Serienmorde, Gewalt, vernachlässigte Kinder, Suizid, entsetzliche Unfälle: Rechtsmediziner gehen dem Leiden auf den Grund und helfen, Fälle zu lösen. Was kann man aus dem Unglück lernen?

Die Fantasie von Gewaltverbrechern kennt keine Grenzen. Rechtsmediziner wissen: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Und Tote lügen nicht, wenn sie auf dem Obduktionstisch liegen. Den Experten in Sachen Tod und Misshandlung erzählen sie ihre (Leidens-)Geschichte; so können die Ärzte einen entscheidenden Beitrag zur Aufklärung von Verbrechen leisten. „Von den Toten lernen für die Lebenden“, lautet das Credo der Rechts- medizin. Voodoo-Mord, Zusammenleben mit einer Leiche, autoerotische Unfälle, Suizid an der Algarve, zerstückelte Tote, Morde im Gerichtssaal und im Gefängnis, Selbstverstümmelung sowie ein 1000-Jahre-Irrtum bei einer Leiche: In ihrem Krimi-Sachbuch „Tote lügen nicht“ schildern Rechtsmediziner Klaus Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher 15 spektakuläre Fälle. Hier lesen Sie Auszüge aus dem Kapitel über den „Todesfahrer von Eppendorf“.

Manchmal braucht es nur wenige Augenblicke, um Freude in Fassungslosigkeit zu verwandeln. Und Glück in maßloses Grauen. Diese Momente, wenn das Schicksal unerbittlich zuschlägt und Unschuldige ins Unglück reißt. Eben haben diese Menschen noch die satte Schönheit eines Frühlingstages genossen. Und nun, wenige Sekunden später, bleiben nur noch Entsetzen, Schauder, Horror – und der Tod, verbunden mit unendlicher Trauer.

Es ist ein warmer und sonniger Nachmittag, als unerwartet eine Katas­trophe über Eppendorf hereinbricht. Wie ein Geschoss rast plötzlich ein Auto auf ein anderes zu, kollidiert mit dem Wagen und wird nach dem Aufprall in die Höhe katapultiert. Es fliegt, sich um sich selbst drehend, durch die Luft und prallt auf den Bürgersteig. Vier Todesopfer und drei Schwerverletzte sind die erschütternde Bilanz, die diesen Unfall aus dem Jahr 2011 als einen der schwersten Verkehrsunglücke überhaupt in die Hamburger Geschichte eingehen lassen. Für den Fahrer des Unfallautos sei dieses Unglück „vorhersehbar und vermeidbar“ gewesen, heißt es später vonseiten des Landgerichts über den Mann, der den Wagen gelenkt hat – und der als „Todesfahrer“ traurige Berühmtheit erlangt.

Vorhersehbar und vermeidbar: Und trotzdem hat sich der Mann ans Steuer eines Wagens gesetzt? Jeder weiß, dass ein Auto mit seinem Tonnengewicht zu einer tödlichen Waffe werden kann, wenn man es nicht vollkommen beherrscht oder auch nur für einen Augenblick die Kontrolle verliert. Und in diesem Fall ist der Unfallverursacher nach Überzeugung des Gerichts Epileptiker – und das seit vielen Jahren. So hätte er nicht Auto fahren dürfen. Dreieinhalb Jahre Haft verhängt die Kammer über den Autofahrer. Zudem wird Bernd N. (Name geändert) die Fahrerlaubnis für fünf Jahre entzogen. Das Leid der Angehörigen der Opfer sei unermesslich, sagt die Vorsitzende Richterin, die dem Angeklagten vorwirft: „Sie haben Ihre Erkrankung seit 20 Jahren verdrängt und Ihre Ärzte nicht voll informiert.“ Er hätte erkennen müssen, dass jederzeit mit einem epileptischen Anfall zu rechnen war. „Sie haben das Unfallauto geführt, obwohl Sie fahruntauglich waren“, mahnt die Richterin.

„Der 39-Jährige ist eindeutig Epileptiker und war aufgrund seiner Krankheit fahruntauglich“, sagt Rechtsmediziner Prof. Dr. Klaus Püschel dazu. „Der Mann hat indes bis zum Ende seine Krankheit bestritten. Er hat sich selbst und seiner Umwelt etwas vorgemacht. Er hat getrickst, gelogen und betrogen, um seine Krankheit vor der Umwelt und den Behörden zu vertuschen. Für mich aber ist klar, dass er sich der Erkrankung bewusst gewesen und nicht verantwortungsvoll damit umgegangen ist – und zuletzt deshalb in eine Gruppe aus Fußgängern und Radfahrern hineinraste. Der Mann war eine tickende Zeitbombe“, betont der Direktor des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin am UKE. „Er hätte sich niemals hinters Steuer setzen dürfen. Es war eine Tragödie, die sich über längere Zeit entwickelt hat, ausgelöst durch einen Krampfanfall, wie der Mann dies vorher schon mehrfach erlitten und auch mehrere Unfälle verursacht hat. Doch bis zuletzt wollte er die Gefahr sich und den Angehörigen seiner Opfer wohl nicht eingestehen.“

Schon vorher hat der Mann drei Unfälle verursacht

Der Unfallfahrer ist Immobilienkaufmann und dienstlich häufiger mit dem Auto unterwegs. Schon seit Bernd N. etwa 20 Jahre alt ist, werden Menschen in seinem Umfeld wiederholt Zeugen von epileptischen Anfällen. Zudem verursacht der Mann auf beruflichen Fahrten drei schwere Verkehrsunfälle, ohne dass dies rechtliche Konsequenzen hat. Doch der Arbeitgeber von Bernd N. ist offensichtlich alarmiert. Er spricht ein dienstliches Fahrverbot aus. Nachdem eine Kollegin beobachtet hat, dass der Unfallfahrer trotz dieser klaren Anweisung zumindest einmal gefahren ist, wird das Fahrverbot nun auch schriftlich verhängt. Bernd N. muss es abzeichnen. „Es war schon eine perverse Situation: Im dienstlichen Bereich ist bekannt, dass der Mann medizinische Probleme hat. Aber im privaten Bereich fand das keine Berücksichtigung“, so Püschel. „Im Prozess wurden Personen aus seinem persönlichen Nahbereich befragt. Diese wussten teilweise angeblich nichts von einem Anfallsleiden oder hatten nur äußerst vage Vorstellungen ohne Befürchtungen für eine Teilnahme am Straßenverkehr. Ich bin davon überzeugt, dass alle drei Verkehrsunfälle, die der Mann früher verursacht hat, auf epileptische Anfälle zurückzuführen sind. Man hätte da schon eine entsprechende Diagnose stellen und angemessene Maßnahmen einleiten können. Er wurde immer wieder gewarnt, hat immer deutlichere Hinweise bekommen, wie gefährlich sein Handeln ist. Es ist damals so viel falsch gelaufen.“

Der Unfallverlauf wird später so rekonstruiert: Aufgrund eines epileptischen Krampfanfalls verliert der 39-Jährige die Kontrolle über sein Auto, er gibt unbewusst und unkontrolliert Gas und beschleunigt so auf ein Tempo, das ein Sachverständiger später mit 107 Kilometern pro Stunde berechnet. Vor einer Kreuzung, deren Ampel für ihn rot zeigt, überholt er einen HVV-Bus und rast nun in die Kreuzung hinein. Er kracht in ein anderes Fahrzeug, rast mit dem Wagen weiter in ein Hochbeet, der wird durch den Aufprall in die Luft katapultiert und prallt dann auf dem Bürgersteig auf.

„Wir haben zunächst die vier Unfalltoten obduziert. Dabei haben wir jeweils schwerste, mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen festgestellt, unter anderem Organverletzungen, insbesondere an Hirn, Herz und Lunge, und zahlreiche Frakturen“, erläutert Püschel. „Alle vier Opfer hatten keine Überlebenschance. Daneben gab es auch diverse Verletzte. Alle Verletzungen bei den Opfern, die nach dem Unfall verstorben sind, wurden durch massive stumpfe äußere Gewalteinwirkung verursacht. Es muss jeweils einen direkten Kontakt mit dem Auto gegeben haben.“

Die überlebenden Opfer werden ebenfalls massiv verletzt, der Unfall­fahrer selbst vergleichsweise weniger schwer. Bernd N. wird wegen einer Schädelprellung mit Gehirnerschütterung sowie einer Knochenverletzung am Bein ins Krankenhaus gebracht. Einige Tage nach dem Unfall wird dem Fahrer durch einen Amtsgerichtsbeschluss der Führerschein vorläufig entzogen. Später erklärt er den Verzicht auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis.

„Es gab auch eine chemisch-toxikologische Untersuchung an einer Blutprobe nach dem Verkehrsunfall“, so der Rechtsmediziner. „In seinem Blut wurde Cannabis nachgewiesen. Die Untersuchung führte außerdem zum Nachweis des Antiepileptikums Valproinsäure. Das Medikament war offensichtlich zu niedrig dosiert, da er ja weiterhin Anfälle hatte. Er räumte ein, vorsorglich Medikamente einzunehmen, negierte allerdings eine manifeste Epilepsie-Erkrankung beziehungsweise aktuelle Anfälle.“

Als schließlich der Prozess vor dem Landgericht beginnt, schweigt der Angeklagte zunächst. Etliche Zeugen werden vernommen. Einige der Menschen, die das Unglück mit angesehen haben, haben Tränen in den Augen, als sie über ihre Erinnerungen erzählen. Zum anderen werden auch Kollegen des Angeklagten gehört, die berichten, wie sie Bernd N.’s Krampfanfälle erlebt haben. Dabei sei der 39-Jährige plötzlich wie weggetreten gewesen. Ein Neurologe des UKE, Günther Thayssen, bekundet dazu als Sachverständiger im Prozess, für ihn bestehe „kein Zweifel an der Diagnose Epilepsie“. Er bezeichnet die Aussetzer, die die Kollegen geschildert haben, jeweils als epileptische Anfälle.

„Ich habe dem Prozess komplett beigewohnt zusammen mit dem Neurologen vom UKE“ erzählt Püschel. „Die Krampfanfälle, wie sie die Arbeitskollegen des Angeklagten geschildert hatten, wurden von Neurologe Thayssen als psychomotorische Anfälle charakterisiert, die vom Schläfenlappen des Großhirns ausgehen. Diese sind besonders schwer einzuschätzen, weil sie nicht typisch sind wie große Epilepsieanfälle, die sogenannten Grand Mal. Für die Teilnahme am Straßenverkehr sind sie allerdings mindestens ebenso problematisch, weil das Auto dann praktisch führerlos ist. Bei einem solchen Anfallsgeschehen kann der Fahrer sogar noch Lenkbewegungen durchführen, ohne dies bewusst zu registrieren. Im Prozessverlauf hat mich besonders betroffen gemacht, dass viele Personen über die Problematik des Angeklagten informiert waren, ohne dass sie ihn nachhaltig und gezielt darauf angesprochen haben. Ich habe mich auch wieder gewundert, wie wichtig für manche Führerschein und Pkw sind, sodass sie trotz Epilepsie weiter Auto fahren. In diesem Fall gab es ja sogar drei vorausgegangene Verkehrsunfälle, bei denen er einmal selber schwer verletzt wurde.“

Am achten Verhandlungstag, nachdem die meisten Zeugen gehört worden sind und die beiden Sachverständigen ihre Gutachten erstattet haben, bricht der Angeklagte schließlich sein Schweigen. Er findet immer wieder neue Erklärungen für seine Anfälle und widerspricht auch unter anderem seinen Arbeitskollegen, von denen er meint, sie hätten sich „schlichtweg geirrt“, wenn sie ungewöhnliche Handlungsweisen seinerzeit als Anfälle interpretierten. Bernd N. behauptet, er leide zwar an Epilepsie, sei aber kein Epileptiker. Vier Anfälle räumt er ein, aber weitere bestreitet er. Er gehe verantwortlich mit dieser Erkrankung um und nehme kontinuierlich ein entsprechendes Medikament, allerdings „nur vorbeugend“, wie er betont. Er meint, er habe nicht mit einem Anfall rechnen müssen und sei am Tattag zum ersten Mal „seit ewigen Zeiten“ wieder Auto gefahren.

„Jeder Tag und jede Stunde ist eine Last“, sagt der Fahrer

Der Unfall sei für ihn „aus heiterem Himmel“ gekommen. Der 39-Jährige räumt ein, den tödlichen Unfall verursacht zu haben. Erst nach dieser schweren Kollision habe er erkannt, dass er weitere Anfälle nicht sicher vermeiden könne. Er werde nie wieder Auto fahren. „Es tut mir unsagbar leid“, sagt er schließlich an die Angehörigen der Opfer gewandt. Eins ist dem Hamburger sehr wichtig: „Ich bin kein unverbesserlicher Totraser“, betont er. „Jeder Tag und jede Stunde ist eine Last.“

Püschel betont: „Meine Philosophie ist, dass jeder rätselhafte Verkehrsunfall unter medizinischen Aspekten überprüft werden muss, etwa auf Alkohol- und Drogenkonsum oder Herzkrankheiten und Stoffwechselstörungen – oder eben Epilepsie. Autofahrer, seid euch eurer Verantwortung bewusst! Menschen mit bestimmten Erkrankungen müssen sich regelmäßigen Untersuchungen unterziehen. Aus ärztlicher Sicht ganz allgemein muss ich feststellen, dass wir die unbedingte Pflicht haben, unsere Patienten umfassend aufzuklären, auch über die Teilnahme am motorisierten Verkehr. Mich macht es immer sehr wütend, wenn Personen mit schwerem Alkoholismus, Anfallsleiden oder Demenz von ihren Ärzten über die nicht mehr gegebene Fahreignung nicht nachhaltig aufgeklärt werden, sodass es zu katastrophalen Unfällen kommt. Eigentlich tragen diejenigen, die die Defizite der Täter kennen, eine Mitschuld. Und für die Unfallfahrer selbst entsteht die total be­drückende Situation, wenn sie sich ihre menschliche Schuld klarmachen. Andere Verkehrsteilnehmer, darunter auch Kinder, müssen ihr Leben lassen.“