Viele Tausend Helfer sorgen dafür, dass die Wahl reibungslos abläuft – die meisten von ihnen aus Überzeugung. Trotzdem brauchen sie an diesem Tag Ausdauer und starke Nerven. Unser Reporter war einer von ihnen

Dies ist keine Geschichte darüber, wie die insgesamt 916 Wahlberechtigten des Bezirks 30302 (einem von rund 1300 in Hamburg) im Vergleich zum Bundestrend gewählt haben. Sondern es ist der Versuch, die Tücken eines ungeliebten Ehrenamtes zu beschreiben. Denn an diesem Wahlsonntag sorgen viele Tausend Wahlhelfer dafür, dass die Wähler, die nicht per Brief (343 hatten diesen Antrag gestellt), sondern persönlich ihre Stimmen abgeben wollen (es sind 573), dies auch tun können – traditionsgemäß von acht bis 18 Uhr – wie eben hier, im Wahllokal 30302. Es ist in der Turnhalle der Katholischen Schule St. Bonifatius an der Straße Am Weiher 29 in Eimsbüttel untergebracht, in der gleichzeitig auch die Stimmabgabe für die Nachbarbezirke 30303 und 30304 möglich ist. Draußen hat der Hausmeister der Schule orange-weiß geringelte Pylone aufgestellt. Sie sollen den Weg ins Wahllokal weisen, damit sich die Nach-dem-Frühstück-Wähler – der erste größere Schwung – um zehn Uhr nicht zufällig in den Gottesdienst der Kirche direkt nebenan verirren. Er hat auch für mehrere Rollen Klopapier gesorgt, die von Yashar Givili (27), Leiter des Wahllokals 30302, schon vor der Öffnung um 7.30 Uhr bei Dienstantritt in den Toiletten der Turnhalle verteilt werden. Immerhin kann dieser Job auch 13 bis 14 Stunden lang dauern – wenn sich nach der Stimmenauszählung Abweichungen ergeben.

Die meisten Wahlhelfer sind zwischen 25 und 30 Jahre alt

Sechs „Wahlkabinen“ aus Pappkarton stehen auf massiven Tischen mit Resopaloberfläche, davor jeweils ein lindgrüner Stuhl aus Massivholz, stapelbar. Auf der gegenüberliegenden Stirnseite der Halle sind die drei Wahllokale in Hufeisenform aufgebaut; es sind die gleichen Tische, immer vier nebeneinander, dahinter die gleichen lindgrünen Stühle, auf denen die Wahlhelfer Platz nehmen. Jede Mannschaft besteht aus fünf bis acht Freiwilligen, es sind fast ausnahmslos jüngere Leute zwischen 25 und 30, bis auf drei. Einer davon bin ich.

„Es ist in diesem Jahr schwieriger gewesen, Leute zu finden“, sagt Yashar Givili (27), der Jura studiert und sich auf das Maritime Recht spezialisieren möchte. Seit acht Jahren engagiert er sich außerdem in der Altonaer CDU. Zum Dienst an der Demokratie tritt er freiwillig an. „Die 60 Euro, die ich als Aufwandsentschädigung erhalte, sind mir egal. Ich betrachte meinen heutigen Job als Wahllokalleiter als Ehre für dieses Land, das mir so viele großartige Chancen bietet“, sagt er. Wenn Givili federnd durch die Turnhalle geht, strahlt er Ernsthaftigkeit und Selbstbewusstsein aus; ein junger Mann, der nicht nur seine Lebensziele genau im Visier hat, sondern auch für den heutigen Wahlsonntag einen Plan besitzt. Dazu gehört, dass Givili mit Katharina Burian (25) seine Freundin mit ins Wahlhelferboot gezogen hat; sie wird als stellvertretende Schriftführerin übrigens nur 45 Euro erhalten, die übrigen Beisitzer bekommen 30 Euro „Erfrischungsgeld“; die Arbeit wird dafür in zwei Schichten, von acht Uhr bis 13 Uhr und von 13 bis 18 Uhr aufgeteilt. Zum Zählen müssen dann alle wieder da sein.

Keiner der Anwesenden ist Wahlhelfer wegen des Geldes, sondern ausschließlich „für die Demokratie“. Das sagen Personalreferentin Kristin Wallat (26), Diätassistentin Julia Kästner (23) sowie Nathalie Onyeje (22), Heilerziehungspflegerin, aus dem Wahllokal 30303 übereinstimmend. „Außerdem ist es gut, wenn die älteren Leute sehen, dass sich junge Leute freiwillig an politischen Prozessen beteiligen“, fügt Julia Kästner hinzu. Marina Straub (29), Trickfilmerin, wurde von ihrer Freundin Carina Ehlers (24), einer Anglistin, zum Sonntagsdienst im Wahlbezirk 30304 „überredet“. Sie finde es spannend, eine Wahl hinter den Kulissen mitzuerleben, sagt sie. „Da kriege ich einen besseren Einblick.“

Wahlhelfer können zwar nach wie vor von den Bezirksämtern bestimmt werden, aber die freiwillige Dienstverpflichtung per Überzeugungskraft habe sich inzwischen bewährt, da überproportional viele der Zwangsverpflichteten sich zumeist am Freitagnachmittag mit einem ärztlichen Attest plötzlich krankmeldeten. Dann rotierten die Behörden, meint Givili.

Viele Wähler sind Profis – viele aber leider nicht

Der Eingang zum Wahllokal ist mittig an der Längsseite des Gebäudes. Das bedeutet, dass die Wahlhelfer des Wahllokals 30302 den Wählern als Erste ins Auge fallen. Im besten Fall zeigen die dann ihren bereits abgetrennten Wahlbenachrichtigungsschein vor und wissen auch, dass sie ihren Personalausweis oder Reisepass dann nicht benötigen, um ihren Stimmzettel zu erhalten. Darüber hinaus haben sie den Schein gelesen und orientieren sich sofort zu „ihrem“ Wahllokal. Dann können wir ihnen den Stimmzettel problemlos aushändigen; sie verschwinden in einer der Wahlkabinen, tauchen rasch wieder auf und händigen dem Schriftführer die Wahlbenachrichtigung aus. Der schaut im nach Straßennamen und dem Alphabet geordneten Wählerverzeichnis nach, ob es diesen Wähler tatsächlich gibt und ob er vielleicht bereits per Brief gewählt haben könnte.

Wenn alles in Ordnung ist, macht der Schriftführer ein Kreuz hinter dem Namen sowie ein Kontrollkreuz in einer Extraliste, die später darüber Aufschluss geben wird, wie viele Wahlberechtigte ihre Stimme abgegeben haben. Diese Art „Quittung“ verbleibt bei den Wahlhelfern, der Schriftführer hebt nun eine Pappe überm Einwurfschlitz der Wahlurne hoch und der Wähler darf jetzt erst seinen Stimmzettel in den Sammelbehälter stecken, in die extra angefertigte Tonne aus weißem Kunststoff, mit rotem Deckel, gesichert mit einem Vorhängeschloss; die Schlüsselgewalt besitzt immer der Leiter des Wahllokals.

Leider ist es jedoch so, dass etwa ein Fünftel aller Wähler ihre Wahlbenachrichtigungen daheim vergessen oder verbaselt haben. Jetzt sind die Ausweisdokumente wiederum hilfreich, über die sie zunächst übers Straßenverzeichnis und dann über die Wahlliste ausfindig gemacht werden müssen. Wer aber beispielsweise ein paar Tage zuvor umgezogen ist (und sich angemeldet hat) steht als Nachzügler – wenn überhaupt – auf einem der letzten Blätter des Wählerverzeichnisses, wo die alphabetische Reihenfolge dummerweise aufgehoben ist.

Außerdem muss eine neue „Quittung“ per Hand geschrieben werden. Langsam fangen die Buchstaben an, zu flirren. Komplizierter wird es, wenn jemand persönlich wählen möchte, obwohl er eigentlich die Briefwahl beantragt hat. „Dann muss er den Wahlschein und den Stimmzettel vor unseren Augen zerreißen. Hat er den Wahlschein jedoch bereits entsorgt, muss ich ihm erklären, dass er nicht wählen darf“, sagt Givili, der mit erstaunlicher Ruhe versucht, jeden einzelnen dieser „Problemfälle“ mit einem Telefonanruf beim Landeswahlleiter zu klären.

Dann fehlt am Tisch jedoch eine helfende Hand. Dass solche zeitraubenden Prozesse immer dann passieren, wenn es wie kurz vorm Mittagessen ab 12.30 Uhr, kurz nach dem Mittagessen gegen 14.30 Uhr und vor allem noch einmal gegen 16 Uhr voll wird, liegt in der Natur der Sache. Ein halbes Dutzend Hunde und mindestens ebenso viele Kinder, manche mit Laufrädern, verwandeln am Nachmittag den ernsthaften Wahlprozess in ein Familien-Happening.

„04“ bestellt Burger, unsere Truppe schwört auf Bonbons

Wir Wahlhelfer können nur gelassen bleiben. Denn genau jetzt passieren die Fehler, die später dazu führen, dass die Zahl der abgegebenen Stimmzettel mit der Zahl der abgegebenen Wahlbenachrichtigungskarten nicht übereinstimmt. Manche Wähler werden auch ungeduldig, preschen vor und ignorieren die Hand des Schriftführers, die den Einwurfschlitz mit einem Karton verschließt, geben aber ihre Quittung nicht ab. Und wehe, man selbst vergisst, im kurz aufwallenden Tohuwabohu den Namen des Wählers auf der Wahlliste doppelt abzustreichen!

Zwischen 17 und 18 Uhr ist dann erstaunlicherweise Zeit, um etwas zu essen. „04“ hat sich Burger oder Salat bestellt, „03“ isst geschlossen asiatisch, unsere Truppe schwört dagegen auf Karamellbonbons.

Punkt 18 Uhr schließt dann das Wahllokal. Die Tische werden nun zu Quadraten zusammengeschoben, die Stimmzettel werden ausgeschüttet – und die Spannung steigt. „Langsam zählen, immer schön ruhig!“, mahnt Rainer Boese (57), der diesen Job schon öfter gemacht hat – „aus Überzeugung“. Nicole Forstner (48) – sie habe sich freiwillig gemeldet, um ihren Horizont zu erweitern, wobei sie sonntags normalerweise Touren mit dem Rennrad unternehme, sagt sie - und ich zählen 462 abgegebene Wahlbenachrichtigungen und sechs Wahlscheine. Macht zusammen 468 Wähler. Die anderen zählen parallel schon mal die Stimmzettel. Klar, dass sie auf 469 kommen. Und das wird auch nach einer zweiten Überprüfung so bleiben. Doch diese minimale Abweichung liegt noch im Toleranzbereich.

Danach müssen die Stimmzettel nach gleichen sowie unterschiedlichen Erst- und Zweitstimmen sortiert und ausgezählt werden. Es bleiben 469 Stimmen – sechs Zweitstimmen hat die AfD bekommen. Gegen 20.30 Uhr zahlt Ya­shar Givili das hart ersessene Erfrischungsgeld an uns Wahlhelfer aus. „Aber die wahre Belohnung ist doch“, sagt Nicole Forstner, „dass sich viele Wähler bei uns sehr herzlich bedankt haben, dass wir diesen Job überhaupt machen.“ Bei der nächsten Wahl will sie wieder dabei sein.