Millionen von Besuchern im neuen Hamburger Wahrzeichen, rasant gestiegenes Interesse an Klassik, ein neues Selbstverständnis der Kulturstadt Hamburg. Nur zwei von vielen Aspekten aus der Geschichte der Elbphilharmonie, die vor einem Jahr mit der Plaza-Einweihung begann

Um die 866 Millionen Euro abrechnen, ein Mehr­faches der Zahl auf dem ersten amtlichen Preisschild. Jahrelang verspottet, beschimpft und verklagt werden. Sich das Renommee als kühl rechnende Metropole versauen. Mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse durchleiden. Auf zähe Krisengipfel und schlauchende Nachtsitzungen abonniert sein. Ego-Armdrücken mit unverantwortlichen Verantwortlichen. Etwa ein Jahr Stillstand aushalten, bis es weitergeht und die ersten auf ewig verschweißt geglaubten Knoten platzen. Und immer wieder: weitermachen, ­Augen auf und durch. Es hilft ja nichts.

Dieses ganze Gewese mitmachen, um am Ende, in den wirklich wichtigen Momenten, einfach mal: nichts zu ­hören. Nur sich selbst beim Dabeisein zu hören. Still sein zu müssen, zu dieser ­Ruhe kommen zu dürfen. Seelenverändernde, horizonterweiternde Musik zu erleben, wie es so nirgendwo sonst auf der Welt möglich ist, in einem einmaligen Raum für die Begegnung mit: Kultur.

An diesem Wochenende, genau zwölf ­Monate nach der Übergabe der Plaza an die gespannte Öffentlichkeit am 4. ­November 2016, kann Hamburg tatsächlich von sich behaupten: Ein erstes Jahr mit Elbphilharmonie ist geschafft. Überstanden. Erlebt. Gelungen (wenn auch mit kleinen Ausrutschern). Es war auch ein erster Vorgeschmack auf das, was garantiert noch kommt. Die Zahlen bis jetzt sprechen für sich: mehr als vier Millionen Gebäude-Besucher, davon waren ­etwa 660.000 Konzertgäste. Im ­August allein kamen 444.000 Menschen, täglich sind es bis zu 17.000 Besucherinnen und ­Besucher aus aller Welt und bei jedem Wetter.

In den letzen Monaten hat der Tourismus mächtig angezogen

53° 33’ N 10° 0’ O, sechs Meter über Normalhöhennull. Die geografische Lage Hamburgs hat sich in den letzten zwölf Monaten nicht verändert. Diese Stadt liegt nach wie vor an der Elbe und damit am vom klassischen Hanseaten aus gefühlten Mittelpunkt des Universums. Sie ist nach wie vor manchmal zu sehr von sich verzückt. Gedanken über die eigene ­Zukunft können dann schwierig sein.

Hamburg ist also noch, wo es immer war – doch nicht mehr, wie es doch immer so gern gewesen sein wollte. Aber, und das ist ein epochales, historisches Über-Aber: Durch die Elbphilharmonie wurde die Hansestadt verwegen bis größenwahnsinnig, mutig bis abenteuerlich, sie dachte endlich groß und handelte wirklich entschlossen. Nur leider weder immer noch immer im richtigen Moment. Das kostete Lehrgeld und steht auf anderen Blättern, auf Tausenden von Aktenseiten aus Anhörungen, Gerichtsverfahren, Fehlkalkulationen und ­Be­schwerden. Hätte man alles richtig ­gemacht, hätte man sich einen mehrstelligen Millionenbetrag sparen können, das räumt inzwischen auch Bürgermeister Olaf Scholz ein. Jetzt geht das, denn jetzt weiß er, dass dieses Geld wieder aufs Konto der Stadt zurückehren wird.

Inzwischen haben die Erinnerungen an die Eröffnungswochen im Januar erste Patina angesetzt. Es waren diese wild nervösen Tage um den Jahresbeginn ­herum, als noch nicht klar war, ob die Akustik halten würde, was der jeweilige Erste Bürgermeister im vergangenen Jahrzehnt unisono mit der Kulturbehörde stets so vollmundig versprochen hatte: Weltklasse, Exzellenz, Eins mit Fleißsternchen, überall und immer im Inneren der „Weißen Haut“, die dem Saal seinen deutlichen Wohlklang verleiht. Ganz so, so scheint es jetzt, kam es nicht. Man hört so ziemlich überall im Großen Saal der Elbphilharmonie toll. Doch nicht überall das Gleiche, und nicht von jedem Platz aus gleich gut. Aber: Im Zweifelsfall hört man unentwegt mehr, als manchen Künstlerinnen und Künstlern auf der Bühne lieb ist.

Diese Tage auch, als von überall her Medienmenschen nach Hamburg ­kamen, darunter auch etliche überregionale Kulturjournalisten, die die angeblich so große und altehrwürdige Musikstadt Hamburg mit ihrem inneren Themen-Kompass jahrelang nicht orten konnten. Sie kamen, staunten, schrieben, filmten, schnitten mit, und die meisten von ihnen überschlugen sich vor Begeisterung. „Wir packen Hamburg wieder auf die Karte“, hatten die ­Beginner schon ein halbes Jahr vor der Elbphilharmonie-Eröffnung in ihrem Hit „Ahnma“ angesagt. Ein klassischer Fall von richtiger Vorahnung. Denn da ist die Stadt jetzt und muss sich zukünftig ­damit arrangieren. Eine Profilierungschance, für die andere Stadtoberhäupter alle Großmütter in Reichweite, nicht nur die eigenen, veräußern würden.

In den vergangenen Monaten hat der Tourismus mächtig angezogen, und ein einziges Gebäude, längst als neues und von nun an wohl einziges Hamburger Wahrzeichen etabliert, trägt die Verantwortung. Michel war gestern, so gesehen. Die Konkurrenz von morgen sind Premium-Adressen wie der Eiffelturm, die Sixtinische Kapelle oder das Sydney Opera House. Nationale Bildmarken, global auf einen Blick kapierbar und vermarktungsfähig. Das war der Plan.

Die Bilanz des ersten Elbphilharmonie-Jahrs ist gut für die Wirtschaft. Ganz besonders gut ist sie für die Hotels, die es ­bereits gibt – und jene, die demnächst dazukommen. Es erfreut den klassischen Hanseaten, dass nun ausgerechnet mit etwas so Unabwiegbarem wie Klassik seine Kosten-Nutzen-Rechnung so schnell so gut aufgeht. Doch nur nachzurechnen, wie sehr sich der ganze Ärger jetzt lohnt, wäre zu wenig.

Mit einem extraprunkvoll geplanten Abend, der für extraviel Ärger sorgte, hatte sich das Rathaus dramatisch verrechnet: 7. Juli, das G20-Konzert im Großen Saal. Generalmusikdirektor Kent Nagano sollte für die Staatsgäste Beethovens „Neunte“ dirigieren, als ­wäre nichts und alles nur fein, während etliche Etagen tiefer im Zentrum der Stadt Krawalle losbrachen. Angela Merkel genoss still in Block E, Donald Trump versuchte vergeblich, sich auf ­etwas anderes als sich selbst zu konzen­trieren. ­Justin Trudeau freute sich über Details. Emmanuel Macron genoss das Wiederhören mit dem Komponisten der Europa-Hymne. Und wenig später war am Schulterblatt der Teufel los. Die ­Musik war da klar am Ende ihrer Macht.

Viele Menschen in dieser Stadt ­haben für sich und durch die Elbphilharmonie entdeckt, dass es noch etwas ­anderes gibt als das Gehaltskonto, möglichst viele Facebook-Daumen und die panische Flucht vor dem üblen Krach der Harley Days. Viele wollen – auf einmal, aber längst nicht nur einmal – diese eigenwillige Musik mit echten Instrumenten hören, die ihnen neu ist, obwohl sie ein Kulturgut ist, das in dieser Stadt auch ohne Elbphilharmonie reichlich vorhanden war. Das Einlassen aufs bislang Unbekannte ist eine Kategorie der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung geworden, so wäre wohl eine soziologisch verschraubte Umschreibung. Plakativer ausgedrückt: Klassik ist geil. Was nicht heißt, dass sie mitunter auch ­anstrengend ist, verwirrend oder nicht sofort ­direkt ins Herz gehend. Kunst ist schön, macht aber Arbeit.

Für Musik-Liebhaber und alle, die es werden wollten (Kartenbesitz vorausgesetzt), waren die vergangenen Monate eine Druckbetankung mit tollen Konzerten. Für jeden Geschmack war viel dabei: ­Mariss Jansons mit dem BR, Ingo Metzmacher mit den Wienern, der Cellist Yo-Yo Ma, der Pianist Igor Levit und nicht Star-Pianist Lang Lang, die Knights, die Musik der Isländerin Anna Thorvaldsdottir, fast alle Mahler-Sinfonien. Die persönliche Best-of-Liste ist lang, und sie wird länger werden. Dazu kam immer wieder der rührende Anblick staunender Künstlerinnen und Künstler, sobald sie die Bühne des Großen Saals betraten und merkten, wie hautnah sie dem Publikum sind. Nichts für schwache Nerven, ideal für Erstklassiges.

Die Hamburger Musiklandschaft boomt, das Wahrzeichen strahlt aus und treibt ­voran. Konzerte sind von jetzt auf gleich ausverkauft, Abonnements vergriffen, alle hiesigen Kräfte spüren den Erfolgsdruck und spüren, dass Großes möglich ist, aber nur, wenn man entsprechend Gas gibt und die Messlatten höher hängt. Wohl auch deswegen verlängerte NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock seinen Vertrag nicht. In den Jahren vor der Eröffnung war er Publikumsliebling, sein Orchester und deren Anstrengungen waren die Pioniere auf dem Weg ins neue Konzerthaus.

Von 2019 an soll ein alter Bekannter für neue Impulse sorgen: Alan Gilbert, Ex-Chefdirigent des New York Philharmonic, elf Jahre lang erster Gastdirigent beim NDR. Ob und wie und wie schnell mit ihm das Aufschließen in die Spitzenklasse gelingt, bleibt abzuwarten. General­musikdirektor Kent Nagano und seine Philharmoniker beobachten den Prozess aufmerksam. Interessant wird auch werden, wie sehr Generalintendant Christoph Lieben-Seutter die Laeisz­halle mit klassischem Kernrepertoire als zweite ­A-Adresse weiter profilieren will.

Bitterer Wermutstropfen bei der Freude über das Erreichte war ein Platz im Großen Saal, der im Eröffnungskonzert leer blieb. Kultursenatorin Barbara Kisseler, die sich wie keine andere neben Olaf Scholz für das Gelingen dieses Jahrhundertprojekts eingesetzt hatte, fehlte. Von ihr stammen zwei der schönsten One­-liner-Klassiker: 2011 hatte sie ihren Vertragsgegnern, die erst wieder zu -partnern werden sollten, unerschrocken entgegengerufen: „Keine Spielchen mehr!“ „Die Elbphilharmonie ist uns lieb und teuer, die Reihenfolge ist beliebig“, hatte sie zwei Jahre später kommentiert, als es mal wieder nicht so rund lief. Kisseler starb im Oktober 2016 an Krebs.

Auf gänzlich andere Art und Weise nicht mehr dabei, als das Happy End ­anstand, waren die beiden geistigen ­Eltern der Idee Elbphilharmonie: Jana Marko und Alexander Gérard, die Initiatoren, gehören ebenso zur DNA des ­Gebäudes wie die Baseler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Doch die entsprechende Würdigung, die das dokumentiert, sucht man in den Foyers oder im Großen Saal vergeblich: Am Beginn des Nordgangs, auf dem Weg zur Kartenkasse, versteckt sich eine überdeutlich bescheiden gehaltene Inschrift an der Betonwand.

Der musikstädtische Ausnahmezustand geht weiter

Wenn ein derart spektakuläres Gebäude ­eröffnet wird, geht dennoch fast automatisch etwas daneben. Und es gab ­einige sonderbare bis kuriose ­Begleiterscheinungen: Manche regten sich darüber auf, dass es praktisch keine Damentoiletten gäbe, obwohl rein statistisch und im Vergleich zu ­anderen Kulturbauten der Stadt das Gegenteil richtig ist. Auch die für Praktiker eher müßige Frage, ob und wann man im Konzert applaudieren darf und wann um Himmels willen nicht, ­erhitzte einige Gemüter mehr, als es notwendig gewesen wäre.

Die nicht optimale Kennzeichnung für Sehbehinderte und die Angst vor ­Abstürzen in ­unzureichend markierten Abschnitten der Treppen war ein weiterer Kritikpunkt. Und natürlich schlug die Häme größere Wellen als der Wasserschaden, als kürzlich bekannt wurde, dass im Backstage-Bereich des Kleinen Saals ein Handwerkerfehler den Boden geflutet und dafür ­gesorgt hatte, dass der nagelneue Prestigebau zum Pflegefall wurde. Schimmel entdeckt, Boden raus, neuer Estrich rein, alles ­sanieren. Sollte nicht, kann aber passieren, schon auf Einfamilienhaus-Baustellen ist man vor solchen Malheurs nicht sicher.

Andere Städte, gleiche Hoffnungen: Dem Vorbild Hamburgs folgend wurden in den vergangenen Monaten mehrere Säle eröffnet, in Berlin, Bochum und Dresden, alle, weil einfacher, für weniger Geld, alle ­weniger spektakulär. Erst letzte Woche fiel in München die Entscheidung für einen seit Jahren diskutierten Neubau, bei dessen Konzept noch sehr viele heikle Fragen offen sind. Nicht zuletzt die nach dem Preis, dem Baubeginn und dem Akustik-Designer. Der Wettbewerbsbeitrag von Herzog & de Meuron – ein verglaster, steiler Dreiecksbau – schaffte es dort nicht bis ins Halbfinale.

In der Elbphilharmonie selbst geht unterdessen der musikstädtische Ausnahmezustand weiter. 2012 hatte der auf Vollendung wartende Intendant mit seinem Frust-Stoßseufzer über die weltweite Lachnummer aus Hamburg für Schlagzeilen gesorgt. Dieses ­Lachen ist dem Rest der Welt längst vergangen. Neid auf diesem Niveau muss man sich erarbeiten, den gibt es nicht umsonst.