Was ist deutsch?,Teil 3. Eine etwas andere Tournee: Wolf und Pamela Biermann reisen mit dem Zentralquartett durch die Republik. Matthias Iken über musikalische Warnungen und ein wohlklingendes Plädoyer für Toleranz

Ein milder Sommerabend, im TV die wohl letzte Chance für Martin Schulz, noch ins Kanzleramt einzuziehen – und trotzdem ist das Thalia Theater am Sonntag schon eineinhalb Stunden vor Veranstaltungsbeginn sehr gut gefüllt. Aufgrund des großen Interesses haben die Organisatoren das Vorgespräch mit den Künstlern vom Mittelrangfoyer in den großen Saal verlegt. Demokratie fasziniert, zumindest wenn streitlustige Künstler auf Jugendliche treffen wollen. Wolf Biermann und Pamela Biermann sowie das Zentralquartett haben geladen, unter dem ambitionierten wie mutigen Motto „Demokratie feiern – Demokratisch wählen“.

Es ist ein politischer und künstlerischer Abend, wie gemacht für das Thalia Theater zum Auftakt der Spielzeit 2017/18. Im Foyer hängt ein großes Plakat: „Die Gedanken spinnt frei.“ Seit Jahren verfremdet das Thalia Sinnsprüche. Mal klingt es nach Dada, mal gaga, aber es regt zum Nachdenken an. „Verschwende Deine Zeit“, heißt es da etwa. „Man kann auch in die Höhe fallen“ oder „Freiheit, Großzügigkeit, Bleiberecht.“ Der alte Wahlspruch der Literatur „Prod­esse et Delectare“ (Nützen und Erfreuen) im zeitgemäßen Klang. Das Theater setzt das Kopfkino auch außerhalb des großen Saals in Gang.

Ohnehin haben wir Deutschen eine besonders innige Beziehung zu den Bühnen. Deutschland ist ein klassisches Theaterland, auch wenn im Theater die Klassiker oft verfremdet werden. Seit Jahren liegen die Besucherzahlen der öffentlichen Theater, also Staats- und Stadttheater sowie Landesbühnen, mit rund 21 Millionen Zuschauern stabil. In der vergangenen Spielzeit zählte der Deutsche Bühnenverein 67.257 Vorstellungen. Das Theater ist der deutschen Politik seit Jahrhunderten lieb und teuer. Was früher Mäzene und kulturliebende Fürsten finanzierten, übernimmt nun der Steuerzahler: Die öffentlichen Zuschüsse betragen 2,5 Milliarden Euro jährlich. Wie sagte einst Ulrich Khuon, Intendant im Thalia bis 2009: „Das deutsche Stadttheater, unser Theatersystem, ist ein Weltkulturerbe. Natürlich ist es dauernd in Bewegung und nicht so festzumachen wie Architektur, aber es ist ein Schatz.“

Ein Schatz, der stets aufs Neue aufschimmert und gehoben werden muss. Seit Ende August und bis zum Vorabend der Wahl tingelt das Projekt „Demokratie feiern - Demokratisch wählen“ durch das Land. Neun Orte vom Erfurter Theater bis zur Theaterhaus Stuttgart, vom Menschenrechtszentrum in Cottbus bis zur Kölner Philharmonie. Eine Konzertreihe für eine hohe Wahlbeteiligung und gegen Fremdenfeindlichkeit. Musik für das weltoffene und einige Europa. An diesem Sonntag stehen zunächst zwei überzeugte Musiker, Demokraten und ehemalige DDR-Bürger auf der Bühne: Günter Baby Sommer, der 74-jährige Dresdner zählt zu den ersten Free-Jazz-Musiker in Europa, und der 80-jährige Wolf Biermann, Liedermacher, Lyriker und Dissident aus Hamburg.

Mit einem Witz bricht Biermann gleich das Eis: „Ich sehe viele graue Haare - ist das die Jugend von heute?“ Tatsächlich haben sich viele Ältere in das Diskussionsforum gemischt, wollen teilhaben am Gespräch der Generationen. Im großen Saal sitzen einige junge Menschen, für die Demokratie eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint wie die Luft zum Atmen. Auf der Bühne hingegen stehen zwei, die ihre Diktaturerfahrung von Enge und Angst gemacht haben. „Wir hatten ein Intensivstudium in der Diktatur. Wenn man dort aufwächst, mag der Blick auf die Demokratie romantisch überhöht sein.“ Dass Wolf Biermann mit zwei Parteien wenig anfangen kann, schimmert immer wieder durch – die AfD und die Linke, die er konsequent nur die Erben der DDR-Diktatur, die „SED-PDS-Linke“ nennt. In einer Gedenksitzung des Bundestages 2014 hatte er zur Empörung der Partei die Linke als „den elenden Rest dessen“ bezeichnet, „was zum Glück überwunden ist.“

Bis heute ist die Linke sein Lieblingsgegner. Während zeitgleich der sozialdemokratische Kanzlerkandidat im TV-Duell ein rot-rot-grünes-Bündnis nicht ausschließen mag, wettert der linke Liedermacher gegen die Linkspartei. Biermann ist im realexistierenden Sozialismus vom Saulus zum Paulus geworden. Als Sechzehnjähriger siedelte der Kommunistenjunge aus Hammerbrook in die DDR über, studierte dort, wurde ein erfolgreicher Lyriker und Liedermacher – und fiel bald in Ungnade. 1976, Biermann war auf Konzertreise im Westen, bürgerte die SED den Musiker aus. Die Proteste dagegen waren ein Einschnitt, manche sehen darin den „Anfang vom Ende der DDR“.

„Ich hatte immer Angst in der DDR“, erzählt Biermann. „Entscheidend aber ist: Wer hat wen? Habe ich die Angst oder hat die Angst mich?“ Kommunismus und Faschismus zu verhindern, treibt ihn um. „Dieser große Tierversuch an Menschen darf nicht noch einmal wiederholt werden.“

Im Programm liest Biermann dann einen Text über die Wahlen in der DDR, der diese Pervertierung der Demokratie durch die Diktatur so schonungslos wie amüsant offenlegt. Eine Wahl ohne Wahl. Und die wenigen Gegenstimmen kamen im Zweifelsfall von Gesindel oder Feinden. „Ich bin wählerisch“, sagt Biermann nun. „In der DDR bin ich nie zur Wahl gegangen Im Westen hingegen immer und habe regelmäßig andere Parteien gewählt.“ Sein Rat an die Jugendlichen, aber eigentlich an alle Besucher: wählen gehen.

Mit jugendlicher Energie – dieser Mann soll 80 Jahre alt sein? – plaudert, parliert, plädiert Biermann für die freiheitlich demokratische Gesellschaft. Er spricht seine Zuhörer direkt an, beugt sich aus seinem Ledersessel vor und spricht pointiert. Er verweist auf den Brexit, der nur zustande kam, weil viele junge Leute dem Referendum fernblieben. „Genau die, die jetzt laut demons­trieren, sind die, die bei der Volksabstimmung den Hintern nicht hoch bekommen haben.“

Und es bleibt nicht bei der Diskussion – Pamela und Wolf Biermann und das Zentralquartett reisen danach durch Biermanns musikalisches Oeuvre. Günter Baby Sommer erzählt, wie er als Zwölfjähriger in der DDR über den „Feindsender zum ersten Mal Jazz gehört“ hat. „Das klang nicht so geordnet, wie ich es von den FDJ-Pionierliedern kannte, und hat mich in den Bann gezogen.“ Für die FDJ war der kleine Günter verloren, dafür hatte die Jazzwelt einen großen Schlagzeuger gewonnen. „Eine Jazzband ist eine demokratische Angelegenheit, da gibt es keinen Direktor. Demokratisch verhält sich auch das Ensemble, wenn es die einzelnen Solisten in jeweils passenden Momenten zu Wort, zum Solo kommen lässt“.

An einem ganz besonders Stück erleben die Zuhörer die Möglichkeiten des Jazz. Zu Beginn erklingt es hinreißend von Pamela und Wolf Biermann gesungen, am Ende dann als Stück gemeinsam mit dem Zentralquartett arrangiert: Die Kinderhymne, die bessere Nationalhymne. Bertolt Brecht dichtete sie 1950, durchaus als Gegenentwurf zur kurz zuvor verfassten Hymne der DDR. Auf Geheiß des SED-Politbüro hatte Johannes R. Becher im Oktober 1949 „Auferstanden aus Ruinen“ geschüttelt reimt, mit dem Satz der Hoffnung, „dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.“

Biermann erzählt, wie Brecht über diese „meteorologische Hymne“ spottete und seine Kinderhymne entgegensetzte, wie Bechers Stück später dann ebenfalls von Hanns Eisler vertont. Brecht komponierte sie zugleich als Gegenstück zur bundesdeutschen Nationalhymne, die für ihn durch den Nationalsozialismus korrumpiert war. Die Nazis hatten das „Lied der Deutschen“ in der ersten Strophe stets vor dem Horst-Wessels-Lied angestimmt. „Deutschland über alles“, in der Helgoländer Dichtung von Hoffmann von Fallersleben nie chauvinistisch gemeint, war gründlich diskreditiert. Auch die dritte Strophe war nicht unumstritten, wurde auf Betreiben des Bundeskanzlers Konrad Adenauer aber zur Hymne der Bundesrepublik. Bertold Brecht setzt sich schon in den Anspielungen auf Deutschlands Grenzen von Fallersleben ab und vermeidet Bechers Pathos - für heutige Ohren klingt sie erstaunlich frisch und aktuell.

Anmut sparet nicht noch Mühe

Leidenschaft nicht noch Verstand

Daß ein gutes Deutschland blühe

Wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen

Wie vor einer Räuberin

Sondern ihre Hände reichen

Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter

Andern Völkern wolln wir sein

Von der See bis zu den Alpen

Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern

Lieben und beschirmen wir’s

Und das Liebsten mag’s uns scheinen

So wie andern Völkern ihrs.

Der Politikwissenschaftler Iring Fetscher charakterisierte die Kinderhymne einst mit den Worten, „es gibt wohl keine Hymne, die die Liebe zum eigenen Land so schön, so rational, so kritisch begründet, und keine, die mit so versöhnlichen Zeilen endet.“

Die Versuche, sie zur Nationalhymne zu machen, scheiterten aber trotz mehrerer Anläufe, etwa von Stefan Heym. Bei der Kölner Großdemonstration gegen Rechtsextremismus am 9. November in Köln 1992 sang ein Schwulenchor vor 100.000 Menschen Brechts Ballade. Biermann macht unverdrossen Werbung für das Lied: „Ihr hört sie heute zweimal – damit Ihr schon einen Vorsprung habt.“

Die Kinderhymne klingt weiter, auch als Biermann nach dem 100-minütigen Konzert noch eifrig Bücher und Schallplatten signieren muss. Draußen vor der Tür des Thalia Theaters wummern die Bässe des Alstervergnügen, Volksfest-Fett wabert durch die Luft. Die Kinderhymne bleibt in Ohr und im Sinn. Ein echter Theaterabend. Prodesse et delectare. Nützen und erfreuen.