Umfragen sehen die AfD bei zehn bis zwölf Prozent; es könnten sogar noch mehr werden. Auf Spurensuche in einem verunsicherten Land von Matthias Iken

Als bei der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten zur Überraschung aller und zum Entsetzen vieler der Politclown Donald Trump obsiegte, rieb man sich in Washington verwundert die Augen: In der Hauptstadt hatten rund 92 Prozent die vermeintliche Favoritin Hillary Clinton gewählt und sich dabei auf der Seite der Mehrheit gewähnt; das Land aber entschied sich für Trump. Er gewann zwar weder in den aufgeklärten Metropolen an der Ostküsten noch in Kalifornien – er triumphierte aber in den Staaten, die manche Amerikaner abfällig als flyover states bezeichnen: die Bundesstaaten in der Mitte des Landes, Idaho, Kansas und Kentucky, Regionen, in denen die Ost- und Westküste noch weiter weg sind als ihre Debatten, Probleme und Interessen.

Nun ist Deutschland nicht Amerika. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind – wegen der Geografie, der weitreichenden Sozialpolitik und des Länderfinanzausgleichs – nicht so groß. Dank der Wahlkreise schicken alle Regionen Vertreter in den Bundestag. Und doch wird man gerade in den letzten Tagen des Wahlkampfes den Eindruck nicht los, dass sich Angela Merkel wie ihr Herausforderer Martin Schulz vor allem um die Großstadteliten kümmern. Zwar treten sie überall im Land auf, doch ihre Köpfe bleiben in der Berliner Republik. Sie diskutieren über die Mietpreisbremse und kostenfreie Kitas und Universitäten, dabei haben viele Menschen in Deutschland ganz andere Probleme.

Auf dem Land verdorren die Kleinstädte und Dörfer

Zum Beispiel die Angst vor dem Niedergang. Wer durch die deutsche Provinz fährt, die viele nur für ein vorbeiziehendes Landschaftsbild, eine malerische Fototapete vor der Windschutzscheibe halten, sieht die Anzeichen. Rund um München muss man den Niedergang mit der Lupe suchen, in Franken gibt es Indizien, in Nordfriesland oder in Teilen Ostdeutschlands springt er jedem ins Auge.

Deutschland ist kein Land der Metropolen

Die Innenstädte veröden, Leerstand wird in manchen Kommunen zum Normalfall, viele kleinere Städte stecken längst in einem Teufelskreis. Amazon ist ein Sterbehelfer für kleine Einkaufsstraßen, doch die Rolle des weltgrößten Versenders, der neben der Durchdringung der Konsumwelt auch die Vermeidung von Steuerzahlungen vervollkommnet hat, interessiert nur ein paar Linkspolitiker. Einzelne Regionen, etwa im Harz, Brandenburg oder der Eifel verlieren Jahr für Jahr mehr Bewohner – als Erste verlassen die Gutausgebildeten ihre Heimat. Mit den klugen Köpfen verschwindet die Kaufkraft. Kneipen und Läden schließen, immer weniger Ärzte kümmern sich um die Daheimgebliebenen, Schulen werden geschlossen, Busse und Bahnen dünnen ihr Netz aus. Da verblasst Heimat, und die Menschen werden abgehängt. Die digitale Infrastruktur, für den deutschen Mittelstand ein Überlebensthema, kommt dort kaum voran. Stattdessen kümmert sich der Verkehrsminister mit Verve um die Einführung einer Autobahnmaut für Ausländer. In den flyover states der Repu­blik ist die Stimmung schlecht.

26 Prozent der Deutschen leben in Städten mit weniger als 10.000 Einwohnern – aber nur 16,6 Prozent in Metropolen mit mehr als 500.000 Einwohnern. Nicht einmal ein Drittel insgesamt wohnt in Großstädten, Deutschland ist Land. Die Probleme der Menschen in der Provinz aber spielen keine große Rolle im Wahlkampf, ihre Lebenswirklichkeit kommt in den geräumigen Dachgeschosswohnungen der Elite kaum vor.

„Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, plakatiert die Union - das klingt manchem wie Hohn. Und macht sie anfällig für die einfachen Losungen, die für die Zukunft eine Rückkehr in eine vermeintlich heile Vergangenheit versprechen. Getreu dem hintersinnigen Titel des Buches von Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?

Die Flüchtlingsproblematik wirkt in dieser Lage krisenverschärfend. Gerade auf dem Land ist der Umgang mit Mi­granten weniger gelernt, der Fremde wird eher als Bedrohung denn als Bereicherung wahrgenommen. Spektakuläre Kriminalfälle, durch soziale Medien und eine Blaulichtfixierung durch die ganze Republik getragen, verändern das Sicherheitsgefühl. Man kann immer wieder auf die Gesamtzahlen verweisen, die keine dramatische Änderungen messen, das Sicherheitsgefühl fußt nicht auf Daten, sondern auf Gefühlen. Und die haben sich verändert, spätestens seit den massenhaften Übergriffen von Köln. Und nicht alles ist nur gefühlte Wirklichkeit: In Bayern etwa ist die Zahl der Vergewaltigungen und schweren sexuellen Nötigungen im ersten Halbjahr 2017 um 48 Prozent gewachsen; Zuwanderer sind in dieser Statistik deutlich überrepräsentiert. Aber sie sind nur zu einem kleinen Teil für den Anstieg verantwortlich.

Im Wahlkampf versuchen nun alle Parteien mit harschen Sprüchen von Law and Order zu punkten, aber bei vielen Menschen dringen sie kaum mehr durch. Wenn schon ein Kleinstadt-Schützenfest gegen islamistische Attentate geschützt wird, ist etwas ins Rutschen geraten. Die notwendige Trennung zwischen Islam und Islamismus findet an der Bierbude weder Gehör noch Verständnis. Überhaupt ändert sich die Tonalität mit jedem weiteren Promille – offenbar müssen sich viele Menschen Mut antrinken. Für die Offenheit einer Gesellschaft spricht das nicht.

Das Misstrauen gegen Politik und Medien wächst

Genauso wenig wie das Ergebnis einer Umfrage der gewerkschaftsnahen Böck­ler-Stiftung, wonach 69 Prozent der Deutschen sagen, Politiker lebten in ihrer eigenen Welt. Ähnlich tief sitzt das Misstrauen gegen Medien: In derselben Befragung meinten nur 40 Prozent, die Medien kontrollieren die Politik mit der nötigen Unabhängigkeit.

Besonders skeptisch sind die Wähler der AfD, die gern von Lügen- oder Lückenpresse sprechen. Das ist Blödsinn – zugleich aber gilt, dass viele Journalisten stolz darauf sind, keine AfD-Wähler zu kennen. Das ist schön für die Reinheit des Bekanntenkreises, aber schlecht für den Journalismus. Denn es gibt sie ja, sie und ihre Probleme, ihre Sorgen, ihre Vorurteile. Spielen sie aber in der Öffentlichkeit keine Rolle, wachsen und wuchern sie im Verborgenen. Geschickt bedienen Rechtspopulisten diese Klaviatur, sie spitzen die Themen zu, die andere lieber ausklammern oder aussparen. Genau das, wir erinnern uns, war ja die Geburtsstunde der AfD – der Ärger um den Euro und die milliardenschwere Rettung mit immensen Haftungsrisiken. Beim Geld hört für viele Wähler der Spaß auf.

Viele Menschen, die auf Empfehlung von Vermögensberatern und Volksvertretern für ihr Alter gespart haben, werden mit Nullzinsen abgespeist. Laut Berechnungen der DZ Bank hat die Nullzinspolitik die deutschen Sparer seit 2010 rund 436 Milliarden Euro gekostet. Man mag diese Rechnungen anzweifeln, Fakt aber ist: Die Kleinsparer zahlt derzeit die Sanierung der Staatshaushalte.

Wer wie Martin Schulz dazu – als langjähriger Europapolitiker verständlicherweise – schweigt, darf sich nicht wundern, dass das große Thema soziale Gerechtigkeit nicht so recht zündet. Auch die wachsenden Ungleichgewichte zwischen Metropolen und Provinz spielen in seinem Wahlkampf keine große Rolle. Eine Mietpreisbremse oder ein Wohnungsbauprogramm lindern nur die Probleme der Großstädte, die der Provinz könnten sie noch verschärfen.

Das mag ein sehr düsteres Bild sein, ist aber ein Eindruck mancher Menschen. Natürlich geht es den meisten in Deutschland gut. Die Wirtschaft floriert, die Einkommen steigen nach Jahren der Dürre wieder. Aber der Ökonom Thomas Straubhaar verweist auf die Verhaltensökonomie: „Schenke einem Menschen 1000 Euro, und er ist glücklich; schenke auch seinen Nachbarn 1000 Euro, und sein Glücksgefühl wird geringer; schenke allen anderen 10.000 Euro, und er fühlt sich benachteiligt! Selbst wenn also alle gewinnen würden, werden jene, die gefühlt weniger als andere erhalten, nicht glücklicher, sondern unglücklicher!“

Wichtiger als die Realität ist die gefühlte Wirklichkeit

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der deutlich mehr Gespür für seine Wählerschaft hat als die meisten seiner Genossen, warnte schon Anfang 2016, er höre im Hinblick auf die Flüchtlingskrise immer wieder, „für die macht ihr alles, für uns macht ihr nichts“. Und: Die Gesellschaft drohe „auseinanderzufliegen“. Das wollte damals niemand hören.

Es sind aber nicht nur die Abgehängten, die am Sonntag eine rechtspopulistische Partei zweistellig in den Bundestag katapultieren könnten. Es sind auch viele Menschen aus der Mittelschicht, Mittlere Reife, mittelalt, mittleres Einkommen. Sie treibt der Angst vor dem Abstieg. Wie sang Janis Joplin: „Freedom’s just another word for nothin’ left to lose“, Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, nichts verlieren zu können. Die Deutschen haben viel zu verlieren – und deshalb wachsen die Wut und die Angst.

Wer eine Immobilie in der Metropole sein Eigen nennt, darf sich über Wertsteigerungen im dreistelligen Prozentbereich freuen, wer ein Haus in Ostfriesland oder der Uckermark hat, muss froh sein, überhaupt einen Käufer zu finden. Die vielen hart arbeitenden Menschen, von Martin Schulz in einem lichten Moment als Zielgruppe seiner Kampagne erkannt, finden in den Debatten kaum noch statt. Der Milchbauer, der 70 bis 80 Stunden in der Woche arbeitet, und doch nur Verluste anhäuft; die Gastronomin, die rund um die Uhr schafft und doch auf keinen grünen Zweig kommt, die Veranstalter von Dorffesten, die von Bürokraten gegängelt werden. Zu viele Menschen haben das Gefühl, dass man ihre Steuern gern nimmt, sich sonst aber wenig um sie kümmert. Ja, dass diese Mehrheiten angesichts vieler intensiv betreuter Minderheiten keine Rolle mehr spielen. Dieses Gefühl mag trügen, ist aber ein starker Antrieb. Und war ein Beschleuniger in der Kampagne des Donald Trump.

Ist Deutschland total anders als die USA? Nach mehreren Diskussionen beim Volksfest über gendergerechte Sprache, Homoehe oder die Vorteile kultureller Vielfalt wachsen die Zweifel. Solche Debatten bestürzen im ersten Moment, im zweiten können sie erden.

Viele wollen diese politisch unkorrekten Sichtweisen nicht hören, sondern sich lieber darüber empören. Aber Debatten brauchen Widerspruch. Jede kritische Diskussion nach der Grenzöffnung durch die Kanzlerin wurde im Kern erstickt, Widerworte als rassistisch und rechtsradikal weggewischt. Eine bessere Wahlwerbung für die irrlichternden Rechten hätte man nicht machen können. So wurden die einst bei einer großen Mehrheit der Deutschen klar definierten Grenzen zum Rechtsradikalismus eingerissen. Nicht nur Angela Merkel, wie Jakob Augstein schreibt, ist die „Mutter der AfD“, sondern auch das kollektive Diskursversagen. Die Gesellschaft polarisiert haben die Rechten wie „viele der Anständigen, die im Gefühl der moralischen Überlegenheit im Herbst 2015 jegliche, auch sich später als berechtigt herausstellende kritische Äußerung zur Flüchtlingsfrage in die ,rechte Ecke‘ stellten“, wie es der Politikprofessor Oskar Niedermayer formuliert.

Wenn Wahlzettel zu Stoppschildern werden

Es steht zu befürchten, dass der weit verbreitete Unmut, das Unbehagen sich am Sonntag Bahn brechen - in einem Ergebnis für die sich radikalisierende AfD, die längst stärker ist als ihr eigentliches Potenzial. Das Meinungsforschungsinstitut Infratest, so der „Spiegel“, taxiert den Anteil von rechtsextremen Ansichten in Deutschland bei neun Prozent - ein Wert, der übrigens rückläufig ist. Am Sonntag könnte die AfD zwölf Prozent holen – oder mehr. Es wirkt paradox: Je radikaler sich die AfD geriert, über den „Stolz auf die Wehrmacht“ oder das „Denkmal der Schande“ schwadroniert, je stärker wird sie in den Umfragen. Die Wähler, die sich überhört fühlen, möchten ein Ausrufezeichen setzen. Die Programmatik der AfD ist vielen schnurz, sie wollen den Stimmzettel in ein Stoppschild verwandeln.

Keiner weiß, mit welchen Folgen.