Zaklin Nastic (Linke) und Wieland Schinnenburg (FDP) gehören zu den sieben neuen Hamburger Parlamentariern in Berlin. Das Abendblatt hat die Politiker an ihrem ersten Tag begleitet

Seinen ersten großen Auftritt hat Wieland Schinnenburg gleich am ersten Arbeitstag. Hinter den Kulissen des Berliner Reichstags ist der neue Abgeordnete der Hamburger FDP fleißig am Zählen. Tausende Stimmzettel gehen an diesem Tag durch seine Hände und die seiner Schriftführer-Kollegen der sechs Fraktionen. Der 58-Jährige ist Vorstandsmitglied der ersten Sitzung des neuen Deutschen Bundestags. Er unterstützt am Dienstag den frisch gewählten Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) beim Ablauf der Sitzung. Nachdem die 709 Abgeordneten ihre Stimmzettel für die Wahl des neuen Bundestagspräsidenten eingeworfen haben, zieht sich Schinnenburg am Mittag zum ersten Mal mit rund 20 Kollegen in die Bibliothek unter der gläsernen Kuppel zurück. Hier stellen die Frauen und Männer die Wahlergebnisse fest. Erst das des Präsidenten, später die seiner Stellvertreter.

Der FDP-Politiker Schinnenburg ist einer von sieben Hamburger Abgeordneten, die bei der Bundestagswahl im September zum ersten Mal ein Mandat errungen haben. Im 19. Bundestag ist die Hansestadt mit insgesamt 16 Parlamentariern in Berlin vertreten – so viele wie vorher nur 1972. Nur einmal, nach der Bundestagswahl 1957, war Hamburgs Gewicht mit 19 Abgeordneten im Bund noch stärker. Zwar ist Wieland Schinnenburg ein Neuling im Bundestag, doch keinesfalls ein Neuling in der Politik. Seit 36 Jahren macht er sich für die FDP stark, zeitweise als Hamburger Landesvorsitzender. Viele Bundestagsmitglieder kennt der Verkehrs- und Wissenschaftsexperte seit Jahren, die Arbeitsabläufe im Parlament sind ihm aus seiner Zeit in der Hamburgischen Bürgerschaft vertraut. Im Landesparlament der Hansestadt hatte Schinnenburg von 2001 bis 2004 und seit 2011 gesessen, war dort zuletzt Vizepräsident.

Schinnenburg hat am Vortag noch Patienten behandelt

„Auf die neuen Aufgaben im Bundestag bin ich gut vorbereitet“, sagt Schinnenburg. Wenn er redet, dann schnell, aber auf den Punkt. Sein Lebenslauf reicht eigentlich für zwei. Denn der Politiker arbeitet gleichzeitig als Rechtsanwalt und Zahnarzt – zumindest bis jetzt. Für sein neues Amt als Hauptstadtparlamentarier hat Schinnenburg einige Aufgaben abgeben müssen. Sein Bürgerschaftsmandat hat er bereits niedergelegt, doch auch seine Zahnarztpraxis in Oststeinbek schließt der emsige Hamburger zum Jahresende. Letztere Entscheidung hatte er zwar bereits vor der Bundestagswahl getroffen. Zwei Berufe und die Politik waren ihm einfach zu viel geworden. Aber als Bundestagsabgeordneter hätte der viel beschäftigte 58-Jährige einen seiner Jobs wohl ohnehin aufgeben müssen. „Die Entscheidung ist mir sehr schwer gefallen“, sagt Schinnenburg. „Schließlich habe ich dort mehr als 30 Jahre gearbeitet, und viele Patienten sind mir sehr ans Herz gewachsen.“

Sogar am Tag vor der ersten Bundestagssitzung war der Mediziner für sie da. Zehn Patienten behandelte er noch am Vormittag. Dann ging es aus der Zahnarztpraxis in den Zug nach Berlin. Seine Kanzlei auf der Uhlenhorst will der Anwalt aber gemeinsam mit seiner Ehefrau weiterführen. „Im Jahr gibt es circa 20 Sitzungswochen. Ich werde versuchen, einen Großteil der restlichen Zeit in Hamburg zu sein.“

Viel pendeln will auch Zaklin Nastic. An ihrem ersten Tag als Bundestagsabgeordnete nimmt die 37-Jährige ganz bescheiden in der hintersten Reihe der Linksfraktion Platz. Sie zog über den zweiten Platz auf der Hamburger Landesliste in den Bundestag ein. Ihre Position hinter dem bisherigen Europaparlamentarier Fabio De Masi galt keineswegs als aussichtsreich. Doch im größten deutschen Bundestag aller Zeiten mit 709 Abgeordneten sind die Hamburger Linken gleich zu zweit vertreten. Dabei war Nastic erst knapp drei Monate zuvor für eine erkrankte Genossin in die Hamburgische Bürgerschaft nachgerückt. Noch vor vier Monaten saß sie in der Bezirksversammlung Eimsbüttel und stimmte über Baumfällungen, die Busbeschleunigung und Inklusion an Schulen ab. Künftig geht es für die gebürtige Polin, die sieben Sprachen spricht, nun etwa um die Auslandseinsätze der Bundeswehr und den Bundeshaushalt. Politikkarriere im Eiltempo.

Die internen Querelen ihrer Partei-spitze bekommt die Hamburgerin nun aus nächster Nähe mit. Immer wieder gelangen die Machtkämpfe zwischen den Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch mit den Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger in die Öffentlichkeit. „Natürlich sollten Meinungsverschiedenheiten nicht nach außen getragen werden, aber das Ringen um Positionen ist wichtig“, findet Nastic. Doch gebe es diese Machtkämpfe auch in den anderen Parteien.

Mit ihrem Einzug in den Bundestag hatte Nastic selbst nicht gerechnet. Und so fehlt der Linken-Politikerin in der Hauptstadt noch eine Wohnung. Die ersten Nächte verbringt sie im Gästebett bei ihrer Mutter in Wilmersdorf. „Längerfristig werde ich mir eine Zweitwohnung suchen müssen“, sagt Nastic. Doch will die zweifache Mutter so oft es geht bei ihrem Mann und den Kindern zu Hause in Eidelstedt sein.

Dass sie nun weit weg in Berlin Politik mache, habe sie vor allem ihrer Familie zu verdanken, sagt Nastic. Die Unterstützung, die sie nun von ihren Lieben erfährt, hatte sonst sie ihrer Familie entgegengebracht. Seit Jahren betreut Nastic ihre schwer kranke Tochter. „Angehörigenpflegerin“ hat Nastic als Beruf in ihrem Bundestagsprofil angegeben. Aus eigener Erfahrung ist sie mit dem Gesundheits- und Pflegesystem vertraut – auch daher rührt wohl ihr Engagement für Sozialpolitik. Doch helfe ihr der Umgang mit dem privaten Schicksalsschlag nun auch beim rasanten Aufstieg von der Bezirkspolitikerin zur Bundestagsabgeordneten. „Ich habe gelernt, mich schnell auf neue Situationen einzustellen“, sagt sie. „Manchmal passieren die Dinge einfach.“

Einen zweiten wichtigen Anlaufpunkt in der Hauptstadt hat Nastic aber bereits. Ihr Abgeordnetenbüro in der Straße Unter den Linden – zehn Minuten zu Fuß vom Reichstag entfernt – hat sie von dem Hamburger Linken-Politiker Jan van Aken übernommen. Nach acht Jahren als Parlamentarier verzichtete der Verteidigungsexperte auf eine erneute Kandidatur. Neben Nastics Bürotür hängt noch immer das Namensschild ihres Vorgängers. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt sie. Aus ihrem Fenster im dritten Stock blickt sie auf die Prachtstraße vor dem Brandenburger Tor. Eine etwas andere Aussicht als auf Eichhörnchen in einem Eidelstedter Hinterhof.

Vor allem die kleinen Dinge werfen bei der Neuparlamentarierin noch Fragen auf. „Kaufe ich den Papierkorb für das Büro selbst oder muss ich zuerst einen Antrag stellen? Wie komme ich an das Berliner U-Bahn-Ticket? Und wann lasse ich am besten das Foto für mein Profil auf der Bundestags-Website machen?“ Noch sind Schränke und Schreibtisch in dem geräumigen Zimmer leer. Nur eine Plastikblume – liebevoll an der Schreibtischlampe festgemacht – hat Jan van Aken seiner Nachfolgerin überlassen. In den kommenden Tagen wird sich das Büro aber füllen. Die Post zumindest kommt schon an. Am Morgen vor der ersten Bundestagssitzung bringt eine Mitarbeiterin Nastic mehrere große Briefumschläge herein.

Drei Angestellte unterstützen die 37-Jährige bei ihrer Arbeit als Abgeordnete. Ein Mitarbeiter folgt ihr aus Hamburg in die Hauptstadt, die zwei Berliner Kollegen waren zuvor für Parteikollegen tätig. „Ich hatte großes Glück, so schnell an ein Büro und Mitarbeiter zu kommen“, sagt Nastic. Ein Glück, das nicht jeder neue Abgeordnete hat. Denn die enorme Größe des neuen Bundestags bringt Platzprobleme mit sich.

So wird die Suche nach einem Büro für Wieland Schinnenburg wohl noch etwas länger dauern. „Die Bundestagsverwaltung benötigt wohl noch bis Januar, bis sie mir ein endgültiges Büro zur Verfügung stellen kann“, sagt der FDP-Politiker. Für ihn heißt es nun vorerst zusammenrücken. Der ehemalige Bürgerschaftsvize wird sich seine Arbeitsräume zunächst mit seiner Hamburger Parteikollegin teilen. „In einigen Wochen erhalte ich wohl ein kleines Übergangsbüro mit Katja Suding zusammen.“ Im Gegensatz zu Nastic hat Schinnenburg aber bereits eine Zweitwohnung gefunden. Zum 1. November bezieht er zwei Zimmer in Berlin-Mitte. „In Fußreichweite zum Reichstag.“

Bei Zaklin Nastic steht erst mal viel Organisatorisches an

Für seinen ersten Arbeitstag in der Hauptstadt hat sich Schinnenburg in Schale geworfen. Während er – so wie Neuling Nastic – das Geschehen aus der letzten Reihe seiner Fraktion verfolgt, blitzt eine magentafarbene Krawatte unter seinem dunkelblauen Anzug hervor. „Die Krawatte habe ich mir extra vor der ersten Bundestagssitzung gekauft“, sagt Schinnenburg mit einem Augenzwinkern. Magenta ist eine der Farben, die der ehemals krisengeplagten FDP zu einem neuen, jugendlichen Image verhelfen sollen. Die gelbe Krawatte, die Schinnenburg häufig zu Sitzungen der Hamburgischen Bürgerschaft trug, hängt nun im Schrank. Damit sind die Zeiten im Landesparlament für Schinnenburg auch symbolisch vorbei. Und die Farbe der „alten“ FDP hat ausgedient.

Ihre Parteifarbe Rot trägt Zaklin Nastic, die ein grau meliertes Kleid gewählt hat, an diesem Tag „nur im Herzen“. Am Ende ihres ersten Arbeitstags freut sie sich vor allem über das gute Wahlergebnis der wiedergewählten Vizepräsidentin der Linken, Petra Pau. „Das Ergebnis ihrer klugen parlamentarischen Arbeit.“ Für die nächsten Tage in der Hauptstadt steht bei Nastic nun vor allem viel Organisatorisches im Terminkalender. Das Büro einrichten, den Diplomatenpass beantragen und vor allem Hunderte E-Mails, Glückwünsche und Einladungen abarbeiten. Ihr neues Amt sieht sie als Herausforderung. „Ich freue mich und bin sehr dankbar für das Vertrauen, das mir die Wähler entgegengebracht haben.“ Nervös sei sie vor dem ersten Tag als Abgeordnete aber nicht gewesen. „Das wird kommen, wenn ich meine erste Rede im Bundestag halte.“ Für die Zeit nach der Regierungsbildung hat die Sozialpolitikerin bereits einen Plan. Sie will in den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. „Ich habe mich parteiintern bereits um einen Platz beworben.“

Bevor Wieland Schinnenburg am späten Nachmittag den Plenarsaal im Reichstag verlässt, kommt es für den erfahrenen Politiker noch zu einem emotionalen Moment. Beim Singen der Nationalhymne muss der Hamburger fast ein Tränchen verdrücken. „Ich habe Gänsehaut bekommen.“ Der Zahnarzt und Rechtsanwalt steht nun in der Verantwortung der Nation. Sein Amt als Schriftführer des Bundestags wird er auch in weiteren Sitzungen ausüben. Dann wohl auch nicht nur hinter den Kulissen, sondern neben Wolfgang Schäuble auf dem Präsidentenpodium. Dazu kam es aus Zeitgründen bei der ersten Sitzung nicht mehr. Thematisch will sich der FDP-Politiker wie schon in der Bürgerschaft für Verkehrs- und Bildungspolitik einsetzen – sei es in der Regierung oder der Opposition. Zeit, sich darauf vorzubereiten, bleibt ihm am ersten Arbeitstag aber nicht. Am Abend muss er den Zug zurück nach Hamburg bekommen. Für den Parlamentarier geht es bis zur nächsten Sitzung zurück ins alte Leben. Heute haben 20 Patienten einen Termin bei Dr. Schinnenburg.