Verstorbenen entnommen. Für Prof. Klaus Püschel, Chef des Instituts für Rechtsmedizin ein seit Jahrzehnten gewohntes Terrain. Prof. Hanns-Stephan Haas ist das erste Mal in einem Sektionsraum. Als Vorstandschef der Stiftung Alsterdorf beschäftigt ihn vor allem die Arbeit für Menschen mit Behinderung. Und doch verbindet den Rechtsmediziner und den Theologen mehr als man denkt.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Klaus Püschel: Ja klar – weil das Leben so viel Spaß macht.

Ist das Angst vor dem Tod oder eher vor dem Sterben? Oder die Trauer um die eigene Endlichkeit?

Püschel: Letzteres. Vor dem Sterbevorgang selbst habe ich nicht viel Angst, weil ich weiß, dass ich Medikamente einnehmen kann, damit es nicht wehtut. Wenn es nach mir geht, dann werde ich meinen Tod – hoffentlich sozialverträglich – nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten können, damit es nicht so lange dauert, und zu einem Zeitpunkt, den ich für rechtzeitig ansehe.

Was meinen Sie konkret?

Püschel: Es ist wichtig, darüber nachzudenken und die Möglichkeiten, die es gibt, rechtzeitig mit seiner Familie und den Freunden zu besprechen. Ich kann von jetzt auf gleich in einen Zustand kommen, der mir nicht lebenswert erscheint. Dann müssen andere eingreifen, und das muss ich frühzeitig mit ihnen besprechen. Damit die auch die innere Stärke haben, mein Leben zu beenden.

Haben Sie das schriftlich hinterlegt?

Püschel (holt einen zusammengefalteten Zettel aus seinem Portemonnaie): Ich trage meine Patientenverfügung immer bei mir. Wichtiger ist aber, dass ich das mit meiner Familie besprochen habe. Da wir in der Familie mehrere Mediziner haben, sollte das technisch möglich sein.

Herr Haas, wie stehen Sie zu den Möglichkeiten, das Ende seines Lebens selbst zu bestimmen?

Hanns-Stephan Haas: Da habe ich keine typisch protestantische Antwort. Ich respektiere das Recht, das eigene Lebensende mitzubestimmen. Aus seelsorgerischer Erfahrung weiß ich, dass für Menschen manchmal das Leben unerträglich wird. Schwer tue ich mich aber mit Gesellschaften, in denen Euthanasie sehr liberal geregelt wird und so ein gesellschaftlicher Druck zur Lebensbeendigung entsteht. Wir brauchen als Gesellschaft eine hochwertige Auseinandersetzung über die Frage von Sterbehilfe; individuell kann ich mir eine Menge vorstellen.

Herr Püschel, der Bundestag hat entschieden, dass jede Form der aktiven Sterbehilfe verboten bleibt. Hätten Sie sich eine andere Entscheidung gewünscht?

Püschel: Eindeutig ja. Es sollte – natürlich auf der Basis einer freien Entscheidung – Möglichkeiten geben, das eigene Leben zu beenden, zu einem Zeitpunkt, an dem es für diese Person nicht mehr lebenswert erscheint. Da sollte derjenige gut beraten werden und nicht weite Reisen antreten müssen. Dann sollten in geeigneten Verfahren Personen und Mittel bereitstehen, um das umzusetzen.

Herr Haas, als Theologe haben Sie die feste Überzeugung, dass es nach dem Tod weitergeht. Wie beeinflusst das Ihre Haltung zu Sterben und Tod?

Haas: Ich habe jedenfalls eher Angst vor dem Sterben. Ich liebe dieses Leben und glaube, dass das Sterben mit physischem Schmerz und vor allem mit Trennungsschmerz verbunden sein wird. Ungeklärte Beziehungen und Unerledigtes werden das Abschiednehmen vielleicht belasten. Im Blick auf das, was einem mit dem Leben verloren geht, ist der Tod nichts, was ich einfach überspringen kann in der Hoffnung auf ein Leben bei Gott. Aber es ändert meine Haltung dazu. Es ist nicht der Tod, der mich schreckt. Da habe ich eine gewisse Gelassenheit.

Was ist denn Ihre Vorstellung von dem, was da passiert?

Haas: Wir Theologen gehen davon aus, dass die Ewigkeit etwas völlig anderes ist als nur die Fortschreibung der Zeit unter Weglassung negativer Begleitumstände. Bei Gott sein ist nichts, was wir in unseren Vorstellungshorizont so einfach einfügen können. Ich stelle mir das manchmal auch in sehr naiven Bildern vor. Ich glaube, dass es eine Form der Heilung von Brüchen gibt, eine Form der Ganzheit, die ich mir wünsche.

Herr Püschel, glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Püschel: Das kann ich mir nun überhaupt nicht vorstellen. Ich habe eine naturwissenschaftlich geprägte Vorstellung. Was nach dem Tode geweblich von uns bleibt, weiß ich gut. Was aus dem Menschen wird, ist ja klar: 70 Prozent gehen ins Feuer und werden verbrannt. Die anderen werden in der Erde begraben und dort wieder zu Erde.

Und was passiert mit der Seele?

Püschel: In einem Toten habe ich noch niemals eine Seele gefunden. Ich weiß nicht, wo sie sein soll. Ich habe keinen Anhaltspunkt, dass es nach unserem letzten Atemzug noch etwas gibt. Was von mir bleibt, sind Bilder, Bücher, die ich geschrieben habe, oder Berichte im Abendblatt, Ideen, die ich meinen Kindern vermittelt habe. Sonst nichts.

Ist es nicht ein bisschen trost- oder hoffnungslos, so zu denken?

Püschel: Nein, es ist realistisch. Ich weiß, dass mein Leben mit meinem letzten Atemzug beendet ist. Wir werden dann wieder zu einer ungeordneten Ansammlung von Atomen und Molekülen und irgendwann, in vier Milliarden Jahren, ist auch die Erde weg, weil dann die Sonne erloschen ist.

Das sehen Sie als Theologe vermutlich anders, Herr Haas.

Haas: So groß sind die Unterschiede vielleicht gar nicht. Die Besonderheit des jüdisch-christlichen Glaubens ist, dass die Hoffnung auf etwas nach dem Tod sich nicht richtet auf eine unsterbliche Substanz im Menschen, die man nirgendwo nachweisen müsste. Die Auferstehungshoffnung speist sich daraus, dass wir glauben, dass die Macht Gottes auch in das Totenreich hineinreicht. Da geht es nicht um Auferstehung als Befreiung einer Kernsubstanz, die sich als todesfest erweist. Auferstehung ist Auferweckung; die Hoffnung, dass Gottes Handlungsmöglichkeiten nicht zu Ende sind. Die Frage, ob man sich die Existenz eines Gottes vorstellen kann, muss zwischen Naturwissenschaftlern und Theologen nicht strittig sein.

Und wo ist aus Ihrer Sicht die Seele?

Haas: Sokrates ist einmal danach gefragt worden. Es gebe den Menschen, Arme, Beine, einen Kopf – aber eine Seele? So­krates, der in einem Wagen unterwegs war, antwortete: „Ich sehe Räder, eine Achse, ein Dach – aber wo ist der Wagen?“ Die Vorstellung einer unsterblichen Seele richtet sich im Christentum darauf, dass im Menschen als Geschöpf Gottes ein Teil seiner Ewigkeit angelegt ist. Darüber hinaus könnte man bei Seele auch an Energie denken. Wenn wir uns hier zum ersten Mal begegnen, unsere Ausstrahlung gegenseitig bemerken, dann läuft da auch energetisch etwas ab. Und da gilt der Satz, dass Energie sich verwandelt, aber nie verloren geht.

Herr Püschel, Sie sind vermutlich kein Kirchgänger?

Püschel: Ich gehe gern in eine Kirche, wenn dort eine Veranstaltung ist, die ich mag. Ich respektiere auch, was Kirchen gesellschaftlich leisten. Und wenn es einem Menschen Frieden beim Sterben gibt, weil er die Hoffnung hat, dass hinterher noch was kommt, ist das doch gut. Für mich ist dann nichts mehr. Deswegen ist meine eigene Perspektive zum Ende des Lebens eher negativ.

Wo sollte denn Ihre Trauerfeier stattfinden?

Püschel: Eine Kirche wäre meinem Verhalten eher nicht angemessen. Ein Hörsaal schon eher, weil ich mit Leib und Seele Hochschullehrer bin. Oder in einem privaten Haus bei meinen Kindern und Enkelkindern.

Haas: Ich kann sehr viel anfangen mit der bergenden Kraft von Ritualen, mit Worten, die viele Tausend Jahre alt sind. Im Kern der christlichen Trauerfeier steht ja das Kreuzzeichen, wir segnen die Menschen aus. Wir sagen: Im Kreuzzeichen bist du geboren, im Kreuzzeichen begehen wir auch deinen Ausgang. Da wird ein Bogen gespannt mit einer Kraft und Stärke, die ich nicht missen möchte.

Püschel: Mir ist bewusst, dass Rituale in vielen Phasen des Lebens sehr wichtig sind. Aber was Sie beruhigend nennen, finde ich oft nur langweilig. Wir haben vor einiger Zeit auf dem Friedhof in Öjendorf den Leichnam eines italienischen Kriegsgefangenen ausgegraben, sein inzwischen 70-jähriger Sohn hatte fast sein ganzes Leben nach ihm gesucht. Durch DNA-Spuren konnten wir seine Identität nachweisen. Ich war Gast der Trauerfeier, habe für die Messe eine sehr persönliche Rede geschrieben, die ins Italienische übersetzt wurde. Es gab Applaus. Nach der Rede des Kardinals, der nur Allgemeinplätze von sich gegeben hatte, rührte sich kein Finger.

Haas: Ich kenne solche Trauerfeiern, manchmal habe ich mich für meine Kirche geschämt, weil nur noch Floskeln abgespult wurden, ohne jeden persönlichen Bezug. Auf der anderen Seite lehne ich auch total durchdesignte, komplett individualisierte Feiern ab. Am Ende möchte einer womöglich noch sein heiß geliebtes Motorrad bestatten. Nein, Kirche darf nicht zur Wunscherfüllungsmaschine degenerieren. Inhaltliche Botschaften sind nicht Verhandlungsmasse.

Was kann uns der Tod fürs Leben lehren?

Haas: „Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat“, heißt es in einem Psalm. Etwas flapsig gesagt: Lehre mich, dass ich ein Verfallsdatum habe. Ich bin in einem unumkehrbaren Prozess, den ich annehmen muss. Deshalb muss ich meine Beziehungen klären. Ich muss mein Älterwerden akzeptieren und mein Altsein. Rechtzeitig. Unser Tod ist hier ein wichtiger Treiber für dieses Nachdenken.

Püschel: In Vorlesungen sage ich angehenden Medizinern immer wieder: Das einzig Sichere ist der Tod. Und man sollte wissen, wie schnell es zu Ende gehen kann. Ein Student von mir hat einmal meine Vorlesung früher verlassen, weil er noch einen Termin hatte. Er ist ganz in der Nähe vom Institut mit seinem Rennrad vor einen Lkw gestürzt und wurde überrollt. Nach der Vorlesung lag er bei mir auf dem Tisch. Deshalb: nichts aufschieben. Den vereinbarten Besuch bei einem Freund jetzt machen.

Sie sehen in Ihrem Institut auch Opfer, die sehr viel Leid erfahren haben. Wie sehr belastet Sie das?

Püschel: Es gibt Tage, nach denen komme ich schlechter in den Schlaf, wenn ich bei der Obduktion gesehen habe, wie viel Leid, wie viel Gewalt ein Opfer aushalten musste. Aber bei der Arbeit selbst muss ich Emotionen ausblenden, das ist ganz wichtig. Meine Ergebnisse müssen auch vor Gericht bestehen können.

Haas: Ein Pastor muss in ganz schwierigen Lagen den Angehörigen Beistand leisten. Wenn das Kind bei einem Unfall ums Leben kam. Oder ein geliebter Mensch Selbstmord begangen hat. Da geht es dann neben dem Abschiedsschmerz und der Trauer auch um Schuldgefühle. Für all das braucht es Raum, gerade weil es keine einfachen Antworten gibt. Diesen Raum zu schaffen macht die Arbeit von Pastoren auch so kostbar.

Püschel: Wir machen die Erfahrung, dass die Angehörigen von uns Rechtsmedizinern vor allem Klarheit wünschen. Sie möchten wissen, wie der Mensch gestorben ist, die Umstände seines Todes. Und was nun mit seinem Leichnam passieren wird.

Haas: Uns Theologen begegnet immer die Frage nach dem Warum. Warum ist dieser Mensch jetzt gestorben? Warum habe ich mein einziges Kind verloren? Für diese großen W-Fragen gibt es keine Antworten. Aber es bleibt wichtig, dass man sie stellen darf.

Püschel: Wir Rechtsmediziner können klären, wieso ein Mensch gestorben ist, etwa bei einem Suizid an einer Überdosis Medikamente. Aber wir können nicht im Hirngewebe Gedanken lesen.

Obduzieren Sie auch enge Freunde?

Püschel: Selbstverständlich. Das ist immer sehr schmerzhaft, aber für mich ist das auch eine Frage von Würde und Achtung. Ich habe akademische Lehrmeister, mit denen ich sehr eng verbunden bin, die ausdrücklich wünschen, dass ich sie nach ihrem Tod obduziere. Sie sagen: Der Püschel macht das sehr gewissenhaft, er wird die Wahrheit herausfinden.

Haas: Ich habe die Trauerfeier nach dem Tod meines Vaters gemacht, obwohl ich zu dessen Lebzeiten immer gesagt habe, ich kann das nicht, ich möchte dann selbst trauern können. Doch als ich die Todesnachricht erfahren habe, habe ich mich umentschieden. Es war für mich die angemessenste Art, mit meiner Trauer umzugehen, meinen Vater noch einmal zu würdigen, ihn zu ehren. Und unterbewusst spielte bestimmt auch eine Rolle, dass ich es nicht ausgehalten hätte, wenn ein anderer Pastor nicht die richtigen Worte gefunden hätte.

Herr Püschel, gibt es Situationen, wo Sie Angehörigen sagen, es ist besser, wenn diese ihren Partner, ihr Kind nicht mehr sehen?

Püschel: Wir haben hier Leichname, die stark entstellt sind, etwa nach schweren Unfällen. Dennoch biete ich den Angehörigen immer an, dass sie sich verabschieden können. Wir haben dafür einen eigenen Raum. Ich kläre die Angehörigen vorher auf, was auf sie zukommt. Auf Wunsch bedecken wir auch Teile der Leiche mit einem Tuch. Aber ich halte es für falsch, einen Expertenrat zu geben, sich besser nicht zu verabschieden.

Haas: Das sehe ich genauso. Jeder sollte die Möglichkeit haben, seinen Angehörigen noch einmal zu sehen, da steht das Wunsch- und Wahlrecht an erster Stelle. Aus meiner Erfahrung kann eine gute Hilfe sein, wenn man sich dabei von einem Geistlichen begleiten lässt.

Püschel: Ich erlebe immer wieder, dass sich Angehörige später vorwerfen: Warum habe ich den persönlichen Abschied versäumt?