Seit Olaf Scholz Hamburger Bürgermeister ist, verfolgt ihn die Frage, ob er nicht (noch) mehr Verantwortung auf Bundesebene übernehmen will. Die Antwort ist nah. Eine Analyse

Es ist diese eine Frage, die Olaf Scholz verfolgt, seit er Hamburgs Bürgermeister ist. Sie wird ihm in unterschiedlichen Facetten gestellt, aber der Kern ist immer derselbe: „Wann gehen Sie nach Berlin?“ Um die Unterstellung, dass ihm der Posten in der vergleichsweise beschaulichen Hansestadt auf Dauer nicht genüge, kommt Scholz in kaum einem Gespräch mit Journalisten herum. Selbst jetzt nicht, nach den für ihn unangenehmen G20-Verwerfungen, und in einem Wahlkampf, in dem statt Scholz Schulz Kanzlerkandidat ist.

Wann gehen Sie nach Berlin? Die Frage an sich ist auch deshalb interessant, weil der Senatschef in den vergangenen sieben Jahren einen Wechsel in die Bundespolitik öffentlich nie thematisiert hat. Im Gegenteil: Die Aussage steht, dass er 2020 erneut in Hamburg antreten wird. Er sei sehr gern Bürgermeister, sagt Scholz. Sogar, als es Ende vergangenen Jahres um die Frage ging, wer für die SPD in den Wahlkampf gegen Angela Merkel zieht, hielt er sich zurück. Ja, er schloss eine eigene Kandidatur nicht aus und freute sich, dass es offenbar mehrere Sozialdemokraten gebe, denen man dieses Amt zutraue. Aber sonst? „Ich bin sehr gern Bürgermeister in Hamburg.“

Und wann geht er nun trotzdem nach Berlin? Die Frage hat ihren Ursprung nicht in Scholz‘ grundsätzlichen Ambitionen – schließlich war er als Arbeitsminister ja schon einmal Mitglied einer Bundesregierung, Generalsekretär der Bundespartei war auch er. Die Frage stellt sich, weil Hamburgs Bürgermeister das Format für Aufgaben jenseits der Landespolitik mitbringt. Was weniger mit seinen Auftritten und rhetorischen Fähigkeiten zu tun hat. Scholz, das wissen auch seine engsten Freunde in der Partei, ist niemand, der sofort begeistert, Massen erst recht nicht. Aber, und das zeigt sich gerade im Bundestagswahlkampf deutlich: Vieles von dem, was andere Politiker plötzlich als dringende Aufgaben für die Zukunft entdecken, hat der Bürgermeister in seinem Stadtstaat längst umgesetzt oder angeschoben.

Scholz hat in Hamburg zwei Wahlen in Folge gewonnen

Wenn er in diesen Wochen bei Podiumsdiskussionen oder in Talkshows auftritt, fallen häufig Sätze wie „Wir in Hamburg haben das vor mehreren Jahren eingeführt“. Oder: „Bei uns in Hamburg gibt es das bereits.“ So groß Scholz‘ Rückstand bei rhetorischen Gesten ist, so groß ist sein Vorsprung bei der Umsetzung wichtiger Themen in reale Politik. Das gilt sowohl im Vergleich zu Konzepten anderer Parteien als auch zu jenen der SPD. Wenn etwa Martin Schulz gebührenfreie Kitas zu einem der zentralen Punkte erklärt, die er angehen würde, „wenn ich Kanzler wäre“, kann Scholz sagen: „Haben wir.“ Genau wie einen funktionierenden Ganztagsschulbetrieb. Und während im Wahlkampf über den Zustand von Schulgebäuden, insbesondere von Schultoiletten, gelästert und diskutiert wird, ist in Hamburg ein Sanierungsprogramm im Wert von zwei Milliarden Euro angelaufen.

Scholz hat zudem den Bau von Wohnungen wie kein anderer Politiker beschleunigt. Inzwischen entstehen in Hamburg mehr als 10.000 Stück im Jahr neu, jede dritte wird staatlich gefördert. Hamburg hat die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 so professionell gemanagt wie sonst vielleicht noch München, anders als in Berlin musste zum Beispiel nie eine Turnhalle als Unterbringung genutzt werden. „Während die einen reden, macht Scholz einfach“, sagt einer aus seinem Umfeld.

Würde er das, was er macht, populär verkaufen können, wäre Olaf Scholz längst der wichtigste Mann der SPD. Er kann es nicht, Vereinfachungen und Zuspitzungen sind ihm genauso wie Gefühle im Zusammenhang mit seiner Arbeit fremd. „Sie wissen, dass ich niemand bin, der in der Politik besonders emotional unterwegs ist“, hat er in seiner Regierungserklärung nach den G20-Krawallen in Hamburg dazu gesagt. Dass er das selbst so auf den Punkt bringt, ist typisch. Olaf Scholz ist kein Politik-Verführer, Olaf Scholz ist ein Politik-Erklärer. Ihm genügen nicht wenige Sätze, er braucht und will Zeit, um zu berichten, was er warum macht. Eine seiner Angewohnheiten in TV-Diskussionen ist es, nur etwas zu sagen, wenn er auch gefragt wird – aber dann ausführlich.

Wahrscheinlich ist niemand außer der Bundeskanzlerin so detailverliebt wie Scholz. Er kennt die Innen- und Außenpolitik nicht nur aus Pressespiegeln, sondern aus Akten, in die er sich selbst nach langen Bürgerschaftssitzungen noch vertieft. Sein Anspruch ist, auf jede Frage eine Antwort zu haben. Scholz zuzuhören, wenn man sich wie die meisten Wähler in politischen Fragen nur grob auskennt, ist dabei nicht immer einfach. Zu viele Fakten strengen an in einer Zeit wie dieser, selbst wenn sie richtig und wichtig sind. Und Kompetenz kann schnell als Besserwisserei oder Überheblichkeit interpretiert werden. Auch daraus nährt sich Scholz’ Image als sehr trockener Sachpolitiker.

Doch unter dem Strich bleibt: Er weiß nicht nur, wie es gehen könnte, er hat es in Hamburg auch bewiesen, zwei Wahlen klar gewonnen. Das erklärt die starke Position, die Scholz in der SPD hat. Und genau das erklärt auch die Frage mit Berlin, die ihm so oft gestellt wird, übrigens am stärksten vor den G20-Vorfällen. Nach dem Ende des Martin-Schulz-Hypes und der Abwahl von Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens, „der Herzkammer der Sozialdemokratie“, feierten Dutzende Zeitungen Scholz bereits als die neue Nummer eins der Sozialdemokratie. Gabriel weg (von der Parteispitze), Kraft weg, Schulz angeschlagen: Nur Scholz schien übrig, als Primus inter Pares der SPD-Ministerpräsidenten, als Bereiter des Länderfinanzausgleichs – und, nicht zu vergessen, als Vollender der Hamburger Elbphilharmonie. Ein tadelloser Streber, mit besten Noten und Umfragewerten. Der „Spiegel“ hatte vor G20 und der Entscheidung über den Kanzlerkandidaten geschrieben: „In Sachen SPD-Kanzlerkandidatur wird einer gerne vergessen: Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz. Ein Fehler.“ Nach G20 klangen viele Kommentare und Einschätzungen anders, vom „Beinahe-Kanzler“ war zu lesen. Häme entlud sich über dem Bürgermeister, der zugab, in den schwierigsten Tagen seiner Amtszeit auch an Rücktritt gedacht zu haben. Er blieb.

Und damit bleibt auch die Frage: „Wann gehen Sie nach Berlin?“ Eine Antwort gibt Scholz nicht mit Worten, sondern mit Taten. Der Hamburger Bürgermeister ist schon jetzt oft in der Hauptstadt, trifft sich mit dem Bundesfinanzminister, spricht mit der Bundeskanzlerin. Sitzt plötzlich dort, wo er sich lange Zeit nicht hingetraut hat: in Fernsehstudios, in politischen Talkshows, besonders gern bei Anne Will. Scholz ist trotz G20 der wichtigste von nicht wenigen stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD, und einer der engeren Berater von Martin Schulz. Die Pläne und Konzepte, die der Kandidat in den vergangenen Wochen nach und nach vorstellte, tragen gern und oft die Handschrift Scholz‘. Woraus der auch kein Geheimnis mehr macht. Bei einem Wahlkampfauftritt in Bayern sagte er: „Wir haben das beste und ehrlichste Steuerkonzept – es ist von mir.“

Das klingt nicht nach jemandem, der politisches Selbstbewusstsein eingebüßt hat. Nein, Scholz macht auch nach seiner größten politischen Niederlage weiter wie bisher, in diesen Wochen allerdings stark außerhalb Hamburgs. Nur Martin Schulz dürfte noch mehr für die SPD im Wahlkampf unterwegs sein. Scholz plant mit rund 60 Auftritten in verschiedenen Teilen der Republik, er redet in Festzelten genauso wie in Kirchen. Er verteidigt den Kandidaten seiner Partei, wo er nur kann, er gibt, anders als manche Genossen, Martin Schulz nicht auf. Zumindest bis zum 24. September kann sich der Parteivorsitzende der Solidarität des Vizes gewiss sein.

Und danach? Danach hat Schulz entweder ein Wunder geschafft und ein Ergebnis erreicht, das wenigstens klar besser ist als jenes seiner Vorgänger Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück. Dann wird Olaf Scholz brav gratulieren und dort weitermachen, wo er vor dem Wahlkampf aufgehört hat. Oder Schulz verliert glanzlos und die Genossen erleben eine neue schwarze Stunde. Dafür spricht eine aktuelle Umfrage, die die SPD nur noch bei 20 (!) Prozent sieht. Dann wird Scholz da sein, bereit. Er hat Angst davor, dass die Sozialdemokratie auch in Deutschland in der Bedeutungslosigkeit verschwinden könnte wie in anderen Ländern. Man kann sich stundenlang mit ihm darüber unterhalten, über die Entwicklung in Frankreich zum Beispiel oder in Großbritannien. Dabei kommt man zu zwei Erkenntnissen. Nummer eins: Es geht ihm wirklich in erster Linie um all das, wofür die SPD steht und das auch seine Überzeugung ist. Nummer zwei: Er traut sich zu, die Partei endlich aus der Krise zu führen.

Gabriel hat sich bei der Nachfolge ein U für ein O vormachen lassen

Und er traut der SPD viel, viel mehr zu. Lange bevor der damalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel sich für Martin Schulz als Kanzlerkandidat entschied, hatte Scholz prognostiziert: „Mit der richtigen Person an der Spitze können wir auf 30 Prozent der Stimmen kommen.“ Ob er damit sich meinte, ist nicht bekannt, richtig war seine Einschätzung trotzdem. In den Hoch-Zeiten der Euphorie um Martin Schulz lag die SPD in Umfragen sogar bei mehr als 30 Prozent. Für Scholz der Beweis, dass er recht hatte. Mehr noch: Er hat lange daran geglaubt, dass Angela Merkel in diesem Jahr, bei dieser Bundestagswahl zu schlagen gewesen wäre. Mit der richtigen Person, mit dem richtigen Programm.

Warum hat er es nicht selbst versucht? Oder hat er? Die Rolle von Olaf Scholz in der Kandidatenkür der SPD ist schwierig zu beurteilen. In der offiziellen Version war er neben Hannelore Kraft, damals noch Ministerpräsidentin und vermeintliche Garantin für einen weiteren Sieg in NRW, wichtigster Berater von Parteichef Sigmar Gabriel. „Es gibt zwei Personen, mit denen ich intensiv über die Frage geredet habe, wer Kanzlerkandidat werden soll: Hannelore Kraft und Olaf Scholz“, sagte Gabriel in einem Gespräch mit dem Abendblatt. „Niemand anders ist da so eingebunden gewesen wie die beiden. Ohne sie oder gegen sie hätte ich das niemals getan.“ Und: „Olaf Scholz ist einer der klügsten Leute in der deutschen Politik. Dass er zu denen gehört, die in der Bundespolitik eine Riesenbedeutung haben, ist doch unstrittig.“

Warum hat der heutige Außenminister sich dann ein U für ein O vormachen lassen, wie Anhänger des Hamburger Bürgermeisters gern spöttisch sagen? War Scholz tatsächlich in der engeren Wahl zum Kanzlerkandidaten, wie es zum Beispiel der „Spiegel“ schrieb? Was hat er selbst für Signale gegeben? Wir wissen: Rund um Gabriels am Ende einsame Entscheidung wirkten Scholz und sein Umfeld noch aktiver als sonst, wurde die Positionierung des Bürgermeisters jenseits der Hamburger Grenzen vorangetrieben, war sein Buch „Hoffnungsland“ auf der Zielgerade.

Er geht nach Berlin, wenn ihn die Partei darum bittet

Relativ früh kamen aus dem Rathaus auch Signale, dass Sigmar Gabriel auf keinen Fall Kanzlerkandidat der SPD werden würde. Aber wusste Scholz damals, dass die Wahl des Parteivorsitzenden auf Martin Schulz fallen würde? Oder war er bis zuletzt im Rennen? Hat Gabriel ihm seine Entscheidung an einem Sonnabendabend per SMS mitgeteilt, bevor er sich am darauffolgenden Sonntag mit „Stern“-Chefredakteur Christian Krug traf, um dem exklusiv von seinen Plänen zu erzählen? Und, viel wichtiger: Warum hat sich Gabriel am Ende für Schulz und nicht für Scholz entschieden? Weil er ihn wie sich selbst nicht für mehrheits- und hypefähig hielt? Oder weil Scholz nicht wollte?

Damit wären wir wieder bei dieser einen, dieser so interessanten Frage: Wann geht er nach Berlin? Hier ist die einzige Antwort, die der Wahrheit nahekommt: wenn die Partei ihn darum bittet. Es ist ein wenig so, wie in den Talkshows, in denen er auftritt. Wenn man Olaf Scholz dort keine Fragen stellen würde, würde er auch nichts sagen. Die Partei muss rufen, wie einst in Hamburg. Damals ging es der SPD in der Hansestadt noch schlechter als heute im Bund, Scholz war ihre letzte, große Hoffnung. Er kam, schaffte bei seiner ersten Wahl die absolute Mehrheit und hält sich bis heute bei weit über 40 Prozent. Ein Satz aus den Anfangsjahren als Bürgermeister ist präsent, der viel darüber aussagt, warum Scholz gebeten werden will – weil er dann nämlich so agieren kann, wie er es für richtig hält. Der Satz lautet: „Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch.“

Bestellt die SPD nach dem 24. September? Man könnte auch anders fragen: Was bleibt ihr übrig, wenn Martin Schulz wirklich krachend scheitern sollte? Ein Neustart mit einem Wahlverlierer ist unwahrscheinlich, eine Rückkehr Gabriels an die Parteispitze ausgeschlossen, Hannelore Kraft hatte schon als NRW-Ministerpräsidentin keine bundespolitischen Ambitionen. „Olaf würde dann eine zentrale Rolle spielen“, sagt jemand, der im Moment noch für die SPD in der Regierung von Angela Merkel sitzt. Die G20-Vorfälle hätten Scholz innerhalb der Partei nur wenig geschadet: „So viele erfolgreiche Politiker haben wir ja leider in der SPD auch nicht mehr.“

Es ist diese eine Frage, die Olaf Scholz verfolgt, seit er Hamburgs Bürgermeister ist: „Wann gehen Sie nach Berlin?“ Nach dem 24. September wird es eine Antwort geben, vielleicht eine endgültige. Wobei: Ganz nach Berlin gehen würde Scholz erst mal nicht. Denn Parteivorsitzender könnte er im Falle eines Falles auch als Hamburger Bürgermeister sein …