Vor genau 20 Jahren wurde der Hamburger Landesverband gegründet, der deutlich niedrigere Hürden bei Volksentscheiden und ein neues Wahlrecht durchsetzte. Nur zuletzt lief es nicht mehr so gut

Als sich gut 20 Frauen und Männer am 6. November 1997 in den damaligen Räumen der Evangelischen Akademie an der Esplanade trafen, um den Landesverband von Mehr Demokratie zu gründen, da ahnte vermutlich keiner der Teilnehmer, dass das zumindest für sie der Beginn einer Erfolgsgeschichte sein würde. Jetzt, 20 Jahre später, lässt sich sagen, dass der etwas unscheinbar wirkende Verein das demokratische System in Hamburg nachhaltig verändert hat – hin zu mehr direkter Bürgerbeteiligung.

Bürgerbegehren und -entscheide wurden auf Bezirksebene eingeführt. Das Bürgerschaftswahlrecht wurde umgekrempelt: Mehr Demokratie hat Wahlkreise durchgesetzt, jeder Wähler hat zehn Stimmen, die er auf Parteien und ihre Kandidaten verteilen kann. Die Listen der Parteien sind nicht mehr bindend. Und Mehr Demokratie hat schließlich dafür gesorgt, dass die anfangs sehr hohen Hürden für den Erfolg von Volksbegehren und -entscheiden abgesenkt wurden und dass Letztere inzwischen verbindlich sind.

Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass keine Organisation jenseits von Parteien und staatlichen Institutionen wie Bürgerschaft, Senat und Gerichten die Architektur der politischen Entscheidungsprozesse so beeinflusst hat wie eben Mehr Demokratie. Der Einbau plebiszitärer Elemente geht aber zulasten der repräsentativen, der parlamentarischen Demokratie, es geht mithin um Macht und Einfluss. Das erklärt auch, warum die ehrenamtlichen Aktiven von Mehr Demokratie und die Vertreter von Bürgerschaft und Senat über viele Jahre erbittert gestritten und sich zum Teil heftig bekämpft haben.

Einfache Botschaftenführten häufig zum Erfolg

Der Moorburger Nebenerwerbsbauer Manfred Brandt, Kopf und Gesicht von Mehr Demokratie in Hamburg von Anfang an, ist ein im Rathaus durchaus gefürchteter Mann, auch wenn kaum jemand das je zugeben würde. Mehr Demokratie verstand es eben immer wieder, unter Brandts verschmitzt-gewiefter Ägide mit einfachen Botschaften Mehrheiten für die Sache der direkten Demokratie bei Abstimmungen zu finden. Denn: Wer ist schon gegen mehr Demokratie?

Und doch: Wenn rund 100 Mitstreiter, Weggefährten und Gäste morgen Abend im Goldbekhaus in Winterhude das 20. Jubiläum des Hamburger Landesverbandes feiern, dann wird sich ein nachdenklicher Ton in die Reden und Gespräche mischen. Es hat den Anschein, als ob die stürmischen Jahre, in denen die direkte Demokratie von Erfolg zu Erfolg eilte, vorbei sind. Angesichts spektakulärer Entscheidungen wie des Neins zu Olympia oder des teuren Rückkaufs der Energienetze stellt sich auch vielen Bürgern längst die Frage, wie viel direkte Demokratie der Stadtstaat verträgt, um funktionstüchtig und wettbewerbsfähig zu bleiben.

Mittlerweile schlägt das Pendel erkennbar in die andere Richtung aus und bringt eine erneute Stärkung der repräsentativen Demokratie. So kann es durchaus sein, dass die zentrale Aufgabe, die vor Mehr Demokratie liegt, darin besteht zu verhindern, dass die direkte Demokratie weiter geschwächt wird. So werden aus den einstigen Reformern Bewahrer des Erreichten.

Hamburg war ein Spätzünder in Sachen direkter Demokratie. Als letztes der Länder der alten Bundesrepublik führte der Stadtstaat 1996 die Volksgesetzgebung mit den drei Stufen Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid ein. Das von SPD und Statt-Partei gebildete Bündnis unter Leitung von Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) hatte allerdings die Hürden so hoch gelegt, dass kaum jemand damit rechnete, dass eine Initiative mit einem Volksentscheid einmal Erfolg haben könnte, wenn sie es überhaupt so weit schaffte. Der Protest gegen das Gesetz und die Forderung nach niedrigeren Erfolgshürden war die Geburtsstunde von Mehr Demokratie.

Und der Start war verheißungsvoll: Parallel zur Bundestagswahl 1998 erreichte der Verein beim Volksentscheid zur Senkung der Hürden mit 544.989 Jastimmen einen Anteil von 74 Prozent. Das Kriterium, wonach 50 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmen mussten, wurde allerdings knapp verfehlt. Damit fiel der Volksentscheid durch. „Unecht gescheitert“, wie Brandt und seine Mitstreiter damals sagten. In Wahrheit war die Niederlage aber ein großer Erfolg und setzte Mehr Demokratie mit einem Schlag auf die Mitte der politischen Bühne. Wenig später beschloss die Bürgerschaft, nun unter rot-grünen Vorzeichen, eine Absenkung der sogenannten Quoren.

Beim zweiten, zeitgleich durchgeführten Volksentscheid setzte sich Mehr Demokratie unmittelbar durch. Das Volk beschloss die Einführung von Bürgerbegehren und -entscheiden auf Bezirksebene, also eine direkte Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene.

„Uns ging es immer darum, die Demokratie demokratischer zu machen. Wir wollen, dass nicht über die Köpfe der Hamburger hinweg Politik gemacht wird“, sagt Angelika Gardiner, eine der Aktivistinnen der ersten Stunde und bis heute dabei. Gardiner hat noch die „Aktie“, die die Gründungsmitglieder für 100 D-Mark (rund 50 Euro, die Red.) damals kaufen konnten, um den jungen Verein finanziell zu unterstützen. „Aktie kommt von Aktion. Uns wurde damals eine ideelle Rendite versprochen“, sagt die 76-Jährige lachend. Die habe es reichlich gegeben. „Bei einem Abenteuerurlaub müsste man ein Vielfaches zahlen.“

Zehn Jahre lang, so ist Gardiners Einschätzung, habe es mit den Bürgerbegehren auf Bezirksebene gut geklappt. „Es hat Abstimmungen, aber auch Kompromisse mit der Verwaltung gegeben. Seit einigen Jahren wird aber alles versenkt“, klagt Gardiner. Der Senat kann missliebige Entscheidungen der unteren Ebene „evozieren“, an sich ziehen – eine Folge der „Einheitsgemeinde“ Hamburg, die keine eigentliche Kommunalverfassung hat. Damit wird das Bürgervotum ausgehebelt. Das sei immer häufiger der Fall und auch „eine Folge des Baurausches, der über Hamburg hereingebrochen ist“, so Gardiner.

Dennoch: Hamburg ist seit vielen Jahren Spitzenreiter unter den Ländern bei der Volksgesetzgebung. Das belegt das „Direkte-Demokratie-Ranking“ des Bundesverbands von Mehr Demokratie ein ums andere Mal. Viele Themen sind für Initiativen zulässig, die Hürden gelten als überwindbar. Und: Das Volk hat in Hamburg das letzte Wort. Ein Beispiel: Wenn die Bürgerschaft ein vom Volk beschlossenes Gesetz ändern will, muss sie die Neufassung wiederum dem Volk zur Abstimmung vorlegen.

Das Ergebnis ist eine rege Nutzung der Instrumente plebiszitärer Demokratie. Seit 1996 sind 45 Verfahren abgeschlossen worden, darunter aber nur sieben Volksentscheide (siehe kleiner Text unten rechts). Es gab kuriose Forderungen wie die nach Schaffung eines Halloween-Feiertages (die Unterschriften wurden nicht eingereicht) und Abstimmungen, die ein politisches Erdbeben auslösten, wie das Nein zur sechsjährigen Primarschule 2010, das letztlich die schwarz-grüne Koalition sprengte. Aktuell laufen zwei Volksinitiativen – für eine bessere Inklusion an Schulen und eine bessere Personalausstattung in den Kitas.

Manfred Brandt sieht drei große Erfolge: die Schaffung des Transparenzportals, also der Schritt zur gläsernen Bürokratie, die Verankerung der Verfahrensregeln der Volksgesetzgebung und das neue Wahlrecht. „Der ewige Kampf um das Wahlrecht hat mich überrascht“, sagt Brandt, den nicht viel überrascht. Immer wieder hat es Versuche der Bürgerschaft gegeben, das Wahlrecht zu ändern und den Einfluss der Parteien wieder zu stärken. Auch in dieser Legislaturperiode plant die Bürgerschaft Änderungen, auch weil die Wahlzettel mit zehn Stimmen als zu kompliziert gelten. Aber diesmal wollen die Fraktionen Brandt und seine Mitstreiter gleich in ihre Planungen einbeziehen, was auch eine Respektsbekundung ist. So kann man sich späteren Ärger in Gestalt einer Volksinitiative ersparen.

Zuletzt lief es nicht mehr so gut für Brandt und seine Mitstreiter. Im Oktober 2016 stoppte das Hamburgische Verfassungsgericht eine Volksinitiative von Mehr Demokratie wegen Verfassungswidrigkeit und schob einer Ausweitung der plebiszitären Demokratie einen Riegel vor. Das war eine von vielen kaum (mehr) für möglich gehaltene Stärkung der parlamentarischen Demokratie. Und auch Brandts Initiative zur Schaffung einer echten Kommunalverfassung, was die Zerschlagung der Einheitsgemeinde bedeuten würde, liegt wegen Verfassungsbedenken auf Eis.

Brandt bleibt gelassen. „Es gibt zur Volksgesetzgebung immer eine Gegenbewegung. In dieser Phase sind wir jetzt. Das bleibt eine Baustelle“, sagt der 72-Jährige nüchtern. Das höchstrichterliche Urteil nagt aber weiter an ihm: „Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass ein Verfassungsgericht die Volksvertreter so weit über das Volk stellt.“ Wie es jetzt mit Mehr Demokratie weitergeht, ist noch nicht so ganz klar. „Wir sind in der Grübelphase“, sagt Brandt. Dass er, der 30 Jahre lang FDP-Mitglied war, von manchen als „Parteienhasser“ dargestellt wird, hat ihn „nicht verletzt, aber überrascht“. Und dann sagt er noch einen Satz, den sich seine politischen Gegner merken sollten: „Wir werden regelmäßig unterschätzt.“